Prag klingelt

Alltag Die Kaffeehauskultur der Metropole wandelt sich gewaltig. Doch wo stecken heute die Literaten?

Wohin würde Egonek wohl heute gehen, nach Redaktionsschluss, um sich ein Kaffeehaus für die Nacht zu suchen? Natürlich zunächst ins Arco, wie immer, wenn es ihn zu denen zog, die man später als Prager Kreis bezeichnete.

"Das Café Arco war ein elegantes Etablissement mit großen Spiegeln", berichtete der Erzähler und Bühnenautor Frantisek Langer als Zeitzeuge, "hier trafen sich die deutschen Schriftsteller Werfel, der damals Verse schrieb, Kafka, der gerade seinen ersten Roman herausgegeben hatte und eine Zeit quälender Zweifel an seiner schriftstellerischen Begabung durchmachte, Max Brod, Egon Erwin Kisch, der schon damals das ganze nächtliche Prag kannte, Pick und Leppin. Von den Malern kamen regelmäßig Feigl, Nowak, Kars, Justitz und andere."

Käme Egonek heute ins Arco, würde er sogleich an die vielen Begegnungen erinnert werden. Am Eingang rufen meterhohe Stellwände mit Texten in tschechischer Sprache und alten Fotos die Namen derer ins Gedächtnis zurück, die im Gebäude Hybernská Nummer 16 einen Großteil ihres Lebens verbrachten. Ohne diese sperrigen Requisiten würde der Besucher allerdings vermuten, dass er ein Immobilien-Büro betritt.

Innen riecht es noch immer ein wenig nach Farbe, das Arco wurde erst kürzlich wiedereröffnet. Zur Wende war es ein klassisches Restaurace mit gulás und knedlíky auf der Speisekarte. Und für unverhofft eintretende Ausländer ließ der Wirt zu später Stunde auch ungefragt mal schnell ein Mädchen von nebenan kommen. Danach vertrieben sich hier zwielichtige Figuren unter Neonlicht die Zeit, für eine Schandtat stets zu haben.

Nun will das Arco wieder eine normale moderne Kavárna sein. Schlichtes gediegenes Interieur, neue Möbel, junge Ober. Doch es versprüht nur noch den Charme eines Eisenbahn-Abteils. Und schon gegen 21.30 Uhr hätte sich Egonek nach einem anderen Café umzuschauen, denn dann schließt das Arco regelmäßig.

Prag habe eine Kaffeehauskultur von europäischen Maßstäben, die nur noch von Wien übertroffen werde, bemerken Reiseführer stereotyp. Damit versuchen sie, die Erinnerung an die literarischen Kaffeehäuser wach zu halten, die in Prag in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Treffpunkt für viele Künstler waren.

"Im Kaffeehaus wird geschrieben, korrigiert, geredet. Im Kaffeehaus spielen sich Familienszenen ab, im Kaffeehaus wird geweint und über das Leben und auf das Leben geschimpft. Im Kaffeehaus isst man auf Pump, im Kaffeehaus werden die halsbrecherischsten Geldtransaktionen vorgenommen. Im Kaffeehaus wird gelebt, gefaulenzt, die Zeit totgeschlagen", beschrieb die tschechische Publizistin Milena Jesenská das Eigenleben jener Orte, an denen ihre Freundschaft mit Franz Kafka begann.

Doch wie in anderen Großstädten, so haben nun auch in Prag immer mehr Espresso-Bars aus Chrom und Stahl die klassischen Kaffeehäuser verdrängt. Viele, nicht alle, vermitteln einen schnelllebigen und seelenlosen Eindruck.

In der Rytirská, wo Mozart auf dem Weg von seiner Wohnung ins nahe Ständetheater oft in der Blauen Weintraube auf eine Tasse Kaffee einzukehren pflegte, verzichtet eines dieser neuzeitigen Cafés sogar auf einen eigenen Namen. Trotzdem oder vielleicht auch gerade deshalb ist das café-café in aller Munde. Vor allem die jeunesse dorée der Stadt schätzt das nackte Backstein-Interieur als äußerst "trendy".

Selbst die ältesten Kaffeehäuser wie das Savoy, schon 1887 bei der umfassenden Neugestaltung der gesamten Straße im Stil des Klassizismus und Historismus entstanden, können oder wollen sich dem Zeitgeist nicht gänzlich verschließen. Zwischen der kunstvollen Holzdecke und den sterilen weißen Bodenfliesen wirkt sein großer Saal heute merkwürdig kühl und blutleer. Niemand würde wagen, hier ein lautes Wort zu sprechen. Waren Kaffeehäuser früher oft genug "so etwas wie ein Fechtboden, auf dem man seine Florettkämpfe bestritt, nicht selten aber auch zum Säbel griff", wie der Buchautor Karl-Heinz Jähn rückblickend feststellte, so erscheinen an diesem Ort heute heftige Debatten über Ideologien und Philosophien völlig unvorstellbar.

Gegenüber dem Savoy, auf den anderen Seite der Legii-Brücke, liegt das Slavia, eine Institution unter den Prager Kaffeehäusern, dem nicht wenige Schriftsteller selbst literarische Denkmäler setzten. Bis 1997 blieb es ein Spekulationsobjekt amerikanischer Geschäftemacher, bevor es nach massiven Interventionen, nicht zuletzt von Vaclav Havel, seine Türe neu öffnete.

Das Slavia war das wichtigste Kaffeehaus des "Devetsil", einer Künstlervereinigung zwischen den Kriegen, die dem Kunstleben in der damaligen Tschechoslowakei gewichtige Impulse verlieh. Viele Schauspieler gingen hier ein und aus und zur Osterzeit sollen Theaterdirektoren aus dem ganzen Land im Slavia ihre Engagements für die neue Spielzeit abgeschlossen haben.

"Dort saßen wir an einem Fenster zur Uferstraße und tranken Absinth. Das war ein wenig Koketterie mit Paris", erinnerte der tschechische Nobelpreisträger Jaroslav Seifert daran, dass Paris für viele Prager Künstler der damaligen Zeit den Inbegriff allen Schaffens und Lebens bildete und für nicht wenige ein alljährliches Pilgerziel.

Der Absinth wird nun in Südböhmen hergestellt und heute wieder im Slavia ausgeschenkt. Doch statt der Künstler bestellen ihn vor allem Touristen aus aller Herren Länder, die sich durch enge Stuhlreihen zwängen und auf einen Platz an den großen Fenstern hoffen, um von hier aus den herrlichen Blick über die Moldau auf die Burg genießen zu können.

Immer noch existiert auch das Louvre in der Nationalstraße, das 1948 von Kommunisten konfisziert worden war, die seine Einrichtung vom ersten Stock kurzerhand auf die Straße geworfen hatten, um Platz für Büroräume zu schaffen.

Nach der Wende hieß es zunächst Gany´s, nach dem griechischen Götterkellner Ganymed, nun versucht das Louvre mit einer Kombination aus Kaffeehaus, Restaurant und Billard-Saal wieder die Prager Couleur des Wiener-Kaffeehaus-Charmes auszuspielen.

Beinahe trotzig behauptet sich ein paar Schritte weiter das Café Europa im gleichnamigen Hotel am Wenzelsplatz. Sein Jugendstil-Ambiente hat längst Patina angesetzt, von den Wänden blättert Farbe und auf den Teppichen haben Legionen von Besuchern sichtbar ihre Spuren hinterlassen. Trotzdem überwindet es scheinbar mit stoischer Gelassenheit alle Zeitläufe.

Nach wie vor klimpert ein Klavierspieler nachmittags wohlvertraute Weisen, denen schon in den zwanziger Jahren fortschrittliche Frauen mit Kurzhaarschnitten lauschten. Und wie eh und je vermitteln die Kellner den Eindruck von selbstbewussten und manchmal auch etwas störrischen Gastgebern.

Viele Kaffeehäuser aus den Zwischenkriegsjahren sind sang- und klanglos untergegangen, und auch manchem Kaffeehaus, das erst nach der politischen Wende von 1989 gegründet worden war, blieb nur ein kurzes Leben beschieden. So würde Kisch nun vergebens nach der Kavárna in der Zelezná vor dem Altstädter Ring suchen, die für eine Weile seinen Namen trug. Schon seit langem werden dort langweilige Schmuck-Imitationen verkauft, ein rentierlicheres Geschäft.

Egonek, Egon Erwin Kisch, war Zeit seines Lebens ein moderner Mensch. Wahrscheinlich würden ihm Computer heute weder als Bedrohung noch als Allheilmittel erscheinen, sondern lediglich als nützliches Mittel zum Zweck umfassender Informationsgewinnung und zur Erfassung seiner unzähligen Texte für immer neue Artikel und Bücher.

Deshalb würde er nun vielleicht nach der Sperrstunde im Arco einfach um die Ecke wechseln, ins nahe Internet-Café Spika, wo noch nach Mitternacht junge Tschechen - und manchmal auch Ausländer - nach der Welt von morgen suchen. Für 25 Kronen, umgerechnet 1,50 Mark, gehört diese Welt ihnen, zumindest eine Viertelstunde lang.

Wie einst Kisch und seine Freunde verbringen nun auch sie Stunde um Stunde im Café, allerdings ohne lautstark miteinander zu diskutieren, sondern ganz allein für sich unter Kopfhörern und vor 17-Zoll-Monitoren eines amerikanischen Weltkonzerns, mit einem Glas Cola in der Hand.

Eher störend wirken in diesem Raum die Bar und die Bedienung. 16 PCs stehen bereit, und obwohl zwei weitere Internet-Cafés nur einen kurzen Fußmarsch entfernt liegen, sind die Computer oftmals stundenlang blockiert.

Prag ist international geworden. Und hektisch. Prag klingelt. In kaum einem anderen europäischen Land sind so viele Handys in Gebrauch wie hier. Das bekommen Gäste im Café Colonial in der Josefstadt zu hören. Bis vor vier Jahren dienten seine Räume als Reisebüro und wie in einem Bienenhaus schwirren die Besucher noch immer ein und aus.

Während französische Studenten am rechten Nebentisch über günstige Einkaufsmöglichkeiten parlieren, räumt ein englischer Geschäftsmann auf der linken Seite seinem tschechischen Gast gerade mal eine Minute für ein Gespräch ein, um gleichzeitig fortwährend in sein Mobiltelefon zu brüllen. Der Geruch eines original Schweizer Fondues vermischt sich mit Kaffeeduft, denn Restaurant und Café gehen stufenlos ineinander über.

Und die Künstler? Sie beschreiten individuelle Wege. Jeder hat seinen eigenen Treffpunkt, um Freunden zu begegnen und sich inspirieren zu lassen. Oder man geht lieber in seine Bierkneipe statt ins Kaffeehaus. Trend ist, dass man sich keinem allgemeingültigen Trend mehr verpflichtet fühlt.

Doch "in Prag kann man noch immer mit offenen Augen träumen", wie erst kürzlich die deutsch-tschechische Schriftstellerin Lenka Reinerová schrieb. Und eine Einrichtung dafür fände Kisch auch heute noch, würde er anstatt ins Internet-Café in die andere Richtung gehen, am Masaryk-Bahnhof vorbei bis zu Na porící 15.

Acht Jahre lang war das Café Imperial dort geschlossen, nun ist hinter einer rußgeschwärzten Fassade wieder diese eigenartige Atmosphäre zu erleben, "wo sich - da aus Pietät nicht gelüftet wird - der Atem von Literaten und Künstlergenerationen staut." Mit seinen weißen, braunen und blauen Kachel-Mosaiken an den Decken und seinen Keramik-Säulen entfaltet es einladende Pracht, mühelos hat das Imperial die Tradition der alten Kaffeehäuser aus der Donaumonarchie in die neue Zeit hinübergerettet.

Nicht nur Künstler, sondern auch Börsenmakler und Handelsagenten suchten nach Beobachtungen des Architekten Karel Honzík früher das Imperial auf. So bunt wie in den zwanziger Jahren ist auch heute noch die Klientel. Rucksack-Touristen aus den USA wälzen ihre Reiseführer und alte Pragerinnen schwärmen bei Kaffee und Strudl mit Schlagsahne von früheren Zeiten. Zugleich nutzen melancholische Einzelgänger den Ort, um mit den Worten des österreichischen Literaten Peter Altenberg "die unnötig nötige Verlogenheit des Tages und der Stunde" zu vergessen.

Ein spezielles Angebot hält die Speisekarte parat: Für genau 1.943 Kronen eine Schüssel voller Krapfen vom gestrigen Tag, die auf andere Besucher geworfen werden dürfen. "Natürlich nur ein Scherz", sagt der Ober, "aber wenn Sie es unbedingt wünschen." Gut möglich, dass Egonek hier bis zum frühen Morgen bleiben würde.

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