Gespiegelte Invasionen

Arabische Kunst Die Theorie der Bilder kam einst mit den Europäern in den Orient. Bis heute hallt der Einfluss nach. Gibt es eine originär arabische Kunst?

Da recken sie ihre Arme, strecken ihre Finger, so weit es nur geht – und bleiben am Ende doch voneinander getrennt. Zwei, drei Meter liegen zwischen den zwei Menschen: eine überschaubare Strecke und doch viel zu weit, um überbrückt zu werden. Was waren das für Zeiten, als man sich näher kam, einander aus unterschiedlichsten Welten die Hand reichen konnte. Michelangelo muss ein zuversichtlicher Künstler gewesen sein, als er Die Erschaffung Adams an die Decke der Sixtinischen Kapelle malte. Lässig wartet dort der erste Mensch darauf, dass Gott ihm die Hand reiche. Und tatsächlich kommen sich der Schöpfer und sein Geschöpf hier sehr nahe, zumindest an den Fingerspitzen berühren sie einander.

In Palästina reicht sich niemand mehr die Hand, im Gegenteil, die Bewohner der Welten sind nach Kräften bemüht, einander aus dem Weg zu gehen. Und als reiche das nicht, haben die einen eine hohe Mauer zwischen sich und den anderen errichtet. Und auf der Seite der anderen hat der palästinensische Künstler Sliman Mansour einen fast originalgetreuen Ausschnitt von Michelangelos Fresko auf die Mauer gebracht, jene magische Szene der einander entgegengestreckten Arme – mit dem Unterschied nur, dass zwischen den Händen mehrere Meter Stahlbeton liegen.

Kommentar der politischen Landschaft

Mansours auseinandergedriftete Michel­angelo-Kopie ist nicht nur ein Kommentar der politischen Landschaft Palästinas. Er zeigt, welchen souverän-ironischen Umgang arabische Künstler mit den Vorgaben der europäischen Tradition pflegen. Der argentinische Autor Jorge Luis Borges hätte an Mansour seine Freude gehabt. Denn der 1947 in dem Örtchen Bir Zeit nahe Ramallah geborene Künstler ist im Geiste ein Bruder des Pierre Menard – eben jenes Autors, den Borges in seiner Kurzgeschichte Pierre Menard, Autor des Don Quijote das berühmte Werk des spanischen Renaissancedichters Wort für Wort neu dichten lässt – was dem Werk einen völlig neuen Sinn gibt, die Summe aller Bedeutungen und Bezüge hineinträgt, die das 20. Jahrhundert mit der Figur des Ritters von der traurigen Gestalt verbindet. So verhält es sich mit der Vorlage aus dem Goldenen Zeitalter Spaniens wie mit der des italienischen Malerfürsten: In der neuen Umgebung sind sie nur scheinbar dieselben geblieben – tatsächlich haben sie sich völlig verändert, sich semantisch neu aufgeladen.

Das ist keine geringe Leistung angesichts der Wucht, mit der die europäische Kunst in die arabische Welt einbrach. In eine Welt, in der Bilder zuvor ein eher verschämtes Dasein geführt hatten. Das Bilderverbot tat seine Wirkung, zumindest im öffentlichen Raum. „Wein, das Losspiel, Opfersteine und Lospfeile sind ein Gräuel und des Satans Werk“, heißt es im Koran, und so ungefähr der Begriff „Opfersteine“ für eine Theorie des Bildes auch ist, zusammen mit Passagen aus den Hadithen, den Sentenzen Mohammeds, reichte das, Abbildungen von frommen Orten fernzuhalten. In Palästen und Privathäusern erfreute man sich an Gemälden – doch blieben es zu wenige, als dass sich eine künstlerische Tradition hätte bilden können. Entsprechend überwältigt waren die arabischen Künstler – allen voran die Kalligrafen –, als im 19. Jahrhundert im Zuge des Kolonialismus auch die Kunst Einzug in den Orient hielt. So perfekt seien die Bilder und Porträts, dass man zu glauben versucht sei, die abgebildeten Figuren könnten sich aus dem Rahmen lösen und mit ihrem Betrachter ein Gespräch beginnen, notierte ein arabischer Beobachter, als er im Umfeld von Napoleons Ägyptenfeldzug erstmals europäische Gemälde sah.

Religiös aufgeladen

Hier der Zauber der Kunst – und dort der Zauber der Fremde: Die europäischen Maler und Literaten zeigten sich ihrerseits fasziniert von den exotischen Gegenden, die sie bereisten. Sie sahen eine Landschaft, die religiös kaum aufgeladener sein konnte. Der Dichter Alphonse de Lamartine sprach anlässlich seiner Libanonreise etwa von dem „Wunsch, jene Berge zu besuchen, auf die Gott einst hinabstieg“. Und die Zedern des Landes beschrieb er als „göttliche Wesen in der Gestalt von Bäumen.“ Die Maler nahmen Motive der christlichen, dann aber auch der islamischen Mythologie auf. Auf ihren Leinwänden entstanden anmutige Landschaften, idealisierte Räume voller Nomaden, Palmenhaine, Minarette: Bilder, die ihrerseits nicht ohne Wirkung auf die arabischen Künstler blieben. Ohne auf eine nennenswerte eigene Tradition zurückgreifen zu können, malten sie fortan im Stil der Europäer – und produzierten so jenen Orientalismus, der oft immer noch mitschwingt, wenn man den Orient auf die Leinwand zu bringen versucht. Gleichwohl, der neue Stil verhieß Zeitgenossenschaft, signalisierte, dass die arabischen Mittelmeerländer den Anschluss an die Moderne gefunden hatten. „Hier fand man eine Region Afrikas, die sich europäisiert“, umriss der ägyptische Historiker Anouar Louca den Aufbruch im 19. Jahrhundert. „Der Traum, den Napoleon einst gehegt und dann verloren hatte, wird gelebte Wirklichkeit. Von nun an umarmen sich Orient und Okzident an den Ufern des Nils.“

Was heißt „eigenständig“?

Aber umarmten sich die Kulturen wirklich? Eher zeigte die eine der anderen, wo es langging. 1908 öffnete die Schule der Schönen Künste in Kairo, die erste ihrer Art in der arabischen Welt. Was Lehrplan und ästhetische Ausrichtung anging, hielt man sich an die europäischen Vorgaben. Die Professoren kamen zunächst alle von nördlich des Mittelmeers. Also malten die arabischen Schüler, wie ihre Meister sie zu sehen lehrten: aus einer europäischen, orientalisierenden Perspektive.

Nur mit erheblicher Verspätung fand die arabische Kunst Anschluss an die kulturelle Moderne. Zur Abstraktion kam sie erst gegen Mitte des 20. Jahrhunderts, also knapp 40 Jahre später als in Europa, und es bedurfte noch einmal eines Riesenschritts, um eigenständige Stile zu entwickeln. Aber was heißt „eigenständig“? Anders gefragt: Gibt es originär arabische Themen, die auf eine spezifische, der Region verhaftete Weise umgesetzt werden? Es macht den Reiz und zugleich die Schwierigkeit dieser Kunst aus, dass sich diese Frage nicht abschließend beantworten lässt. Man kann sich am klassischen Erbe versuchen – der Kalligrafie etwa, die bis heute viele Künstler inspiriert, mit oder ohne religiösen Bezug. Ästhetische Erfahrungen lassen sich auch jenseits des Glaubens machen, zumal die arabische Schrift ja auch ein Medium ist und als solches offen für andere Kulturen. Das zeigt Abdellah Benanteur in Illustrationen zu Gedichten von Dylan Thomas: Westliche Moderne und eine bis zur Abstraktion aufgelöste arabische Tradition verschränken sich und gehen ineinander über, bilden ein optisches Paar, deuten „Vision and Prayer“ – so der Titel eines von Benanteur illustrierten Gedichts – aus der Tiefe zweier Kulturkreise heraus. So zeugt eine alte Kunst von einer bewegten Welt, einer Region, die durch die Geschichte pflügt, unterschiedlichste Einflüsse aufnimmt, politisch wie auch musikalisch: Künstler wie Mohammed Omar Khalil und Chant Avedissian widmen sich den aufgewühlten sechziger Jahren Ägyptens, der Zeit General Nassers und der Sängerin Umm Kalthoum. Beide standen auf je eigene Weise für die ägyptische Moderne. Khalil malt seine Collage auf einen als Luftpost markierten Briefumschlag, den eine Rose ziert, über die sich, wie über die als Embleme gestalteten Porträts der Sängerin und des Politikers, Farbflächen und geritzt wirkende Linien ziehen – eine Hommage an zwei Personen des öffentlichen Lebens, die einer Gesellschaft den Sound der Zeit lieferten, nun aber untergegangen, verstummt sind. Was bleibt, sind Erinnerungsströme, elegische Evokationen an die Großen der vergangenen Epoche, die Chant Avedissian in einem seiner Werke folgerichtig als „Ikonen vom Nil“ bezeichnet.

Alles andere als romantisch

Beide Künstler evozieren die Vergangenheit, distanzieren sich zugleich aber von ihr. Die emblematischen Figuren bleiben, was sie sind: Prominente einer anderen Zeit, aber auch der ägyptische Beitrag zu den internationalen Insignien, die wie Che Guevara, Frida Kahlo, Muhammad Ali den globalen Bilderschatz bereichern. Womit sich von neuem die Frage stellt, wie arabisch die Kunst der arabischen Länder denn ist oder: Wie Künstler aus dieser Region angemessen mit den Images und Topoi umgehen, die sich der Rest der Welt von ihr gemacht hat. Der Orient ist oft alles andere als romantisch, wie so viele Künstler in ihren Werken zeigen, die sich mit den Kriegen befassen. So etwa, wenn Joana Hadjithomas und Khalil Joreige den nostalgisch anmutenden Stadtansichten Beiruts die Wunden des Krieges einschreiben, die Fotografien platzen, zerfasern und ihre Farben zerlaufen lassen. Oder wenn der Iraker Suad Al Attar in seiner Aquarell-Arbeit die ungeheure Gewalt der US-amerikanischen Invasion in den Irak im von Schrecken und Trauer verzerrten Antlitz einer schreienden Frau spiegelt. Bilder wie diese umreißen die kollektiven Erfahrungen, die ­zugleich das Leben jedes einzelnen beschreiben. Mag sein, dass hier, in der Schnittmenge persönlichen und öffentlichen Erlebens, der Ort entsteht, an dem Künstler aus der arabischen Welt sich am angemessensten behaupten: Sie beziehen sich auf historisches und politisches Allgemeingut, übersetzen es dann aber in eine ganz eigene Sprache, in Varianten eines international style, nach dessen Vorgaben sich zeitgenössische Künstler rund um den Erdball artikulieren – und artikulieren müssen, wollen sie sich auf dem internationalen Markt behaupten. Von dem wird zwar oft gesagt, er suche stets das Neue. Aber dass er das Vertraute darum schmähe, ließe sich schwerlich behaupten. So haben auch die Künstler der arabischen Welt eine Sprache erlernt, in der sie überall verstanden werden. Der Exotismus alter Zeiten ist dahin. Was folgt, sind Identitätssuche und Abgrenzungsversuche auf einem Terrain, dessen Grenzen bis heute eine globale – und das heißt immer noch westlich dominierte – Ästhetik bestimmt.

Kersten Knipp ist Romanist und schrieb im Freitag zuletzt über arrivierte Milieus in Gaza

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