Erfolgreich im Abseits

Migration Die USA profitieren von Millionen papierloser Einwanderer. Eine Reform zu ihren Gunsten lässt auf sich warten
Ausgabe 22/2015
Vorzeigebankerin Julissa Arce wollte nicht zurück nach Mexiko
Vorzeigebankerin Julissa Arce wollte nicht zurück nach Mexiko

Foto: Zumapress/Imago

Eine Wall-Street-Karriere mit gefälschter Greencard: Julissa Arce hat diesen Werdegang nicht von langer Hand geplant. „Ich hätte nie gedacht, dass ich diese gefälschten Papiere nutzen würde, um bei Goldman Sachs zu arbeiten“, sagt die 31-jährige gebürtige Mexikanerin. Im Alter von zehn Jahren war sie mit ihren Eltern per Touristenvisum in die USA gereist und nach Ablauf der Frist einfach geblieben. Sie begann ein Studium und verdiente ihr Geld mit einem Backwarenstand in San Antonio, Texas. Doch dann musste der Stand einem Neubau weichen. „Da hatte ich eine sehr schwierige Entscheidung zu treffen“, erzählt die Frau mit langen braunen Haaren, freundlichen großen Augen und modischem Hut. „Ich musste entweder die Universität verlassen, weil ich als illegale Einwanderin keine finanzielle Unterstützung bekommen hätte, oder einen Weg finden, einen Job zu bekommen. Das ging nur, indem ich mir gefälschte Dokumente holte.“ Eine Bekannte stellte ihr einen Freund vor, der Kontakt zu einer Frau vermittelte, die bei sich zu Hause Dokumente fälscht.

Angst vor Abschiebung

Arce fiel das nicht leicht. „Aber letzten Endes kam es für mich nicht in Frage, meine Ausbildung und meine Träume aufzugeben, nachdem meine Eltern sich so aufgeopfert hatten.“ Ihre Familie war mit der kranken Mutter zurück nach Mexiko gegangen, um teure Behandlungskosten in den USA zu vermeiden und der Tochter für ihre College-Ausbildung die Einkünfte des Backwarenstands zu überlassen. Umso motivierter zog die Tochter ihr Studium durch, ergatterte als Überfliegerin einen Job bei der Großbank Goldman Sachs. Arce hoffte, dass die lange diskutierte Reform des Einwanderungsrechts schon irgendwann kommen würde und sie ihre gefälschte Greencard gegen eine echte eintauschen könnte. Doch auf die Reform warten die USA bis heute vergeblich. „Hätte ich nicht geheiratet, wäre ich nach 21 Jahren in diesem Land noch immer illegal“, sagte Arce.

Je nach Schätzung leben elf bis zwölf Millionen Einwanderer ohne Papiere in den USA. Wie Arce sind die meisten von ihnen Lateinamerikaner und leben in ständiger Angst vor der Abschiebung. Mitte der 1990er Jahre, als die Arces kamen, lag die Zahl der Papierlosen bei einem Drittel der heutigen. Die letzte Einwanderungsreform ist knapp 30 Jahre her, 1986 unterzeichnet von Ronald Reagan. 2001 brachten Demokraten den „Development, Relief, and Education for Alien Minors“ (DREAM) Act in den Senat ein, der jungen Illegalisierten die Chance auf einen Aufenthaltstitel verspricht. Die tiefe Kluft zwischen Demokraten und Republikanern verhinderte seither eine Verabschiedung auf Bundesebene. Und Präsident Barack Obamas Alleingang, Papierlosen per Dekret ein befristetes Bleiberecht zu ermöglichen, hatten die Republikaner mit einer Klage vorerst gestoppt.

Dabei sind nach einer Untersuchung des US-Forschungsinstituts Pew Research Center mehr als 70 Prozent der befragten US-Bürger der Meinung, dass illegale Einwanderer unter gewissen Auflagen bleiben dürfen sollen; unter Demokraten beträgt die Mehrheit 80, unter Republikanern 60 Prozent. „Alle wissen, dass das US-Einwanderungssystem kaputt ist“, sagt Professor Stephen Yale-Loehr von der Cornell University Law School. Das alte Stigma, Einwanderer nähmen Einheimischen Jobs weg, verliert an Zugkraft: Laut einer Befragung der University of Chicago sind sich Ökonomen im ganzen Land einig über den volkswirtschaftlichen Gewinn, den mehr legale Migration mit sich brächte.

Das Gesetz untersagt Arbeitgebern, Mitarbeiter ohne Papiere einzustellen. Viele kaufen sich deshalb gefälschte Führerscheine oder Sozialversicherungsausweise. „Nur so können diese Menschen überleben“, sagt Yale-Loehr. „Sie hoffen, dass ihr Arbeitgeber es nicht herausbekommt oder es ihm egal ist.“ Die in die Illegalität Gezwungenen sind meist ganz normale Steuerzahler, denn die Einwanderungsbehörde und das US-Steueramt pflegen keinen automatischen Datenaustausch. Zwölf Milliarden Dollar haben sie 2012 laut einer Studie des Institute on Taxation and Economic Policy gezahlt.

„Ich musste stets so viele kleine Dinge bedenken, um nicht aufzufallen“, sagt Julissa Arce über ihren früheren Alltag ohne Papiere. Wenn sie sich mit Freunden in einer Bar traf, dann kam sie immer ganz früh oder absichtlich zu spät. Denn ihr einziger Ausweis, den man in den USA beim Betreten von Bars vorzeigen muss, war ihr mexikanischer Pass. „Ich wollte nicht, dass meine Freunde mich fragen, warum ich den benutze und nicht meinen Führerschein.“ Auto fuhr sie trotzdem, ohne Führerschein; in weiten Teilen der USA kommt man mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht weit. Also passte Arce besonders auf, dass sie der Polizei keinerlei Grund gab, sie anzuhalten. Ihre Einnahmen vom Backwarenstand versteckte sie im Kopfkissen; Banken wollen für die Kontoeröffnung Ausweise sehen. „Immer weiter kleine Lügen“, sagt Arce, „das war ziemlich belastend.“

Ein Goldman-Sachs-Gehalt über mehrere hunderttausend Dollar konnte ihr Angst und Scham nicht nehmen. Und ein Gefühl der Leere blieb, nachdem Arce geheiratet und so eine echte Greencard erhalten hatte. Denn es waren eben nicht Karriere und Geld, die ihren größten Wunsch, eine legale Existenz, erfüllt hatten. Sie kehrte der Wall Street den Rücken, um in der Öffentlichkeit ihre Geschichte zu erzählen und sich für die Rechte Papierloser einzusetzen. Heute arbeitet Arce hauptberuflich für die gemeinnützige Organisation „Define American“. Sie wurde von dem Journalisten Jose Antonio Vargas gegründet, der Wert darauf legt, dass er als „undocumented“ gilt, also als nicht von den Behörden erfasst. „Illegal“ klinge entmenschlichend.

Lloyd Blankfein, Chef der jahrelang von Arce beschwindelten Bank Goldman Sachs, reagierte auf ihre Geschichte so: „Wäre es nicht großartig, wenn wir mehr talentierten jungen Menschen, die für ihre Ausbildung in dieses Land kommen und ihre Energie und Können in unsere Wirtschaft investieren, ein Zuhause bieten könnten?“ Arce bedeuten diese Worte viel: „Er erkennt an, dass wir gekommen sind, um alles zu geben und nicht, um irgendetwas von irgendwem zu nehmen.“ Jenes Stigma ist ökonomisch auch gar nicht haltbar. Einwanderer stünden kaum im Wettbewerb mit US-Amerikanern, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Giovanni Peri von der University of California in der Stadt Davis. Im Gegenteil: Sie beförderten das Wirtschaftswachstum, meist indem sie manuelle Arbeiten in der Landwirtschaft, auf dem Bau und im Dienstleistungsbereich übernähmen. Laut US-Agrarministerium machen Einwanderer rund die Hälfte aller Erntearbeiter aus. Einheimische und Muttersprachler hätten dadurch eine viel größere Freiheit, sich auf Tätigkeiten zu konzentrieren, die weiter oben in der Wertschöpfungskette angesiedelt sind.

Ein Mythos stirbt

Im New York Times Magazine hat das der US-Wirtschaftsjournalist Adam Davidson kürzlich auf einen prägnanten Satz gebracht: „Wenn Einwanderer Jobs wegnähmen, dann würde jede junge Person, die von der Schule abgeht und in den Arbeitsmarkt eintritt, das logischerweise auch.“ Linken Wachstumskritikern hält Davidson entgegen: „Wachstum durch Zuwanderung ist Wachstum mit bemerkenswert wenigen Nachteilen. Wann immer ein Einwanderer in die USA kommt, wird die Welt ein klein wenig reicher.“

Illegale Einwanderer, wie einst Julissa Arce, sind dagegen schon im Land. Das erschwere ihre Position in der politischen Debatte, sagt Ökonom Peri: „Sie haben ja schon einen Effekt auf den Arbeitsmarkt, ihre Legalisierung würde sich nur gering auf die Wirtschaft auswirken.“ Aber ein legaler Status verbessere Aufstiegschancen und ermutige zu Investitionen in Bildung.

Deswegen ist für Peri wie für den Juristen Yale-Loehr klar: Eine Lösung für die Millionen Menschen ohne Papiere in den USA muss unbedingt Teil einer umfassenden Einwanderungsreform sein. Yale-Loehr schlägt vor, die Möglichkeit zum Bleiben mit einer Strafzahlung für den Gesetzesverstoß aus der Vergangenheit zu verbinden. Er hält zudem eine bessere Organisation der Grenzkontrollen und neue Möglichkeiten zu legaler Einwanderung für dringend nötig. Doch dass es noch vor der US-Präsidentschaftswahl 2016 tatsächlich zu einer Reform kommt, gilt als ausgeschlossen. Zwar hatten die Republikaner nach ihrer Niederlage 2012 festgestellt, dass sie auf die rasant wachsende Bevölkerungsgruppe mit lateinamerikanischen Wurzeln zugehen und dafür eine umfassende Einwanderungsreform mittragen müssen. Doch eine Einigung im innerparteilichen Streit darüber ist nicht in Sicht.

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