Dieses cremige Gefühl

Pop Lana Del Reys neues Album „Ultraviolence“ ist Edelkitsch. Darf man das gut finden? Und warum galt der Kitsch lange als böse?
Ausgabe 27/2014

Eine betörende Stimme, ein schönes Gesicht, ein wenig Weltschmerz, ein bisschen Herzeleid, unterlegt mit einem dicht gewebten Klangteppich aus Streichern und makellosen Synthie-Sounds. Ein getragener, bisweilen schleppender Beat, Halleffekte, die einer Kathedrale Ehre machen würden, und die Sängerin auf dem Cover und in den Medien posierend in Rollen irgendwo zwischen Retro-Prinzessin und Mädchen von nebenan: Das ist die New Yorker Sängerin Lana Del Rey. Dieser Tage ist ihr zweites Album erschienen.

Auf Ultraviolence (Vertigo Berlin) bleibt Lana Del Rey ihrem Erfolgsrezept weitgehend treu. Als Elizabeth Grant aufgewachsen, enterte die 1986 geborene Musikerin die musikalische Szenerie vor drei Jahren mit den Mitteln viralen Medienmarketings. Ihr Song Video Games wurde zuerst über Youtube und in den sozialen Netzwerken zum Hit, auf den 2012 das Debütalbum Born To Die folgte. Del Reys Musik ist der schwermütige Soundtrack einer desillusionierten Jeunesse dorée, die mit Mitte zwanzig schon alles gesehen hat: die Party, den Sex, die Drogen, das Geld. Auf den Verlust von wirklicher Dramatik, echtem Gefühl und wahrer Liebe reagiert die Pop-Fee nicht mit einem Ausbruch, sondern mit der Aneinanderreihung von Pathosgesten aus dem Arsenal der Popgeschichte. Die Liebe? Immer schon verflogen. Die Männer? Mistkerle, natürlich, aber fürs persönlich-weibliche Lebensglück doch unverzichtbar. Amerika? Eine verklärte Erinnerung. Und immer so weiter.

Hört man sich die Songs von Ultaviolence so an, wie Platten in der von Del Reys Nostalgieformeln beschworenen guten alten Zeit konsumiert wurden, also am Stück, dann entsteht ein merkwürdiger Eindruck. Durchgehend hält sich der schwüle Sound der Streicher, des pathetischen Halls und der düsteren Koloratur von Del Reys Stimme. Song für Song schreitet die Sängerin die stillgestellten Tableaus von verfließender Liebe, Vorstadtschicksal und bourgeoiser Langeweile ab, ihr Liederkranz wirkt wie ein elegant ausgeleuchtetes Museum der Popkultur und ihrer Schauplätze. Diese konzeptkunstartige Geschlossenheit hat etwas Betäubendes. Niemals steigert sich diese Musik in Lust und Ekstase, Zerstörung und Untergang, sie kennt nur eine Temperatur, nur eine Konsistenz. Die sepiatönigen Begleitvideos verstärken dieses cremige Gefühl noch. Früher hätte man diese Wellnessvariante schwermütiger Daseinsgestimmtheit „Kitsch“ genannt – Edelkitsch aus der Pop-Retorte, stellenweise etwas anstrengend, insgesamt aber süffig.

Politisch verführbar

Darf man das gut finden? Oder ist Kitsch nicht immer noch schlimm, ästhetisch peinlich und politisch bedenklich? So wie Anfang des 20. Jahrhunderts. Im königlich württembergischen Stuttgarter Landesgewerbemuseum richtete der Kunsthistoriker Gustav Pazaurek eine eigene Abteilung für „Geschmacksverirrungen“ ein, an denen sich das großbürgerliche Auge weiden konnte. Volksaufklärer kämpften nicht nur gegen den verderblichen „Schmutz und Schund“ der Heftchenromane, Kurzfilme und pornografischen Bildchen, sondern auch gegen den moralisch weniger verdorbenen, ästhetisch aber ebenso unzumutbaren „Hurrakitsch“ der Vaterländischen. Anderen erschien der Kitsch dagegen geradezu notwendig: „Der Kitsch ist nicht etwa ‚schlechte Kunst‘“, notiert der Schriftsteller Hermann Broch Anfang der fünfziger Jahre, „er bildet ein eigenes, und zwar geschlossenes System, das wie ein Fremdkörper im Gesamtsystem der Kunst sitzt oder, wenn Sie wollen, neben ihm sich befindet: es lässt sich mit dem System des Antichrist in seinem Verhältnis zu dem des Christ vergleichen.“ In dem gescheiterten Postkartenmaler und späteren Operettendiktator Adolf Hitler sah Broch den „Kitsch-Menschen“ schlechthin, dessen idyllisch möblierte Seele am Ende vor Mord nicht zurückschreckt.

Wirkungsmächtig wurden die Frankfurter Schule und ihr Kampf gegen den Kitsch. Kitsch stand hier für den schlechten Geschmack der Massen einerseits, für ihre politische Verführbarkeit andererseits. Doch haben sich unterwegs nicht nur die Formen, sondern auch die Funktionen gewandelt. „Heute“, schrieb Theodor W. Adorno in den Minima Moralia, „da das Bewusstsein der Herrschenden mit der Gesamttendenz der Gesellschaft zusammenzufallen beginnt, zergeht die Spannung von Kultur und Kitsch.“

Zwar wird Adorno nicht müde, die Erzeugnisse der Kulturindustrie mit wortreicher Verachtung zu strafen, und man kann diesen aus der Zeit gefallenen Zensurfuror heute als elitäre Selbstbeweihräucherung eines schlecht gelaunten Bildungsbürgers belächeln, man kann aber auch die Tendenz seiner Aussage für richtig halten: Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts hat die Massenkultur, haben Pop und Kommerz die Oberhand über den abendländischen Gefühls- und Kulturhaushalt gewonnen. Das Verhältnis hat sich fast umgekehrt. Das Ressentiment gegen den Kitsch ist einer allgemeinen Unschuldsvermutung gewichen. Wo die Kulturindustrie schlicht kein Gegenüber mehr zu haben scheint, sondern jedes kulturelle Artefakt von Anfang an als Ware verstanden wird, lösen sich die Unterscheidungen zwischen E- und U-Kultur, zwischen „wahrer“ Kunst und der Ware Kitsch auf. Dafür werden die Binnenunterscheidungen innerhalb der Popkultur feiner. Über Hässlichkeiten wird gespottet wie einst im bürgerlichen Salon, und das ironische Schmunzeln über den schlechten Geschmack der Anderen ist beim Großstadtpublikum habituell.

Nicht allzu campy

Wer sich im Kitschigen bewegt, wandelt weiterhin auf schmalem Grat, doch entwickelt die Gegenwartskultur auch Strategien zur Einhegung der Gefahr des Reputationsverlusts. Für den Hipster ist es eben kein Problem mehr, sich die von den Reihenhaus-Großeltern zwinkernd übernommene Sammlung grienender Gartenzwerge in die Altbauwohnung zu stellen – und damit zu camouflieren, dass er ja selbst einer ist. Lana Del Reys hochtoupierte Frisuren, die angeklebten Fingernägel und überhaupt die Ausstaffierung ihrer Bühnenpersönlichkeit, mal im Rüschenkleid, mal mit Jeans und USA-T-Shirt, lassen sich als bewusste Überstilisierungen lesen, die das Künstliche der Inszenierung betonen, ohne allzu campy, allzu ironisch zu sein.

Im frühen 21. Jahrhundert stellen der Kitsch, das Pathos, das Schmalzige keine großen politischen und ästhetischen Probleme mehr dar. Es geht nur noch um den Geschmack. In seinen verschiedenen Spielarten vom Konsumgüterschrott bis zur vorgeblich hintersinnigen Jeff-Koons-Plastik fügt sich der neue, softe Kitsch aufs Beste in den kulturellen Horizont einer von nostalgischen Beschwörungen beherrschten Gegenwart. Wo sich wirtschaftliche Sicherheiten und kulturelle Gewissheiten verflüchtigen, bietet das Kitsch-Kontinuum lose Orientierung und harmlosen Trost, ohne allzu sehr zu normieren. Zugleich aber bahnt Edelkitsch, wie Lana Del Rey ihn aufführt, einen überraschenden Zugang zum Erhabenen, zum großen Gefühl, zur unverhofften Technicolor-Gestimmtheit unserer Krämerseelen, der wir uns so oft schämen zu müssen glauben.

Das gilt auch für den Polit-Kitsch der Linken, dem die Literaturwissenschaftler Bettina Gruber und Rolf Parr einen demnächst im Wilhelm Fink Verlag erscheinenden Band widmen (Linker Kitsch. Bekenntnisse – Ikonen – Gesamtkunstwerke). Das Che-Guevara-Shirt hat heute den gleichen ästhetischen Wert wie der endlos reproduzierte Warhol-Siebdruck. Sein Identifikations- und Provokationspotenzial erschöpft sich in der nur halb ernst gemeinten Beschwörung der besseren Zeiten von Engagement und Aktivismus.

Aber vermutlich blitzt im verkitschten Zeichen manchmal doch noch der pathetische Hauch einer revolutionären Hoffnung auf. Sicher: Auch der Niedergang einer linken Kitschkultur, die auf die beständige Beschleunigung kapitalistischer Zumutungen mit dem Behaglichkeitsversprechen einer eingängigen Symbolsprache antwortete, ist kaum zu leugnen. Nur eine Minderheit Moskau-treuer Betonköpfe genießt die einstmals schweren Zeichen weiterhin in all ihrer Gewichtigkeit – und reagiert noch heute äußerst ungehalten, belustigt man sich über ihren Fahnen- und Personenkult. Doch dienen die Arsenale des Kitschs nach wie vor der Selbstvergewisserung, dass man an das Richtige glaubt. Oder das Große fühlt.

Unserer Gegenwart jedenfalls bietet sich Lana Del Reys Konzeptkitsch als ebenso wohldurchdachtes wie frivoles Sedativum an, und wohl selten war eine Narkose so ausgesprochen angenehm, so berückend schön, das muss man schon sagen.

Klaus Birnstiel unterrichtet Neuere Deutsche Literatur an der Universität Basel

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