Alles im Fluss

Trendforschung Was bringt die Zukunft? Beim Deutschen Trendtag diskutierten Experten, wie unser Leben morgen aussehen könnte. Als wichtigste Fähigkeit der neuen Zeit gilt: Flow Control

Dem Kind einen Namen geben, damit man es rufen kann – das ist sein Job. Herauskommen solche Wortschöpfungen wie „Bleisure“ oder „Flow Control“. Trends, die der Hamburger Zukunftsforscher und Kommunikationsdesign-Professor Peter Wippermann erspürt und benannt hat.

Wie muss man sich denn seine Forschung vorstellen? „Hurrikans sind Modelle für die Zukunft“, sagt Wippermann. „Keiner kann Stürme machen. Man kann sie nicht vorhersagen. Aber beobachten und nutzen.“ Der 60-Jährige versucht seit mehr als zwei Jahrzehnten, den gesellschaftlichen Wandel möglichst früh und zutreffend zu interpretieren. Die Auftraggeber seines Trendbüros sind Unternehmen aus der Medien- und Konsumgüterbranche, die sich durch seine Prognosen einen Wettbewerbsvorteil versprechen.

Zu Hunderten sitzen Vertreter dieser Branchen an einem sonnigen Septembertag im gläsernen Auditorium der Hamburger Bucerius Law School. Viele Herren in Schwarz. Die Liste der Anwesenden liest sich wie das Who is Who der Medien- und Werbebranche. Dazwischen unauffällige Gesandte deutscher Unis. Einmal im Jahr treffen sich auf Initiative Wippermanns beim Deutschen Trendtag all jene, deren Geschäft der Blick nach vorn ist. Das Versprechen diesmal: „Wissen, wo die Märkte von morgen liegen.“

Um diesen Wunsch zu befriedigen, arbeiten Trendforscher eng mit Wirtschaftswissenschaftlern, Soziologen, Ethnologen, Designern und Kulturwissenschaftlern zusammen. Von einem Blick in die Kristallkugel will in Hamburg aber niemand etwas wissen. Stattdessen setzt man auf „Home Visits“, „Store Checks“ und Interviews mit Menschen, die einen Trend setzen oder verstärken könnten.

Oft sprechen die Zukunftsforscher am Ende ihrer Recherchen dann von „Trends und Gegentrends“. Mit diesem Sowohl-als-auch kann man bei Prognosen nicht so viel falsch machen, zugleich fasst es aber auch ganz gut die Mechanismen von Dazugehören-Wollen und Abgrenzen, die jeden Trend begleiten.

Flucht vor dem Wandel?

„Auf der einen Seite beobachten wir zurzeit einen Informations-Overkill“, sagt Wippermann. „Auf der anderen sehen wir die Suche nach dem Glück vor der eigenen Haustür.“ Sie spiegelt sich etwa im Erscheinen etlicher Magazine aus den Bereichen Garten, Natur und Landleben wider. Völlige Globalisierung auf der einen Seite, die Suche nach Tradition und Heimat auf der anderen – dahinter stecke „die Idee, aus dem aktuellen Strukturwandel fliehen zu wollen“, sagt Wippermann. Eine rückwartsgewandte Bewegung? So weit geht er nicht, seine Begründung klingt simpel: „Die Menschen sind nun mal widersprüchlich.“

Von der Flucht vor zuviel Kommunikation ist beim Treffen in Hamburg allerdings nichts zu beobachten. Vielmehr tippen die Teilnehmer ausgiebig auf ihren Smartphones herum. „Der Fluss von Informationen ist viel größer, schneller und tiefer, als dass wir ihn überhaupt noch verarbeiten können“, sagt Wippermann. Er meint einen neuen Megatrend ausgemacht zu haben: Flow Control. Eine Strömung, in der sich widersprüchliche Sehnsüchte nach uferloser Kommunikation und Selbstkontrolle vereinen. Die Dringlichkeit, sich damit auseinanderzusetzen, unterstreicht er mit hochgerechneten Zahlen: Der Datenfluss werde in den kommenden Jahren um 7.000 Prozent zunehmen.

Bevor ein neuer Trend auf den Massenmarkt trifft, will man beim Hamburger Treffen der Zukunftsforscher die möglichen Szenarien durchdenken. Der allgegenwärtige Norbert Bolz, seines Zeichens Medienphilosoph und Professor an der TU Berlin, versucht es mit hemmungsloser Zustimmung: „Im Flow zu sein, ist keine Bedrohung, sondern der eigentliche Glückszustand.“ Und er fügt hinzu, „gestresst ist bloß, wem Flow Control nicht gelingt.“ Um dann noch die ganz große geschichtliche Perspektive nachzuschieben: „Nach der Eroberung von Land, See, Luft und Weltraum entscheidet zukünftig die Herrschaft über die Zeit.“

So pathetisch sich manche Formulierung in Hamburg anhört, so unscharf manch ausgerufener „Megatrend“ wirkt – einige gesellschaftliche Großströmungen haben Trendforscher wie Wippermann durchaus vor ihrer Zeit erkannt. So prägte er 2000 etwa den Begriff „Ich-AG“. Bevor die Bundesregierung den Terminus übernahm, benutzte er ihn für das Phänomen des Einzelkämpfers, der aus freien Stücken das eigene Leben als ein Unternehmen begreift. Untrennbar an diese Vorstellung geknüpft, aber mit der Verabschiedung von der Freiwilligkeit auch als Gegentrend verstehbar, ist der an den Begriff geknüpfte Sozialabbau, der den Einzelnen dazu zwingen sollte, die unternehmerischen Risiken seines Lebens selbst zu tragen.

Und dann kommt "Bleisure"

Und was bringt uns Flow Control? Die meisten Menschen werden in Zukunft Beruf und Freizeit noch weniger als bisher als zwei voneinander getrennt existierende Welten empfinden. Mit großer Selbstverständlichkeit verschmelzen „Business“ und „Leisure“. Wie man das nennt, wissen die Trendforscher auch schon: "Bleisure."

Während der Konferenz testen die Teilnehmer, wie sich das anfühlen könnte. Zwischen den Vorträgen rasen sie mit Roadstern eines Elektro-Motorenherstellers über den Campus. Beschleunigung der futuristischen Geschosse: Von 0 auf 100 in knapp fünf Sekunden.

Kerstin Walker arbeitet als Journalistin in Hamburg. Zuvor hat sie Mode-Design studiert und sich dabei viel mit Trends beschäftigt.

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