Die Riten des Abschieds hatten schon vor zwei Monaten begonnen, als der Burgtheaterdirektor Claus Peymann mit einem voluminösen Bildband und einem auch nicht gerade kleinen Textbuch seiner Intendanz ein machtvolles Resümee bereitete. Peymann spricht von diesem Werk selbst nur in den höchsten Tönen, und wenn der Burg-Chef selbst signiert, schreibt er seinen Fans auf die erste Seite: »Das schönste Theaterbuch der Welt«. Bisweilen wird »Weltkomödie Österreich. 13 Jahre Burg theater 1986-1999« einfach als »Das Buch« bezeichnet, oder der Göttliche nennt es in einem ekklesiogenen Rausch einfach »Die Bibel«. Eine solche Form der Theatermanie ist wahrscheinlich nur in Wien möglich, in jener zuckersüßen und gallig-bitteren Stadt, in der die Grenzen zwischen Genie und Wahnsinn stets durchlässig sind.
Den beiden Prachtbänden sind auch zwei Farbposter beigelegt. Auf dem einen Faltblatt sind Karikaturen abgebildet, die Peymann als Hohnobjekt der Wiener Presse zeigen, auf dem anderen sind Briefe und Postkarten zu sehen, auf denen wüste Beschimpfungen hingekritzelt und ans Burgtheater geschickt wurden: »Hinaus mit dem Schwein aus Wien« ist noch eine der milderen Beleidigungen. Wenn die österreichische Volksseele sich den Burgtheaterdirektor vornahm, war ihr die Selektion ein probates Mittel: »Hitler hätte über Nacht - Sie Arschloch ins KZ gebracht« ließ eine empörte Stimme Peymann wissen, und ein anderer Briefschreiber forderte einfach und direkt: »Weg mit Dir.« Eine Einsendung ist mit »BBA« unterzeichnet, die anonymen Erpresser wollten Peymanns Theater aus Wien so schnell wie möglich verbannt sehen. Die beiden Poster sind im Burg- und Akademietheater gut sichtbar ausgehängt. Jeder Gast kann noch einmal einen Rückblick auf turbulente Zeiten ziehen, bevor Peymann mit der 125. Aufführung von Thomas Bernhards Theatermacher und mit Philip Tiedemanns Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen (einer Bearbeitung von drei Bernhard-Dramoletten, die auch zum diesjährigen Berliner Theatertreffen eingeladen war) von Wien verabschiedet.
In der Ekstase des Abschiednehmens wurde der Urauffführung von Peter Handkes Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg naturgemäß die höchste Aufmerksamkeit zuteil. Es war die 220. Premiere, die das Burgtheater unter Peymann erlebte, und es sollte die letzte Darbietung sein, die der Hausherr - angefeuert durch die Debatten in den Feuilletons und Fernsehkanälen - auf die Bühne wuchtete. Doch Peymanns Zugriff war dieses Mal von einer erstaunlichen Leere geprägt, als hätte der Inszenator einfach in Wien nur seine letzte Pflicht erfüllt, einen Medienrummel angeworfen und das Regieführen aufgrund des öffentlichen Schlagabtausches leider sehr vernachlässigt. Die Szenen wirkten lieblos aneinandergereiht, als hätte ein Demiurg sie nach dem Gesetz der Langeweile arrangiert. Man wurde die Empfindung nicht los, daß die Schauspieler mit dem aufbrausenden Pathos der Handkeschen Weltbetrachtung alleingelassen wurden. Die Figuren schritten als Geister über die Bühne und sprachen Dialogfragmente, als würden sie wie in einem Irrglauben darüber staunen, was aus ihren poetischen Mündern hervorquillt.
Von der Premiere her gedacht, nach der grausamen Burgtheater-Ausnüchterung, muß man leider sagen, daß die Schlachten, die Peter Handke in monomaner Wut dem Rest der Welt geliefert hat, wesentlich interessanter waren, als ein Stück, das in verschrobenen Idealisierungen und in kulturkritischen Fastfoodgerichten selbst jene Niederungen durchschreitet, gegen die es vorgibt, mit der vielbeschworenen Macht der Poesie und dem Feinstgefühl der Sprache heroisch anzukämpfen.
Die drei internationalen Journalisten nehmen sich in ihren Radler-Uniformen wie eine Variation der Raumverdrängerrotte aus, die in Handkes Zurüstungen für die Unsterblichkeit apokalyptische Düsternis in unser vom Kulturpessimismus und Jahrtausendwechsel verwirrtes Herz streuen wollten. Die Internationalen (Therese Affolter, Peter Fitz und Urs Hefti) hämmern uns von einem mickrigen Podest ein, daß sie die Sprachregelungen der Welt bestimmen. Vor so viel didaktischer Aufbereitung fühlten wir uns in die dunkelsten Darbietungen des Brechtschen Lehrtheaters zurückversetzt, die am Berliner Ensemble, Claus Peymanns künftiger Bühne, unser Gehirn weichgeklopft haben. Vielleicht hat der belehrende Ungeist schon den neuen Theaterdirektor in den schlimmsten Würgegriff genommen. Es wäre dies eine Art von vorauseilender Rache. Man kann für den Beginn am Berliner Ensemble nur hoffen, daß sich Claus Peymann aus dieser Umarmung befreien kann und wirklich ohne schlimmere Blessuren seine Theaterarbeit in der Hauptstadt Deutschlands fortsetzen kann. Mit einer solchen Nichtigkeit wie der Irrfahrt im Einbaum wird Peymann nicht das Herz der Berliner Theaterbesucher betören können.
Im zweiten Teil der knapp vierstündigen Darbietung ist Claus Peymann die Uraufführung in eine seltsame Statisterie entglitten. Die Akteure nehmen sich wie Stehgeiger aus, die dem Meister ein letztes, nahezu müdes Ständchen darbringen. Das Zusammenspiel zerfällt in eine Ansammlung von Monologen, die mit einem aufgeblähten Furor und einem hohlen Pathos präsentiert werden. Je länger die Aufführung sich vor sich hinschleppt, desto mehr ist man geneigt zu denken, daß die Schauspieler in einer kühnen Brechtschen Distanz neben ihrer Rolle stehen.
In einem Speisesaal eines Hotels (Bühne: Karl-Ernst Herrmann) stimmen sich zwei Regisseure auf einen Film ein, der neun Jahre nach einem Krieg spielt. John O'Hara kommt aus Amerika, ist ein abgebrühter Kerl, den nichts mehr erschüttern kann. John O'Hara ist in die Jahre gekommen, das Alter lastet auf seinem Körper, sein Gang ist von den Gebrechen des Verfalls gezeichnet. Der einsame Mann wirft sich immer wieder in Pose, redet sich in einen Strom der Begeisterung, in einen Strom, der ständig zu versiegen droht, je mehr Worte ihm zugeführt werden. John O'Hara (Martin Schwab) hat die Filmindustrie ausgelaugt. Um gegen den anrückenden Niedergang anzukämpfen, hat der müde, alte Mann sich ein fernes Idol gewählt. Mit dem ausgewaschenen rosa Halstuch sieht er John Wayne ähnlich, jenem eisernen Mann, der im Tal des Todes weder Schmerzen noch Kompromisse kannte.
Robert Hunger-Bühler ist Luis Machado, ein in sich gekehrter spanischer Regisseur, der mit hellwachem Blick das Treiben der Welt beobachtet. Hunger-Bühler hat sich in die Melancholie wie in einen Mantel eingehüllt, der ihm Schutz vor den Unzumutbarkeiten bieten sollte, die die Arbeit am Film mit sich bringt. Dringt man durch die Aura der Melancholie, lernt man einen sehr empfindsamen Menschen kennen, der die Nöte der Mitmenschen begreift. Luis Machado bleibt sich trotz allen Irrsinns, die der Krieg in einem fernen Land mit sich brachte, treu. Über weite Strecken zieht er sich in den Regiestuhl zurück, sucht dort einen Ort der Geborgenheit. Der Oberkörper schmiegt sich an die Lehne, und die Füsse wippen dazu immer wieder den Takt der Vergeblichkeit. Luis Machado sieht sich die Auftritte der Akteure an, erforscht mit klarem Blick die schauspielerischen Möglichkeiten der von einem »Ansager« (Ernst Stötzner) präsentierten Mitspieler. Nur am Ende gerät Luis Machado in einen heiligen Zorn, bricht das Filmprojekt und zitiert als letzten Satz einen Vers des spanischen Dichters Machado: Daß das Aufschlagen des Sarges auf der Erde ein ernster Moment ist.
Das Wiener Publikum hat den Burgtheaterdirektor mit einer geradezu beklemmenden Milde verabschiedet. Kein Buh, kein Pfiff, keine Entladung einer letzten grausamen Emotion. Die Wiener klatschen sich in eine sonderbare Traurigkeit. 13 Jahre Burgtheater gingen mit einer gewaltigen theatralen Implosion zu Ende.
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