Die Verwandlung

Transgender Alan Raphaeline hat nie daran gezweifelt, ein Mann sein zu wollen. Bis er krank und dadurch schließlich zu einer Frau wurde
Ausgabe 13/2014
Früher Alan, heute Sophia
Früher Alan, heute Sophia

Foto: Jennifer Osborne für der Freitag

Alan Raphaeline war Mitte fünfzig, als sein Leben völlig umgekrempelt wurde. Die Welt um ihn herum war noch dieselbe wie vorher, aber er wurde zu einem Anderen, oder besser: zu einer Anderen. Seit den Neunzigern lebte Raphaeline als Engländer in Berlin-Kreuzberg. Sein Buchladen war ein Treffpunkt für Expats und Anglophile, er selbst sah sich als „halbwegs exzentrischer Heterosexueller“. Dann diagnostizierten die Ärzte bei ihm eine Leberzirrhose. Drei Jahre Lebenserwartung habe er noch, sagte man ihm, als er ungewöhnliche Veränderungen bei sich bemerkte. Aufgrund der Krankheit wurde er zur Frau.

Sechs Jahre später treffe ich Sophia in ihrem Buchladen, sie erzählt mir von ihrer Verwandlung. Umgeben von Büchern, Kerzen und Weinflaschen sitzt eine große Frau mit markanten Gesichtszügen am Schreibtisch. Sie trägt ein eng anliegendes, bunt gemustertes Oberteil und einen langen Rock. Die schulterlangen Haare sind durch einen Seitenscheitel geteilt.

„Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern“, beginnt Sophia mit tiefer Stimme zu erzählen. „Ich kam gegen Mittag in meinen Laden. Ein Tag wie jeder andere.“ Anders als sonst erschienen Alan aber die Bücherregale, Farben wirkten intensiver, auch Formen und der Raum selbst schienen verändert – was war los? Ein Flashback von einem halluzinogenen Trip? Das war ihm noch nie passiert und sein letzter Trip lag auch schon zwanzig Jahre zurück.

Keine Zweifel

Nach und nach fielen ihm weitere optische Veränderungen auf. Auch Personen erschienen ihm verändert, Männer und Frauen wirkten anders. Zu dem Zeitpunkt hatte er keine Ahnung, dass die veränderte Wahrnehmung von Geschlechtern noch eine zentrale Rolle in seinem Leben spielen würde. „Ich hätte mich zwar nie als sonderlich normal beschrieben, aber ich hatte auch nie Zweifel an meiner Identität oder meinem Geschlecht.“

Das ist das Besondere an Sophias Fall: Für viele Transsexuelle ist schon in jungen Jahren klar, dass ihre Identität beispielsweise die eines Mädchens, die Anatomie aber die eines Jungen ist. Auch bei Transsexuellen, die sich erst spät in ihrem Leben zu einer Geschlechtsumwandlung entscheiden, sind die Wurzeln dieses Wunsches in der Regel bereits in der Kindheit zu erkennen.

Bei Leberzirrhosen tritt allerdings häufig eine gewisse Feminisierung auf. Alan hatte davon gehört, dass es in seinem Zustand verweiblichende Effekte geben konnte. Dazu kam, dass er ein Langzeit-Hormonpräparat einnahm, das auch transsexuellen Frauen bei Hormonbehandlungen verabreicht wird. Welche dauerhaften Wirkungen das auf ihn haben würde, war ihm damals aber nicht bewusst.

Nicht nur seine äußere Wahrnehmung veränderte sich, sondern auch, was in seinem Kopf vor sich ging. Die Art und Weise, wie er Ideen zum Ausdruck brachte, war nun eine andere. Äußerungen drückte er nun in längeren Gedankenketten aus, vorher waren es eher allgemeinere Denkraster gewesen. Selbst seine Taktik beim Schach war nicht mehr dieselbe: „Aus irgendwelchen Gründen war ich technisch besser.“

Die Hormone hatten auch Einfluss auf sein Gedächtnis. Waren seine Erinnerungen früher in der Anzahl überschaubar, dafür aber gut geordnet, so sind sie jetzt ungleich mehr, aber viel unstrukturierter.

In den ersten zwei Wochen reagierte Alan mit Angst und Panik auf die Veränderungen. „Im zweiten Stadium von Leberzirrhose kann es passieren, dass du ziemlich neben der Spur bist. Aber das sollte bei mir noch nicht der Fall sein, da ich nicht so weit war und sich meine Diagnose immer weiter verbesserte. Also, könnte es ein Schlaganfall sein?“ Er absolvierte daraufhin eine Reihe kognitiver Tests und anderer Untersuchungen – ohne Ergebnis.

Aus einem der zahlreichen Stapel um sie herum zieht Sophia die Ausgabe eines Berliner Stadtmagazins. Auf der Titelseite ist ein Buchhändler mittleren Alters mit langem Rauschebart abgebildet, der lesend vor einer Bücherwand sitzt. Sophia schaut mich mit einem Lächeln an, sichtlich gespannt auf meine Reaktion. Und ich brauche tatsächlich einen Moment, bevor ich verstehe, dass das Bild Alan zeigt. Zu groß ist der Unterschied zu der Person vor mir.

Während der Hormonbehandlung hatte Alan bereits leichte Veränderungen an seinem Körper bemerkt. Diese beunruhigten ihn aber nicht weiter, da sie in begrenztem Maße als üblich gelten. Unangenehm war es ihm trotzdem. Er fing an, die wachsenden Brüste unter Sport-BHs und Westen zu verstecken. Vor allem wollte er aber nicht, dass die Menschen mitbekamen, dass er schwer krank war.

Es dauerte, bis er schließlich ahnte, was wirklich los war. Er stürzte sich in Recherchen über verschiedene Gender-Identitäten. Die Symptome verschwanden nicht, im Gegenteil, sie intensivierten sich. Eine begleitende Psychotherapie lehnte er aber ab. „Ich hatte nicht den Eindruck, dass ich in Gefahr bin, sondern eher in einer Situation, in der ich viel lernen kann. Natürlich wollte ich gern wissen, was zum Teufel mit mir los war, also bin ich der Sache selbst auf den Grund gegangen und habe angefangen, mit Menschen in meinem Umfeld über diese Gender-Sache zu sprechen.“

Er sprach auch mit erfahrenen Trans-Beratern. Alle waren sich einig, dass es sich zwar um ein seltenes Phänomen handele, es aber nicht völlig unbekannt sei. Sie rieten ihm dazu, die Transformation nicht zurückzuhalten, weil er ihnen psychisch stabil und mit seiner offenen Haltung eher wie ein normaler Transsexueller erschien.

Kurzschluss im Schaltkreis

Bis zu dem Tag, den Sophia heute als den Wendepunkt ihres Lebens beschreibt, hatte Alans Körper in gesteigertem Maße Östrogen produziert. An jenem Tag kippte dann das Gleichgewicht. Eine medizinische Erklärung bekam Alan dafür nicht, aber er selbst stellte sich den Vorgang wie einen unterbrochenen Schaltkreis vor: „Ich hielt lange meinen männlichen Kreislauf am Laufen. Auch wenn dieser weibliche Elemente beinhaltete, konnte ich diese doch eingliedern. Bis es auf einmal einen Kurzschluss gab und es so nicht weiterging. Da ich aber einen Kreislauf – von welcher Sorte auch immer – brauchte, nahm dieser dann halt eine andere Richtung.“

Die verweiblichenden Symptome bei Alan ähneln den Veränderungen bei der Hormontherapie einer transsexuellen Frau: Nach einigen Monaten begann sich ein Busen zu entwickeln. Es fand eine Fettumverteilung statt, die Muskelmasse am oberen Teil des Körpers wurde schwächer und verlagerte sich in Richtung der Oberschenkel, das Haar veränderte sich.

Ein knappes halbes Jahr nach dem ersten Auftreten der Symptome beschloss Alan, die Transformation von sich aus anzunehmen. Er hatte genug davon, seine Rolle als Mann nach außen aufrechtzuerhalten, obwohl er sich nicht mehr als solcher fühlte. Im Mai 2008 beobachtete er die ersten Veränderungen, im September fasste er den endgültigen Entschluss zur Transformation und im neuen Jahr sollte es für ihn als Sophia losgehen. Wenn Sophia heute davon erzählt, klingt es fast, als sei sie stolz, dass sie ihren Seitenwechsel so schnell hinter sich gebracht hat: „Das ist ziemlich nah an einem Weltrekord.“

Mari Günther von der Beratungsstelle „Queer Leben“ in Berlin hatte zuvor noch nie von einem Fall gehört, bei dem allein eine Veränderung des hormonellen Gleichgewichts ein transgeschlechtliches Empfinden ausgelöst hätte. „Ich kann mir aber vorstellen, dass ein Erklärungsmodell beruhend auf einer Erkrankung entlastend für die eigene Akzeptanz eines solchen Empfindens sein kann“, sagt sie. In vielen Fällen gehen der körperlichen Umwandlung des Geschlechts nämlich jahrelange seelische Qualen und ein schmerzhafter Entscheidungsprozess voraus.

Für Sophia war das nicht so. Zwar sagt sie von sich, dass sie rückblickend auch als Alan Dinge getan hat, die eher einem weiblichen Verhalten entsprochen hätten; eine gewisse Ambiguität war ihr also schon früher bewusst. „Vielleicht konnte man mich als eine Art Frauenversteher sehen. Und ich habe auch Kurse über Feminismus im Science-Fiction-Genre gegeben.“ Aber die Frage, ob er seine weibliche Seite vielleicht aufgrund gesellschaftlicher Vorstellungen unterdrücke, habe sich Alan nie gestellt.

Vor der Hormonbehandlung gaben die Ärzte Alan vielleicht drei Jahre zu leben. Heute ist Sophias medizinischer Zustand so gut, dass die Ärzte nicht mehr von solch überschaubaren Zeiträumen reden. Ihre Gesundheit erlaubt es mittlerweile auch, die geschlechtsangleichende Operation in Betracht zu ziehen. Aufgrund der Leberempfindlichkeit birgt jede Operation aber ein hohes Risiko.

Und was ist heute ihre größte Angst? Dass sich der ganze Prozess zurückentwickeln könnte, antwortet sie, ohne zu zögern. „Wenn Leute zu mir sagen, wie fantastisch, cool oder auch komisch es von mir gewesen sei, den Prozess zuzulassen, sage ich: Ich glaube nicht, dass ich es hätte stoppen können. Ich halte es nämlich nicht für eine unnatürliche Veränderung.“

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