Eine gefährliche Lektüre

Mehrsprachigkeit Der tunesische Schriftsteller Hassouna Mosbahi schreibt über die enttäuschten Hoffnungen seiner Generation

Eigentlich müsste sie hier stehen, die Statue des Dichters mit der Rose in der Hand, ein Ehrenmal der Poesie, der Schönheit und des Feinsinns. Genau hier, genau im Zentrum der Stadt, hatte das Monument gestanden, nicht weit, so hatte der Heimkehrer es in Erinnerung, von den Gärten am Rande der Straßen. Die Statue hatte ihm früher viel gegeben, sie war das Sinnbild seiner eigenen, schwärmerisch – allzu schwärmerischen Begeisterung, all der endlosen Stunden, die er mit den Büchern verbracht hatte, deren Zauber ihn regelmäßig in Bann schlug. Damals hatte er die Literatur entdeckt, die der arabischen Welt zunächst, dann die der europäischen. Und all diese Empfindungen waren zusammengelaufen in der Dichterfigur im Zentrum der Stadt, Leitbild einer verfeinerten Kultur, in der so viele seiner Landsleute sich erkannten.

Doch nun ragt hier ein ganz anderes Standbild empor: Ein Mann hoch zu Ross, mit zornig-bösem Mienenspiel, gefügt aus solidestem Material, bewacht von einer Gruppe bewaffneter Soldaten. Kein Dichter ist das, sondern „das Oberhaupt, der Befreier und Retter unseres Landes, der Begründer unseres Stolzes, der einzige Führer, Künstler und wahre Mann in unserem Lande“, wie ein Passant erklärt. Die Statue eines Dichters aber? Nein, die stand hier nie. Und weil der Heimkehrer das nicht begreifen will, er die Auskunft sogar in Zweifel zieht, und damit dem Führer indirekt die Ehre verweigert, hält der patriotisch gestimmte, nun allerdings zornesbebende Passant nicht länger an sich und streckt ihn mit einem Faustschlag nieder, zielsicher platziert in die Mitte des Gesichts.

Kaum hat er sich von ihm erholt, wendet sich der Heimkehrer an einen Taxifahrer und erhält von ihm die entscheidende Auskunft: Die alte Stadt, jene, die der Fremde meint, befindet sich zehn Kilometer weiter westlich. Allerdings ist sie längst verlassen, niemand wohnt mehr dort. Dennoch lässt der Fremde sich hinfahren, doch nur, um ein weiteres Mal enttäuscht zu werden. „Wo er hinsah, nur Steine und Häuserruinen, auf denen Dornensträucher und Gräser wucherten. Irgendwann setzte er sich erschöpft auf einen Stein und versuchte zu begreifen, bis der Mantel der Nacht ihn umhüllte.“

Beklemmende Etüde

Wie ein Gang durch Kafkas Schloss oder durch Comala, die Geisterstadt des mexikanischen Erzählers Juan Rulfo mutet sie an, die letzte Szene dieser Kurzgeschichte des tunesischen Autors Hassouna Mosbahi. Auf der Suche nach Großmutters Haus heißt sie, eine beklemmende Etüde der unbewältigten Vergangenheit und verweigerten Zukunft. Da stolpert einer durch die Nacht und weiß kaum, was er vom kommenden Tag erwarten darf.

Am angemessensten wäre es wohl, gar nichts zu erwarten – die Verhältnisse sind einfach nicht danach. Und wie Kafka, der Dichter zwischen den Kriegen und wie Rulfo, der Chronist der mexikanischen Revolution, visiert auch Mosbahi, 1950 in Tunesien geboren, in seiner Erzählung eine konkrete historische Epoche an: nämlich die letzten zwei Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts, als der revolutionäre Schwung, den das Land nach seiner Unabhängigkeit 1956 durchlief, allmählich ermüdete und schließlich erkaltete. An Stelle der Freiheit trat die Herrschaft einer autoritären Regierung, mit einem alten, allzu alten Revolutionär, Habib Bourguiba, an der Spitze.

Nicht ausgeschlossen, dass sich dieser Erkaltungs- und Alterungsprozess am schärfs­ten aus der Distanz wahrnehmen lässt. Einer Distanz allerdings, die ihrerseits bereits Ausdruck des Ungenügens am eigenen Land ist. Als junger Mann verließ Mosbahi, einem vagen, aber intensiven Fernweh folgend, sein Heimatland. Intellektuell hatte er es schon viel früher verlassen: Immer wieder evoziert er in seinen Romanen und Erzählungen die Lektüre der frühen Jahre, die europäischen, vor allem französischen Schriftsteller, die er als Heranwachsender las.

Es ist eine ausgesprochen gefährliche Lektüre, die er da unternimmt, denn sie lässt ihn auf Abstand zu den üblichen Büchern gehen, den frommen Erbauungstexten, die junge Muslime einführen in die Wunder und Herrlichkeiten des Islams – Bücher, die im Licht europäischer Werke mit einem Mal sehr merkwürdig erscheinen: „Die alten Bücher und Manuskripte waren nur noch Berge von Lügen und Illusionen. Die Moscheen, die Marabuts und die vielen Monumente … zogen mich nicht mehr an.“

Hier tut er sich auf, der Bruch, der sich durch das Leben so vieler gebildeter Muslime geht. Ein Bruch, der sie der Heimat auf immer entfremdet, sie zu Heimatlosen, ja, sogar, wenn man Mosbahis Werke liest, Getriebenen macht. Sie leben zwischen Kontinenten und Kulturen, in beiden etwas, in keiner aber ganz zu Hause. Der Preis für dieses Leben in between ist hoch. Allerdings sind auch die Erträge gewaltig.

Viele Araber – und nicht nur, wenn auch in besonderem Maß, die Intellektuellen – haben den meisten Bürgern des Westens eines voraus, nämlich die Kenntnis gleich zweier Kulturen, wozu man auch eine stupende Mehrsprachigkeit rechnen kann. Immer wieder bezieht sich Mosbahi auf europäische Autoren, schildert er die verzauberten Stunden, die er gerade in jungen Jahren mit der Lektüre ihrer Bücher verbrachte. Ganz nebenbei und ohne es ausdrücklich zu wollen, wirft er so die Frage nach dem westlichen Selbstverständnis auf: Wie kommt es eigentlich, dass Europa zumindest mit latenter Verachtung auf die arabische Welt blickt?

An den Bildungsverhältnissen kann es jedenfalls nicht liegen. Während viele Araber die europäische Kulturgeschichte sehr gründlich kennen, fällt es den meisten Europäern schwer, auch nur eine Handvoll arabischer Autoren zu nennen. Und was die Sprachkenntnisse angeht, ist der Vorsprung vor allem der Maghrebiner geradezu uneinholbar. Während sie von ihrer Muttersprache fließend etwa ins Französische fallen – Mosbahi veröffentlicht in beiden Sprachen –, kennen die Menschen am Nordufer des Mittelmeers meist kein einziges arabisches Wort.

Allerdings nutzen den meisten Maghrebinern ihre Kenntnisse wenig. Bildung und Kreativität stehen nicht sonderlich hoch im Kurs, lassen sich nicht einbringen in eine Gesellschaft, die sich politisch kaum vom Fleck rührt, oder besser: nicht rühren darf. Der Erinnerungen an die Kindheit, denen sich Mosbahi so oft überlässt, verdanken sich wesentlich dem Umstand, dass diese Kindheit in die Zeit kurz vor der Unabhängigkeit fiel, die Zeit großer, ja allergrößter Erwartungen. „Unser Dorf wird nie mehr Dürrezeiten erleben“, versichert ein älterer Dorfbewohner in Erwartung der Unabhängigkeit dem Knaben. „Weißt du, die Leute werden zufrieden sein“, fügt er dann noch hinzu. Doch der Mann irrt: Die Menschen werden nicht zufrieden sein, und das werden sie kundtun.

In seine Roman Rückkehr nach Tarschisch und Adieu Rosalie kreist Mosbahi um jene Zeit des Aufruhrs, die späten sechziger, frühen siebziger Jahre, die die unerfüllten Hoffnungen nun voller Vehemenz einfordern und sie zudem mit den großen politischen Anliegen ihrer Zeit kurzschließen.

Erlahmter Schwung

„An allen Wänden prangen Losungen“, schreibt Mosbahi in Rückkehr nach Tarschisch. „Sie fordern Demokratie und allgemeine Freiheiten, verurteilen den Vietnamkrieg, rühmen die palästinensische Revolution und verlangen die Fortsetzung des Streiks, der vor einer Woche begonnen hat.“ Es sind äußert bunte Gruppierungen, die sich da zu Wort melden: „In diesem Land gibt es zahllose Lehren und Gruppierungen. Wir kennen Trotzkisten, Maoisten, Stalinisten, Guevaristen, revisionistische Marxisten, Albaner und Anhänger der Studentenbewegung von Achtundsechzig.“

Doch auch der Schwung dieser Generation erlahmt. Irgendwann – recht bald – mögen die Revolutionäre den eigenen Parolen nicht mehr trauen. Unter den Knüppeln des Staatsschutzes geht die Aufbruchsstimmung zu Boden, statt ihrer verbreitet sich eine neue Frömmigkeit – propagiert oft von denselben Bannerträgern, die eben noch die Sache des Sozialismus propagierten. „Welcher Fluch traf unsere Generation?“, sinniert ein Protagonist des Romans, der kaum fassen kann, wie schnell die Ideologen die Ideologie wechseln: „Salah al-Ahdab, der das Kommunistische Manifest zum Koran des modernen Zeitalters erklärte, hebt das Kinn nicht mehr von seiner Brust und keucht wie ein Erstickender. Jedem, der ihn zur Rede stellt, entgegnet er: ,Wir haben uns eben geirrt. Wir hätten uns nicht über die Traditionen unserer Gesellschaften hinwegsetzen dürfen. Man muss doch zugeben, dass unsere Religion viel großartigere humanistische Werte einschließt, mit deren Hilfe wir neue, fortgeschrittene Gesellschaften errichten können.‘“

So scheint sie bald sehr weit weg, die Aufbruchsstimmung der sechziger und frühen siebziger Jahre. Auch die Bannerträger selbst haben sich verändert: Einen der alten Kämpfer hat brutale Folter in den Wahnsinn kippen lassen; ein ehemals glühender Anhänger Trotzkis hat sich eines Anderen besonnen und eine Karriere als erfolgreicher Banker eingeschlagen. Und ein weiterer Hohepriester der Revolution, der einst die politische mit der ästhetischen Moderne verband und die reimlose Lyrik als höchste Form poetischer dichterischer Vollendung pries, empfiehlt nun die frühislamische Dichtung und erklärt die zeitgenössischen Lyriker samt und sonders zu „Agenten des Westens und des Weltzionismus, Verrätern an ihrer Nation, ihrer Sprache und ihrem Erbe“.

Wer Hassouna Mosbahi liest, versteht, warum er so oft einen melancholischen Ton anschlägt. Dieser Ton kündet vom Verlust der Zukunft, einer Zeit, die hätte sein können, aber nie wurde. Wer sich fragt, warum die arabische Welt ihr Heil oft eher in der Religion statt in der Politik sieht, der findet hier eine nachdenklich stimmende Antwort.

Adieu Rosalie Hassouna Mosbahi Roman. Aus dem Französischen und Arabischen von Erdmute Heller. A 1, München 2004, 205 S., 18,80 Rückkehr nach Tarschisch Roman. Aus dem Arabischen von Regina Karachouli. A 1, München 2000, 172 S., 16,40 Ölbaum der Kamele, Beduinengeschichten Aus dem Französischen und dem Arabischen von Erdmute Heller und Mohamed Zrouki. A 1, München 2001, 201 S., 19,00 Der grüne Esel, Tunesische Erzählungen Aus dem Arabischen von Regina Karachouli. A 1, München 1996, 180 S., 15,30

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