Wie ein stotternder Bus eierte das Flugzeug der Gulf Air durch die Lüfte und schien sich kaum dort oben halten zu können, obwohl die meisten Passagiere sich an dieser Antriebslosigkeit offenbar wenig störten. Hurra, es ging nach Hause, mit eingeklemmten Knien und dem Kopf an der Decke, schweißverklebt, schicksalsergeben, aber selig.
Der erste Halt war Heathrow und man lud sie im hintersten Eck ab, das noch nicht für das neue Zeitalter der Globalisierung renoviert worden war und noch in der fernen, alten Zeit des Kolonialismus verharrte. Alle Dritte-Welt-Flüge dockten hier an, Familien warteten tagelang auf ihre Anschlussflüge, hockten auf dem Boden wie große Bakterienklumpen, und weit war der Weg bis in die Terminals, in denen die europäischen und nordamerikanischen Reisenden kamen und gingen und auf ihren schnellen Blitzreisen mit extra Beinfreiheit und eigenem Fernseher so elegant für ein einziges Meeting über den Ozean düsten, dass man sich kaum vorstellen konnte, dass sie überhaupt scheißende pissende blutende weinende Menschen waren. Seide und Kaschmir, geweißte Zähne, Prozac, Laptops und zum Lunch ein Sandwich namens "Milano".
Frankfurt. Die Flugzeugladung verbrachte die Nacht in einer ähnlich abgetrennten Quarantänezone, tausend Seelen, gestapelt wie in einer Leichenhalle, selbst die Gesichter mussten sie bedecken, um dem summenden Neonlicht zu entkommen.
Wie ein Bus, New York - London - Frankfurt - Abu Dhabi - Dubai - Bahrain - Karatschi - Delhi - Kalkutta, machte ihr Flugzeug wieder Station, um Männer aus den Golfstaaten hereinklettern zu lassen. Husch! Husch! ... Husch!! rasten sie auf ihre Plätze, rissen das Handgepäck auf, wühlten den Scotch hervor und setzten gleich die Flasche an den Hals. An den Flugzeugfenstern bildeten sich putzige kleine Eiskristalle. Drinnen war es heiß.
Biju aß sein Tablett voll kleiner Schälchen mit Hühnercurry, Spinat, Reis und Erdbeereis leer, spülte den Mund mit der leeren Eiskremschale aus und versuchte dann, sich noch ein Essen zu organisieren. "Ist leider gerade knapp", sagten die Stewardessen, von den betrunkenen und grölenden Männern gequält, die sie im Vorbeigehen kniffen und beim Namen riefen: "Sheila! Raveena! Kusum! Nandita!"
Zum Schweißgeruch gesellten sich jetzt der Gestank von Essen und Zigaretten, die umgewälzte Atemluft des ganzen Flugzeugs, der Gestank überfließender Toilettenkabinen.
Vor dem Spiegel auf der Toilette salutierte Biju und erwies sich selbst militärische Ehren. Er war auf dem Weg nach Hause, kannte weder den Namen des amerikanischen Präsidenten noch den des Flusses, an dessen Ufern er herumgelungert hatte, von den Touristenattraktionen hatte er noch nicht einmal gehört - nicht von der Freiheitsstatue, Macy´s, Little Italy, nicht von der Brooklyn Bridge oder dem Einwanderermuseum auf Ellis Island; hatte keine Bialys bei "Barney Greengrass" gegessen, keine saftigen Klöße bei "Jimmy´s Shanghai", hatte keine Tour durch die Gospel-Kirchen von Harlem absolviert. Quer über den einsamen Ozean kehrte er zurück und fand, dass diese Sichtweise einen nur traurig machen konnte. Aber das, so versprach er sich, wollte er nun alles vergessen und ganz von vorn anfangen. Er würde sich ein Taxi kaufen. Seine Ersparnisse waren mager, er hatte sie all die Jahre über in seinen Schuhen verstaut, seinen Socken, seiner Unterwäsche, aber er würde schon durchkommen, dachte er. An Markttagen würde er die Hügel hinauf- und hinuntersausen, goldenen Flitterkram und Götterbilder am Rückspiegel, eine lustige Hupe, TA-to-ta-TAA oder DI-didi-didi-DI-DAAA-didi-didi. Und ein Haus mit festen Wänden würde er sich bauen, mit einem Dach, das nicht jeden Monsun davonflog. Als hätte er ein Kino im Kopf, spielte Biju sich in einer Endlosschleife die Wiedersehensszene mit seinem Vater vor, weinte ein bisschen beim Gedanken an so viel Glück und Gefühl. Abends würden sie im Freien sitzen, chhang trinken und Witze erzählen, wie er sie im Flugzeug von den Betrunkenen gehört hatte:
"Also hängen Santa Singh und Banta Singh eines Tages so rum und tun gar nichts, vertreiben sich die Zeit, gucken in die Luft, und da fliegt doch plötzlich ein Militärflugzeug vorbei, Fallschirmspringer hopsen raus, springen in Jeeps, die unten auf sie warten, und fahren nach Hause. Arre, sala, das ist ein Leben, sagt Santa zu Banta, und Geld bekommt man dafür auch noch. Und da laufen sie zum Rekrutierungscenter und ein paar Monate später sitzen sie auch schon im Flugzeug. Wahe Guruji Ka Khalsa, Wahe Guruji Ki Fateh, die wahren Sikhs sind Gottes, und Gottes ist der Sieg, sagt Santa und sie springen. Arre, Banta, ruft Santa eine Sekunde später, dieser sala Fallschirm geht nicht auf. Sagt Banta: Santa, meiner auch nicht. Typische Regierungs-intezaam. Du wirst schon sehen, wenn wir unten ankommen, ist der bhenchoot Jeep bestimmt auch nicht da!" ...
Biju trat aus dem Flughafen in die Nachtluft von Kalkutta, warm, animalisch. Seine Füße sanken in den teppichweichen Staub, und er fühlte eine zarte Traurigkeit in sich aufsteigen, die ihm fast das Herz zerriss, alt und süß wie eine Erinnerung ans Einschlafen als Baby auf dem Schoß der Mutter. Tausende von Menschen waren unterwegs, obwohl es schon fast elf Uhr abends war. Elegant fuhren in einer Rikscha ein paar langbärtige Ziegen auf dem Weg zum Schlachter an ihm vorbei. Links hielt eine Gruppe Männer mit eleganten Ziegengesichtern eine Konferenz, Bidis in den Mundwinkeln. In magischem Grün leuchtete eine Moschee mit ihren Minaretten in der Nacht, ein paar Frauen in Burkhas eilten vorbei, unter dem Schwarz klimperten ihre Armreifen, in den Händen hielten sie große, in psychedelischen Farben leuchtenden Klumpen aus einem Süßwarenladen. Rotis flogen durch die Luft wie bei einer Jongliernummer, lustige Punkte über einem Restaurant mit dem Slogan "Gutes Essen macht gute Laune".
Da stand Biju in dieser staubigen lauwarmen sariweichen Nacht. Oh süße Monotonie der Heimat - er spürte, wie um ihn herum alles zauberhaft zurück in die alte Ordnung fiel, wie er wieder auf seine eigene Größe zusammenschnurrte und die monströse Angst des Lebens als Ausländer abebbte - diese unerträgliche Arroganz und Scham des Migranten. Niemand drehte sich hier nach ihm um, und wenn ihn überhaupt jemand ansprach, dann mit Leichtigkeit, sorglos. Er sah sich um und zum ersten Mal in wer weiß wie langer Zeit konnte er scharf sehen und der Schleier vor seinen Augen lüftete sich.
Kiran Desai wurde 1971 als Tochter der Schriftstellerin Anita Desai in Indien geboren, sie studierte in England und den USA, wo sie heute lebt. Ihr Roman Erbin des verlorenen Landes, aus dem der Text stammt, erscheint Ende August im Berlin Verlag.
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