Intifada gegen den Speckbürger

Gaza/Westbank In den palästinensischen Autonomiegebieten wächst der ­Unmut über ein arriviertes Milieu, das sich mit der israelischen Besatzung ganz gut arrangiert

Weithin sichtbar steht die Betonschanze in der Straßenmitte, ein sehr schmales, nach hinten offenes Rechteck, das Raum für einen Posten bietet. Das Maschinengewehr im Anschlag, beobachtet er heranrollende Fahrzeuge. Die ziehen im Schritttempo vorbei, folgen den Anweisungen der Soldaten ringsherum, die alles zügig durchwinken. „Welcome to Israel“, ruft einer ins offene Fenster auf der Fahrerseite, und schon ist der Checkpoint passiert.

„Welcome to Israel“, das offenbart Sinn für schräge Scherze. Nein, nicht für schräge, sondern für schlechte Scherze, meint Said. Er findet es alles andere als amüsant, dass ein israelischer Soldat an der Zufahrtsstraße nach Ramallah die dahinter liegenden Autonomiegebiete zu Israel zählt. Arrogante Spielchen seien das, die Palästinenser jeden Tag über sich ergehen lassen müssten. Auch deshalb seien viele zuletzt auf die Straße gegangen. Sie hätten die Besatzung satt, und sie hätten ihre politischen Vertreter satt. Anstatt mit den Israelis hart zu verhandeln, lägen Fatah und Hamas seit Jahren im Clinch. „Die einen kontrollieren das Westjordanland, die anderen den Gazastreifen, alles Weitere interessiert sie offenbar nicht. Eine korrupte Klasse regiert unser Volk und lähmt alles.“

Wie Said äußern sich viele junge Palästinenser und belassen es seit Wochen nicht beim Reden, sondern demonstrieren: gegen die Besatzung und für die Einheit von Fatah und Hamas, von Westbank und Gaza-Streifen. Auch Said, Student der Umwelttechnik an der Bir-Zeit-Universität, hat sich am 15. März in einen Protestzug eingereiht, der zeitgleich in Ramallah und Gaza-Stadt begann und ein Wendepunkt sein sollte. Zwar kam längst nicht so viel Anhang wie erhofft, aber es verändere sich etwas, meint Said. Seitdem die Tunesier und Ägypter ihre Obristen vertrieben hätten, seien auch für Palästinenser die Zeiten von Depression und Mutlosigkeit vorbei.

Boomtown Ramallah

Wie groß der Ärger über Hamas und Fatah derzeit ist, dokumentiert ein Manifest, das die Bewegung Free Gaza Youth im Netz deponiert hat. Damit es auch gelesen wird, entscheiden sich die Autoren schon in der ersten Passage für einen drastischen Sound: „Fick dich, Hamas! Fick dich, Israel! Fick dich, Fatah! Fick dich, UN! Fick dich, USA! Wir, die Jugend aus Gaza, haben die Besatzung, die Verletzung von Menschenrechten und die internationale Gleichgültigkeit satt!“

Saids kleines Appartement in Ramallah ist spartanisch möbliert. Ein einziges Bild ziert die Wände, das Konterfei Che Guevaras. An diesem Revolutionär könne man vieles aussetzen, meint Said. Aber dass er es nicht ernst gemeint habe mit seinem Programm – dieser Vorwurf sei vollkommen abwegig. Und so verbringt Said unter dem Porträt viele Stunden über dem Laptop, entwirft Texte, trifft Verabredungen. „Rund 250 Gruppen tragen den Protest inzwischen. Und alle sagen, so wie bisher kann es nicht weitergehen – die Palästinenser müssen wieder politisch werden.“

Was damit gemeint ist, erklärt er bei einem Gang durch die Stadt. „Ramallah hat einen ungeheuren Aufschwung erlebt. Was hier passiert, ist einzigartig in Palästina.“ Tatsächlich scheint ein Goldenes Zeitalter angebrochen. Im Zentrum hat eine Hotelkette jüngst eine Filiale eröffnet. Livrierte Kellner empfangen die Besucher, in der mit Marmor ausgelegten Lounge plätschert ein Brunnen, bei der Fahrt mit dem Aufzug sind Liftboys behilflich. Wer auf die Terrasse tritt, hat den Blick auf ein hügeliges Umland und ein attraktives Villenviertel. Eine aufstrebende Mittelschicht richtet sich in ungewohntem Komfort ein und nach dem Eindruck ihrer Kritiker damit auch in der Besatzung.

Konzentration auf Prosperität lähme die Politik, meint der Publizist Ali Abunimah, Mitbegründer des Magazins The Electronic Intifada. „Die Autonomiebehörde von Ramallah funktioniert heute als verlängerter Arm der israelischen Besatzung.“ Diesem Umstand verdanke die Hamas ihren Wahlerfolg vom Januar 2006. Allerdings habe die kein kohärentes Programm anzubieten und sei im Gegensatz zur Fatah für kein Arrangement mit Israel zu gewinnen. Genau das, so Ali Abunimah, mache es beiden so schwer, sich zu versöhnen.

Diese gegenseitigen Blockaden zu durchbrechen, ist erstes Ziel der neuen Protestbewegung. Kaum zufällig wurde das Manifest der palästinensischen Jugend im Gazastreifen und nicht in der Westbank verfasst. Das Schlüsselerlebnis für die Autoren war die Operation Gegossenes Blei, wie sich die israelische Invasion zum Jahreswechsel 2008/09 nannte. „Gegossenes Blei, das war kein Krieg,“ – schreibt Free Gaza Youth in seinem Manifest – „sondern ein Massaker, ein Gemetzel, alles andere als ein Krieg.“ Aus diesem Inferno wenig gelernt zu haben, werfen die Verfasser den palästinensischen Kontrahenten vor: „Ja, wir prangern unsere Politiker an, weil sie der Hass aufeinander sogar während einer Zeremonie zur Erinnerung an das Gaza-Massaker auseinandertrieb.“

Lächerliche Klischees

Said ist sich sicher: Die Palästinenser sind aufgewacht, weil auch das westliche Bild von Arabien unhaltbar wurde. „Man beginnt zu begreifen, dass in der arabischen Welt keineswegs nur Extremisten leben, Menschen, die nichts anderes als Religion im Kopf haben. Jetzt begreifen Europäer und Amerikaner, dass auch wir nichts anderes wollen als unsere legitimen Rechte.“

Inzwischen verhandeln Abordnungen von Fatah und Hamas, es fällt das Wort von der „nationalen Einheit“. Wenn die Umbrüche in der arabischen Welt eines gezeigt hätten, so der Arzt und Bürgerrechtler Mustafa Barghouti, dann, „dass Menschen Geschichte schreiben können, indem sie ihr Schicksal neu begreifen.“ Einfach wird ein Agreement vermutlich nicht: Fatah und Hamas sitzen auf beträchtlichen Pfründen, Tausende Palästinenser stehen in ihren Diensten und leben von Geldern, die beide Parteien verwalten. Gegen konzentrierten Materialismus kommt der überschwänglichste Idealismus nicht an.

Kersten Knipp schreibt sonst über Kontraste und Konflikte zwischen den Weltkulturen

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