Muslime und Indigene

Identitätspolitik Forcierter Wille zur­ Abgrenzung gegen den Westen: Orient und Südamerika sind sich in ihrer kulturellen Identitätssuche verblüffend ähnlich

Alles war ausländisch auf diesem Boden“, notierte der Beobachter. „Religion, Gesetze, Sitten, Nahrungsmittel, Kleidung kamen aus Europa. Wie passive Wesen beschränkte sich unser Schicksal darauf, gehorsam das Joch zu ertragen, das uns unsere Herren mit Gewalt und Strenge auferlegt hatten. (...) Schau nach Europa, wie es erfindet, und nach Amerika, wie es imitiert.“ Um sich von den Kolonisten auch intellektuell emanzipieren, bräuchte es nicht nur eine politische Revolution, sondern vor allem eine kulturelle. In dem Unbehagen, das der lateinamerikanische Unabhängigkeitskämpfer Simón Bolívar hier zu Beginn des 19. Jahrhunderts äußert, artikuliert sich eine Empfindung, die in den politischen Programmen im Süden der Welt regelmäßig auftaucht: politisch und kulturell machtlos zu sein, abhängig von den Importen und Anstößen aus Europa und den USA.

Immer betrachteten die westlichen Kolonisten die eroberten Gebiete auch als kulturelle Verfügungsmasse. 1798 marschierte Napoleon in Ägypten ein. Dort, notierte er, „fühlte ich mich durch keinerlei Fesseln einer lästigen Zivilisation gehemmt. Ich träumte alle nur erdenklichen Dinge und sah auch die Mittel, diese Träume zu verwirklichen. Die Zeit dort war mit die schönste meines Lebens.“ Zwar zog Napoleon rascher ab als gedacht. Doch sein Auftritt hinterließ Folgen, die seinem Zeitgenossen Bolívar bekannt vorgekommen wären: „Die Inneneinrichtung der ägyptischen Aristokratie wird zu einem Stilmix zweier Kulturen“, beschreibt ein Historiker die kulturellen Realitäten um 1850.

Literarischer Indigenismus

Der Orient und Lateinamerika: zwei Keimzellen des kulturellen Widerstands gegen die Eroberer. Mit einem Unterschied. Während die Südamerikaner die europäische Eroberung gerade abgeschüttelt hatten, gingen die Araber ihr entgegen. Doch an der Besinnung auf das Eigene änderte das nichts. Dieses Eigene hofften die Intellektuellen beider Regionen in religiösen und ethnischen Beständen zu finden: Arabische Intellektuelle klopften den Islam auf seine zukunftsweisenden Momente hin ab, und in Lateinamerika verfertigen patriotisch gestimmte Autoren Bilder des „Guten Wilden“, der seinen Teil zur Identitätsbildung Lateinamerikas beitragen sollte. Darüber stießen beide auf Probleme, die in ihrer Logik verblüffend verwandt sind. So ließ der ecuadorianische Autor Juan León Mera in seinem Roman Cumandá. Ein Drama unter Wilden (1879) zwar eine Indigena auftreten – verriet am Schluss aber, dass seine Heldin gar keine sei: Sie wurde von den Indigenen nur geraubt und aufgezogen. Der Roman zeigt, dass es dem literarischen Indigenismus in Lateinamerika vor allem darum ging, Leitbilder zu liefern, die eine auf Abgrenzung nach Spanien bedachte Elite zwar ansprach, sie zu den realen Indigenen aber auf Distanz hielt.

Man darf die mythischen Vorgaben eben nicht wörtlich nehmen. So sieht es auch der 1872 geborene Lutfi Al-Sayyid. Schon klar, schreibt der ägyptische Journalist, dass es viele Morallehren gebe. Darum solle jede Nation die nehmen, die zu ihr passt. „Da für uns Ägypter die Begriffe von Gut und Böse auf den Glauben an die Religion gründen, muss diese die Grundlage der ethischen Erziehung sein.“ Kulturelle Identität, gibt Al-Sayyid zu verstehen, ist zeitlich und räumlich begrenzt. Sie absolut zu setzen, hieße, die Relativität aller Kultur zu verkennen. Die Moderne lässt einen unbefangenen Umgang mit Ursprungsmythen heute weniger zu denn je. Propheten und Indigene leben in einer Welt, der für naive Konversionsriten die Geduld fehlt. Sie sehen sich zu vielen Störenfrieden aus der Fremde gegenüber, von Cola Cola über Google, Twitter, Facebook bis zu den großen Nachrichtensendern von CNN bis Al Jazeera. Wirklich zersetzend ist etwas anderes: eine seit Einbruch der Neuzeit global verbreitete und nicht abzulegende Nervosität. Eine Mentalität des Kalküls und der Planung, die mit den Idyllen früherer Zeiten, sollte es sie je gegeben haben, nichts anzufangen weiß.

Denn die Nervosität ist selbst längst Tradition geworden. Zurückdatieren lässt sie sich mindestens auf das Jahr 1492, als Kolumbus lateinamerikanischen Boden betrat. Mit dem Entdecker kamen die Kaufleute und mit ihnen der Handel. Wer aber handelt, muss Termine einhalten, vorausschauen und -planen, sich in den Partner hineindenken, kurz, die Welt aus komplexerer Perspektive sehen. Kulturell durchläuft er eine Entwicklung, hinter die er nicht mehr zurück kann. Seitdem die Handelswege über den gesamten Globus verlaufen, haben die Paradiese der glücklichen Einfalt massiv an Terrain verloren. Seit das Kalkül in der Welt ist, feiert das dynamisierte Bewusstsein Triumphe. Der Kapitalismus hat die Menschen gelehrt, ihre Zukunft zu berechnen. Wer aber die Zukunft für planbar hält, hat zu Mythen ein bestenfalls nostalgisches Verhältnis.

So ist der Traum von der Authentizität, dem reinen, unverfälschten Sein an sein Ende gekommen. Das moderne Bewusstsein der Kontigenz dringt vor, die Einsicht also, dass die Dinge zwar sind, wie sie sind, aber auch ganz anders sein könnten. Das macht die Propheten so aggressiv. In ihrer fundamentalistischen Ausprägung, schreibt der Kulturwissenschaftler Terry Eagleton, „ist die Religion wohl weniger Opium für das Volk als Crack für die Masse.“ Das Gleiche gilt für die Spielarten identitätsversessener Kultur. Deren Anliegen mögen legitim sein, wenn soziale oder ethnische Minderheiten mit ihrer Hilfe ihre Anliegen vortragen. Politische Vorhaben nehmen an Fahrt auf, wenn sie in einer kulturellen oder religiösen Sprache daherkommen; das haben auch die Vorkämpfer der Linken erkannt. Es ist kein Zufall, dass eine ganze Reihe sowohl arabischer wie lateinamerikanischer Marxisten zum Islamismus einerseits und zum Indigenismus andererseits gefunden haben.

Die Mentalität der Händler

Tatsächlich hat der Indigenismus in Lateinamerika einiges erreicht. So spricht die mexikanische Verfassung seit 1992 vom multikulturellen Charakter der Nation. Und die Verfassungen von Venezuela, Ecuador und Bolivien erkennen die Indigenen als eigene Volksgruppe an – mit Folgen auch für deren rechtlichen und sozialen Status. Im islamischen Raum hingegen können die entsprechenden Gruppierungen wenig vorweisen, aus leicht einsehbarem Grund: Dort leben eben überwiegend Muslime – und wie soll man Muslime vor Muslimen schützen? Nicht erstaunlich darum, dass sie ihre Gegner meist nicht auf regionaler oder nationaler, sondern internationaler Bühne finden. Allerdings zeigen die Beispiele Iran und Afghanistan, dass identitätspolitische Programme auf dieser Ebene nicht anschlussfähig sind. Allzu leicht scheitern sie am eigenen Chauvinismus und Rigorismus.

Genau hier liegt die Schwäche kultureller oder religiöser Identitätsprogramme: Beide folgen zumindest in ihren radikalen Varianten keinem „republikanischen“ Modell, das sich um Integration in ein übergreifendes Gesellschaftssystem bemühen würde. Stattdessen setzen sie auf Abgrenzung. Dies zeigt sich etwa in der Erklärung des 1942 geborenen bolivianischen Indigenen-Führers Felipe Quispe, „El Mallku“ („der Condor“). „Wir Eingeborenen“, erklärte er, „haben unser eigenes Land. Dieses Land gehört nicht den Menschen aus dem Westen, den Kolonisten. Es gehört uns. Wir haben unsere eigene Geschichte, unsere eigene Philosophie, unsere Gesetze, unsere Religion, Sprache und Gebräuche.“

Ähnlich formulierte Sayyid Qutb, der 1967 hingerichtete Vordenker der ägyptischen Muslimbrüder. Er beklagte den Werteverfall seiner Zeit, den er mit dem arabischen Begriff für die vorislamische Zeit, „Dschahili“, umriss. „Wir sind heute von Dschahili umgeben“, notierte er. „Dschahili-Gesellschaften sind alle Gesellschaften außer der muslimischen Gesellschaft.“ Wir gegen sie: diesem Prinzip folgte auch Qutb – wobei er zur „muslimischen“ Gesellschaft nur die rechnete, die unter dem rechten Glauben das Gleiche verstanden wie er.

Qutb und Quispe, zwei Kämpfer für vermeintlich bessere Welten. Besser, weil abgeschlossen nach außen. Fraglich ist nur, ob sie ihre Insassen dauerhaft schützen werden. Gegen Ideen und Mentalitäten nützen die Mauern, die sie errichten, wenig. Das gilt zumal für jene Mentalität, die die Händler weltweit hinterlassen haben. Kleine Flecken mögen sich noch sperren gegen den nervösen Geist des Kapitalismus. Rechnen müssen sie trotzdem mit ihm. Ihr Widerstandskampf scheint nicht ewig zu sein. Identität lässt sich nicht konservieren. Vor ihrem Wandel schützen weder Gott noch Grenzen.

Kersten Knipp ist promovierter Romanist, beschäftigt sich aber auch mit Orient. Zuletzt schrieb er im Freitag über den kulturellen Aufbruch im Westjordanland

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