Das heimliche Interesse an Biografien leitet sich, wie der große Skeptiker E. M. Cioran einmal meinte, aus dem Wunsch ab, aus sicherer Distanz mitverfolgen zu können, in welche Desaster und Katastrophen andere Menschen schlittern können. Und das Theater bietet in dieser Hinsicht ein weites Feld zur Erforschung von Aufbrüchen und Abstürzen jeglicher Art. Denn der Beruf des Theatermachers ist immer geprägt von Einsamkeiten und Abgründen - insbesondere im Falle Claus Peymanns. Es bedurfte freilich schon bei der Ini tialzündung einer enormen Energieleistung, damit Claus Peymann die ärmlichen Verhältnisse zurücklassen konnte, in denen er in Bremen Ende der dreißiger, Anfang der vierziger Jahre aufwuchs.
Roland Koberg, gebürtiger Li
;rtiger Linzer und Theaterredakteur der Berliner Zeitung, hat mit seiner Biografie Aller Tage Abenteuer nicht nur alle Inszenierungen von Claus Peymann einer theaterästhetischen Betrachtung unterzogen. Die frühen Aufführungen, die Koberg (aufgrund seines jugendlichen Alters) nicht aus eigener Anschauung kannte, hat er entweder über Videos oder das Studium der Programmhefte, Photos und Rezensionen erschlossen. Koberg hat mit zahlreichen Weggefährten - Intendanten, Regisseuren, Dramaturgen und Schauspielern - Gespräche geführt, um den Werdegang von Claus Peymann in all seiner Divergenz und Komplexität beschreiben zu können.Der Schauspieler Gert Voss war ziemlich entsetzt, als er Peymann zum ersten Mal bei der Zusammenarbeit für Mutter Courage und ihre Kinder Ende der sechziger Jahre in Braunschweig kennenlernte: "Er war wahnsinnig laut, lachte andauernd, die anderen lachten aus Arschkriecherei immer mit, und ich dachte: Wenn das die neue Regiegenera tion ist, dann ohne mich!" Und dann kam alles ganz anders. Die Wege von Gert Voss und Claus Peymann liefen parallel, aber die Positionen haben sich in Stuttgart, Bochum und Wien noch des öfteren gekreuzt.Von theaterhistorischem Interesse ist Kobergs Biografie unter anderem wegen der genauen Darstellung der wenigen Monate, die Peymann 1970 an der "Schaubühne" arbeitete. Bei Claus Peymanns und Wolfgang Wiens Inszenierung Der Ritt über den Bodensee (Peter Handke) wurde das viel gepriesene Mitbestimmungsmodell zum Leidwesen des Regisseurs in Anspruch genommen. Wenn es galt, einen Regisseur fertig zu machen, waren die Schaubühnen-Akteure mitunter nicht besonders zimperlich. Der Produktionsdramaturg Dieter Sturm "deckt Peymanns vermeintliche Naivität ohne Schonung auf; nicht aus böser Absicht, aber im Kern vernichtend". Peymann verließ nach einem äußerst kurzen Gastspiel ernüchtert die Schaubühne, deren große Zeit mit den Inszenierungen von Peter Stein, Klaus Michael Grüber, Robert Wilson und Luc Bondy erst noch kommen sollte. Mit dem Konkurrenten Peter Stein rechnete Peymann viel später ab: "Die wirkliche Sekunde meines Scheiterns habe ich auf einer Silvesterparty erlebt, auf der man mit mir Frieden schließen wollte. Da kam Stein an, wie ein kleiner Unternehmer, klopfte allen auf die Schulter, als ob er fragen würde: Was macht denn der Kleine? Genau wie Everding." Die Schau bühnen-Monate waren für Peymann "eine Katastrophe, an der ich praktisch zerbrochen bin. Ich war so demoralisiert, dass ich nicht weitermachen wollte." Von diesem Schock hat sich Peymann lange nicht erholt. Noch heute ist für ihn die Theaterwelt in zwei Lager geteilt: In "Zwillingsensembles" - "das sind echte Wirbelbuden" - und in "Steinbockbühnen" - "lauter kluge Köpfe, die sich immer fragen: wie können wir uns in Widersprüche verwickeln?" An dieser genussvoll vorgenommenen Dichotomie lässt sich unschwer erkennen, dass Claus Peymann im Sternzeichen Zwilling und Peter Stein Steinbock ist.Koberg nimmt eine Chronologie der Ereignisse von Peymanns Theater vor. Die acht großen Kapitel folgen den Wirkungsstätten des Regisseurs und Direktors Peymann - von den Anfängen in Hamburg und Braunschweig bis zu den Intendanzen in Stuttgart, Bochum, Wien und dem umkämpften Neubeginn am Berliner Ensemble.Wenn man in Aller Tage Abenteuer - Koberg hat diesen Titel in Variation zu Fritz Kortners Autobiografie Aller Tage Abend gewählt - das Politik-Verständnis einer genaueren Betrachtung unterzieht, das Claus Peymann von seinen Anfängen bis zur effektvollen Vorbereitung der Wiedereröffnung des Berliner Ensembles in seinem künstlerischen Werdegang bestimmte, könnte man im Laufe der Jahre von einer Verschiebung der politischen Inhalte im engeren Sinne zugunsten einer Medialisierung des Theaters sprechen.Die "Schaubühne" galt in den siebziger Jahren als das Theater, das eine Analyse der Gesellschaft vor dem Hintergrund der Theorien von Marx und Lenin versuchte. Peymann fand diese Weltsicht zu stark durchrationalisiert. Er suchte in seinen Arbeiten vielmehr Formen einer poetisierenden Vergegenwärtigung sozialer Konflikte. Diese Haltung führte in den neunziger Jahren bei der Uraufführung der Stücke von Peter Handke zu einer bemühten Auseinandersetzung mit den bedrängenden Fragen der Gegenwart.Vom Ende des Jahrhunderts aus betrachtet, hatten es die Theatermacher Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre leicht, in den Blickpunkt der Öffentlichkeit zu kommen. Bei Peter Stein genügte ein Spendenaufruf für den Vietcong, damit es zum Bruch mit den Münchner Kammerspielen kam, bei Claus Peymann gingen in Stuttgart die Wellen der politischen Erregung hoch, als er Geld für die Zahnbehandlung der in Stammheim inhaftierten RAF-Terroristen spendete. In Stuttgart leitete Peymann zum ersten Mal ein Theater und erreichte eine enorme Bindung der Zuschauer, die nach Peymanns glanzvollem Abschied mit Bussen nach Bochum pilgerten.In Bochum gab es eine sanfte Abkehr von der direkten Vermittlung politischer Inhalte. Peymann sah sich selbst nicht dafür geschaffen, die Arbeiter des Ruhrpotts als seine Zielgruppe zu entdecken. Die überzogenen Erwartungen rückte er mit dem nüchternen Statement zurecht, er mache bürgerliches Theater für ein bürgerliches Publikum. Roland Koberg erscheinen die außertheatralischen Kämpfe in Bochum wie "schlechte Kopien der Stuttgarter. Statt CDU gab's DGB, statt einer staatlichen Gewalt, die mit faszinierend abstoßender Härte gegen Terroristen (-Umfelder) vorging, gab's NATO-Doppelbeschluss, und statt Helmut Schmidt, an dem sich die Linke immerhin profilieren konnte, sollte es ab 1982 nur noch Helmut Kohl geben (wenigstens eruptiv begleitet von Franz-Josef Strauß). Die Debatten spielten sich für Peymann während seiner Bochumer Intendanz vor allem im "kommunalen Kleinen" ab. Das politische Urmodell von Peymanns Theater, so Roland Kobergs Conclusio, besteht darin, "in jedem Vorgang den Kampf zwischen Demokratie und Faschismus zu erkennen."Bei der Einschätzung der gegenwärtigen politischen Lage macht sich Peymann keine Illusionen, es gebe "heute doch viel mehr Nazis als früher". Durch Handkes Engagement für Serbien während des Kosovo-Krieges - Peymann brachte als letzte Uraufführung seiner Wiener Jahre Handkes viel diskutiertes, umstrittenes Stück Die Fahrt im Einbaum heraus - sah sich der Burgtheaterdirektor in einer schwierigen politischen Lage wieder gefordert. Peymann vertrat den Standpunkt des Pazifismus und schämte sich für die deutschen Tornados: "Dass wir jetzt einfach so frei raus mit den Amis zusammen die Weltpolizei spielen dürfen, zeigt doch, wie morsch unsere Demokratie geworden ist. Es wird sicher zwei, drei Jahre dauern, bis wir die Theater dagegen in Stellung gebracht haben."Roland Kobergs Peymann-Biografie zeichnet sich auch im Bereich der ästhetischen Reflexion durch einen enormen Detailreichtum aus. Die Kapitel über Peymanns Werdegang lesen sich wie ein Psychogramm eines theaterbesessenen Solitärs. Claus Peymanns Kindheit und Jugend in Bremen, seine Anfänge im Studententheater sind in schöner Ausführlichkeit dargestellt. Um die engen Grenzen der Welt seines Elternhauses zu sprengen, wurde Peymann zum Rhetor und Selbstdarsteller. In dieser Perspektive wurde Peymann im Laufe der Jahre eine durch und durch Bernhardsche Figur, die sich der österreichische Dichter regelrecht heranzüchtete: "Wenn ich nach Ohlsdorf kam", so Peymann in einem Rückblick auf seine Beziehung zu Thomas Bernhard, "wohnte ich zunächst in irgendwelchen Landgasthöfen. Dann in Gmunden, in den etwas besseren Hotels, und schließlich durfte ich doch in seinen Ohlsdorfer Vierkanthof einziehen. Ich habe im Parterre gewohnt, im Vorzimmer vom Bad, einem ziemlich ungemütlichen Bügelraum, in dem ein unmögliches Bett aufgeschlagen wurde. Bei einem Haus mit ungefähr 15 Schlafzimmern ist das natürlich eine Art Demonstration, eine Züchtigung."An der Burg, Claus Peymanns "Königs etappe" als Theaterdirektor, kommt es nach dem Zeit-Interview von André Müller zum bekannten Eklat. 114 Burgschauspieler, allen voran Franz Morak, der die "Entösterreicherung" des Ensembles geißelt, wollen Peymann das Misstrauen aussprechen, wenn nicht eine detaillierte Entschuldigung erfolge. Besonders Peymanns Diktum, "Schauspieler sind oft sehr dumm", bringt die Burgtheaterakteure gegen den Intendanten auf. Pey mann befällt die Angst, es könnte nach dem großartigen Start mit Richard III. alles vorbei sein.Nun kommt im wahrsten Sinne des Wortes der große Auftritt von Thomas Bernhard. Das Burgtheater wird realiter zur Bühne des Dramatikers. Bernhard ruft Peymann an und will wissen, was er in der schwierigen Lage zu tun gedenke. "Relativieren, irgendwie nachgeben", ist die knappe Antwort. Bernhard schreit daraufhin Peymann an und taucht um sieben Uhr am Morgen in dessen Wohnung auf und diktiert Christiane Schneider, Peymanns engster Mitarbeiterin, die Grundsatzerklärung "Um was es geht!" - mit einem gänzlich anderen Inhalt in die Schreibmaschine. Peymann schwitzt, so Kobergs lakonisches Urteil, hält aber durch. Kein Wort der Entschuldigung und auch kein offizieller Misstrauensantrag des Ensembles. Bernhard hat mit seinem Gegenprogramm den Sieg errungen. Mit dem Kapitel "An der Hand von Thomas Bernhard in Wien: Schicksalsjahre eines Piefkes" ist Koberg ein erhellender, später Blick hinter die Kulissen des Burgtheaters gelungen.Zu seinem Abschied von der Burg erklärte Peymann, der theaterfreie Raum reduziere sich bei ihm auf Null: "Selbst wenn ich in ein kleines Dorfbeisl essen gehe, reden in kürzester Zeit alle mich umgehenden Tische über Theater. Es ist wunderbar: Ich komme aus der Illusion gar nicht mehr raus. Dieses manische Reden über Theater ist natürlich im Grunde vollständig verblödet, total betriebsblind. Wahrscheinlich sieht man auch den eigenen Untergang nicht mehr oder hält ihn auch schon wieder für eine Pointe." Mit derartigen Statements hat Peymann sich selbst zum (Epi-)Zentrum der Weltkomödie Österreich stilisiert. Nun geht die Schlacht um das Theater am Berliner Ensemble weiter. Nach der "Königsetappe" plant Peymann in Berlin einen "schönen Epilog als Aufbruch". Es soll der Schlusspunkt seiner Arbeit als Theaterdirektor werden.Claus Peymann hat in frühen Jahren kennengelernt, wie man als Emporkömmling behandelt wird. Er hat sich gegen eine Welt, die ihn nicht akzeptieren wollte, mit einem unglaublichen Furor zur Wehr gesetzt und sich sein "theatrum mundi" erschaffen. Peymann hat das Chaos seiner Anfänge freilich nie ganz besiegen können. Vermutlich tut er sogar gut daran. Denn wahrscheinlich braucht der Theaterdirektor eine feindliche Umgebung, damit er überhaupt auf Touren und in den Clinch mit den Medien kommt.Roland Kobergs Aller Tage Abenteuer ist auf Grund der eleganten Verbindung der Welt des Theaters mit dem Schauspiel der Politik eine kenntnisreiche Biografie und eine kritische Hommage an einen Theatermacher, dem die Inszenierung der Öffentlichkeit ebenso am Herzen liegt wie die Uraufführung der Dramen zeitgenössischer Autoren. Claus Peymann hält sich zugute, dass er Peter Handke nach den mittlerweilen legendären Anfängen (Publikumsbeschimpfung, Kaspar, Selbstbezichtigung, Das Mündel will Vormundsein in Frankfurt, Der Ritt über den Bodensee an der Schaubühne) wieder als Dramatiker gewann: "Ich bin nach Chaville gefahren und habe zu ihm gesagt: Das Theater braucht dich! Ich möchte wetten, Handke hätte bis heute nicht wieder für die Bühne geschrieben, wenn ich ihm nicht so zugesetzt hätte. Und jetzt besteht ein grandioses, berührendes Spätwerk, noch komplexer als seine früheren, schon Theatergeschichte gewordenen Dramen." Nicht nur Thomas Bernhards und Peter Handkes Dramen hat Peymann herausgebracht, auch die Stücke von Elfriede Jelinek und Peter Turrini hat der Burgtheaterdirektor uraufgeführt. Mit manchen dieser Arbeiten konnte er nur wenig Ruhm ernten, aber Peymann hat sich der österreichischen Dramatik verbunden und verpflichtet gefühlt. Kein anderer Intendant und Regisseur - so Peymanns Verteidigung gegenüber seinen konservativen Gegnern in der Alpenrepublik - habe so viele Uraufführungen österreichischer Autoren inszeniert wie er selbst während seiner Burgtheater-Intendanz.Im Nachwort stimmt Roland Koberg einen Lobgesang auf die Hinterbühne an. Als Komparse am Burgtheater hat Koberg das erste Mal Peymann bei der Arbeit gesehen. Als für den Heldenplatz "Heil Hitler"-Rufe aufs Band gebrüllt werden mussten, hat Peymann die Statisten dafür im Parkett versammelt. Der Burgtheaterdirektor stellte es den Statisten frei, bei dieser Aufnahme mitzuwirken. Als der Papst Ende der achtziger Jahre nach Wien kam, musste Roland Koberg sich entscheiden, welchem Theatermacher er seine Reverenz erweist: Peymann, dem "Groß fürst(en) der Schnürböden", wie Bernhard seinen Inszenator einmal nannte, oder Johannes Paul II., dem Rechtsaußen der katholischen Kirche. Das "Totus tuus" kam Koberg nicht von den Lippen, wohl aber wenig später Triumphgesänge bei der Schlacht um den Heldenplatz.Wären nur alle Theaterbücher mit einer solchen Kompetenz und Kühnheit, mit einer derartigen Leichtigkeit und Leidenschaft geschrieben, würden wir den künstlerischen Werdegang unserer Regietitanen mit naturgemäß größtem Interesse verfolgen. Die Zeit bis zum Neubeginn am Berliner Ensemble muss also für Peymann-Fans keine Epoche der Leere sein. Roland Kobergs große Pey mann-Biografie "Aller Tage Abenteuer" ist neben vielen anderen Qualitäten auch ein Lektüre-Abenteuer.Roland Koberg: Claus Peymann, Aller Tage Abenteuer. Biografie. Mitarbeit: Henrike Thomsen, Henschel-Verlag, Berlin 1999, 400 Seiten, 49,80 DM
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