Ein Mann mittleren Alters legt zu einem melancholischen Song einen ungestümen Tanz hin. Er verkriecht sich förmlich in den Tanz, verbiegt wie ein Schelm seine Gliedmaßen. Der ausgelassene Mann könnte Krapp in jüngeren Jahren sein. Der Tanz ist von einer heiteren Sorglosigkeit und von einem Übermut, bei dem man nicht daran denkt, was der nächste Tag oder das Leben überhaupt noch bringen werden. Gert Voss setzt sich nach diesem irrwitzigen Auftakt an ein Piano und spielt leise und zögernd eine bekannte Melodie zum Geburtstag. Der mit schäbigen Möbeln und einem heruntergekommenen Kabuff ausgestattete Bühnenraum versinkt bald in völliger Dunkelheit. Es ist jenes Dunkel, in dem die Gedanken und Träume ihren eigenen Weg gehen. In dem Dunkel verwandelt sich Krapp zum alten Mann, den die Erinnerungen wie Pulsschläge eines fremd gewordenen Lebens heimsuchen. Krapp will seine Vergangenheit abstreifen. Und doch befällt ihn eine abgründige Lust, noch einmal die alten Spulen hervorzukramen und einer Stimme zu lauschen, die mit ihrem hellen Klang wie aus einer anderen Epoche zu stammen scheint.
Gert Voss' Krapp hat nichts Wehmütiges und tröstet auch nicht mit dem bitteren Honig der Melancholie. Dieser Krapp ist ein in die Jahre gekommener Selbstdarsteller, der sich nicht mehr scheut, die Emotionen in einer radikalen Direktheit auszuleben. Gert Voss berührt in seiner Darstellung die Extreme eines Menschenlebens: Die sonderbare Zärtlichkeit der Banane gegenüber, die Krapp wie ein Kind liebkost, die Verzweiflung über die eigene Vergänglichkeit, der Hass auf sich selbst, der vage Gewinn der Sexualität, ein wildes, jähes Lachen über die eigenen Torheiten und die Angst vor dem Verlöschen. In diesem mehrfach gebrochenen Rückblick auf das eigene Leben geht Krapp gegen sich selbst mit einer ungestümen Grausamkeit vor. Einige Male fährt Gert Voss mit der flachen Hand horizontal durch die Luft, so als wollte er mit dieser impulsiven Handbewegung einen Schlussstrich über ein sinnlos vertanes Leben ziehen.
Die Aufführung, eine Gemeinschaftsproduktion von Ignaz Kirchner, Gert Voss und Monika Sessler im "Theater in der Josefstadt", dauert eine gute Stunde. Es ist die Stunde der Wahrheit. Eine Welt wird erschaffen, die von Aufbrüchen und Abstürzen bestimmt ist - usque ad finem. Gert Voss' Krapp ist ein Gehetzter, ein Mann, der in seine Wunden wie in offene Flanken eindringt. Wie sehr Krapps Ohr auch die Spule belauscht, so hat auch er nicht das Gehör, um die Dissonanzen und Diskontinuitäten seines eigenen Lebens zu verstehen. Der Atem pfeift wie ein scharfer Wind durch Krapps Körper. Im Schlussbild neigt Krapp seinen Kopf zur Seite, und aus dem Rachen ist ein grausam-feiner Ton zu hören, ein Atemgeräusch, das aus der schlimmsten Verzweiflung kommt. Eine letzte, bange Frage bricht aus dem starren Blick hervor: Wie oft muss mein Körper noch Atem holen?
Corinna Harfouch leidet als Semiramis in Hans Magnus Enzensbergers Tochter der Luft (nach Calderón de la Barcas Schauspiel) an Atemnot. Frank Castorf hat sie unter eine Plastikfolie gesteckt, aus der es zunächst kein Entkommen gibt. Semiramis tobt und wütet und geht über die schräge, abstrakte Bühnenlandschaft von Hartmut Meyer wie ein Fremdling, den die Götter fallen gelassen haben. Was diese Frau vorantreibt, welche Sehnsüchte ihr Leben bestimmen - all diese Fragen gehen in Frank Castorfs Eröffnungsinszenierung von Klaus Bachlers Burgtheater ziemlich schnell unter. Im zweiten Teil verliert sich Castorfs Gestus der Rebellion völlig, und die Inszenierung treibt von Bild zu Bild an ihr gemächliches Ende. Schwarze Musiker versuchen, der Aufführung ein wenig Leben einzuhauchen. Auf Aktualisierungen wird in manchen Szenen gesetzt. Andrea Clausen fleht als Schwester des Königs von Ninive darum, ihr zu helfen, den Reißverschluss zu schließen, und ein junger Mann aus der Gruppe der Musiker fällt in den extremen Wiener Dialekt, um sich mit nachlässiger Entrüstung über "a Gschichtl" zu mokieren.
Wahrscheinlich ist dem Intendanten der Volksbühne nicht viel Zeit geblieben, sich auf das Hans Magnus Enzensberger-Schauspiel einzulassen. Denn nach einer Erkrankung von Andrea Breth musste Klaus Bachler schnell einen renommierten Regisseur finden, mit dem er die neue Ära an der Burg eröffnen konnte.
Berlin ist in Wien stark vertreten. Das Burgtheater mutet wie eine Dépendance der alten Schaubühne an. Die Wanderschauspieler sind nach dem Ende einer großen Theaterära eine Station weitergezogen und versuchen nun ihr Glück in einem Land, in dem die Kunstfeindlichkeit durch Jörg Haiders rechte Politik immer mehr zunimmt. Nicht nur Andrea Breth, Elisabeth Orth, Peter Simonischek, Wolfgang Michael und Cornelius Obonaya gingen von der Schaubühne ans Burgtheater, im nächsten Frühjahr wird Jutta Lampe gemeinsam mit Gert Voss in Luc Bondys Möwe spielen. Außerdem wird Edith Clevers Elektra - am Beginn dieses Jahres wurde dieses Hofmannsthal-Stück an der Schaubühne erarbeitet - in Wien zu sehen sein. Und noch eine in Berlin abgespielte Inszenierung wird am Akademietheater, dem kleineren Haus der Burg, übernommen: Stephan Suschkes EVA - Hitlers Geliebte. Corinna Harfouch findet es wichtig, diese Arbeit im Österreich des Jörg Haider zu zeigen. In einem Interview hat sie erklärt, dass dieser Abend nach den Wahlen in Österreich für sie eine Herausforderung sei: "Die Österreicher haben sich ja die Opferrolle angeeignet und können mit einer ganz anderen, bereiten Frechheit an das Thema herangehen und die alten ÂWerte wieder hervorholen. In Deutschland gibt es doch ein ganz anderes Unrechtsbewusstsein. Wenn ich aber in Österreich bin, frage ich mich immer, wo denn die Haider-Wähler - immerhin jeder dritte - sind. Bei mir hat sich noch keiner vorgestellt. Er greift sehr geschickt das Schwammige und Wütende in einem auf. Das wirkt sehr gut in dieser Zeit der Müdigkeit und diffusen Angst." Eva Braun interessiert Corinna Harfouch als "exemplarischer Fall, als eine Frau unter vielen. Ihr ganzes Leben ist ungeheuer typisch für die Mechanismen, die das System Hitler so lange an der Macht gehalten haben: Sie war Mittäterin, weil sie das System toleriert hat. Eine wie wir alle also."
Klaus Bachler hat den rumänischen Regisseur Silviu Purcarete vor ein paar Jahren als Festwochen-Direktor für Wien entdeckt. Bei Purcaretes Bakchen des Euripides (in der Bearbeitung von Raoul Schrott) ist das Regiekonzept leider nicht aufgegangen. Die Aufführung spannt zwar den Bogen zwischen Antike und Moderne, aber sonderlich glaubhaft sind die emotionalen Verstrickungen von Dionysos (Sylvie Rohrer) und Pentheus (Nicholas Ofczarek), der beiden großen Gegenspieler, nicht. Ein äußerlicher Ton hat sich in die Inszenierung eingeschlichen. Man merkt der Aufführung Purcaretes Anstrengung an, in diesem gewaltigen Werk neue Zugänge zu erschließen. Es gibt in Purcaretes Inszenierung Bilder von einer poetischen Imagination, aber sie verlieren sich, weil die Aufführung von einem Mangel an Kohärenz gezeichnet ist.
In Klaus Michaels Grübers Bakchen-Inszenierung an der Schaubühne 1974 war Dionysos (Michael König) ein einsamer Gott, völlig gefangen in einer narzisstischen Weltbetrachtung. Mehrmals wiederholte König am Beginn der Aufführung ein "Ich". Die Welt drehte sich für Michael Königs Dionysos nur um das eigene Ich. Die rauschhafte Existenzform, das dionysische Element, hat Grüber als eine enorme Destruktivität gezeigt, die andere Menschen mit in den Abgrund reißt. Purcaretes Bearbeitung ist trotz aller blutiger Gemetzel eine seltsam spannungslose Angelegenheit. Je ingrimmiger Agaue (Kirsten Dene) wütet und über die eigene Tötung ihres Sohnes Pentheus mit expressivem Furor trauert, desto stärker spürt man eine leere Distanz zu Euripides' Tragödie.
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