Der Volkstribun als "Volksverräter"

Brasilien In den ersten sechs Monaten seiner Amtszeit hat Präsident "Lula" da Silva erst einmal viel politisches Kapital verspielt

Wenn bis 2007 jeder Brasilianer drei Mahlzeiten am Tag auf dem Tisch habe, dann betrachte er die Mission seines Lebens und seiner Präsidentschaft als erfüllt, hatte Luiz Inácio "Lula" da Silva am 1. Januar 2003 bei seiner Vereidigung als Präsident Brasiliens erklärt. Im Wahlkampf seines Partido dos Trabalhadores (Arbeiterpartei/PT) war bis dahin stets von 50 Millionen Hungernden die Rede gewesen, denen sofort geholfen werden müsse. Sechs Monate später geht die Mitte-Links-Regierung nur noch von 15 Millionen "extrem Hilfsbedürftigen" aus. Woher diese wundersame Verminderung?

Weil der ganze Subkontinent auf uns blickt und wir der Hoffnungsträger aller Lateinamerikaner sind, haben wir nicht das Recht zu scheitern." Es ist dieses am ersten Tag seiner Präsidentschaft formulierte Credo des "Lula" da Silva, das ihm - man muss wohl sagen: erwartungsgemäß - zur Bürde wird. Die ersten sechs Monate seiner Regierung waren mit Erwartungen überfrachtet und von der Frage überlagert, ob der ehemalige Gewerkschaftsführer und erklärte Sozialist seinem Anspruch gerecht werden kann. Gibt es Lula, das Paradigma, auch in der so lange und so lange vergeblich erstrebten politischen Verantwortung? Die Kritiker schütteln den Kopf, die Pessimisten wollen Recht behalten haben - die Skeptiker sehen sich in ihren schlimmsten Erwartungen bestätigt. Anders als im Wahlkampf versprochen, habe der Präsident den Kurs seines Amtsvorgängers Fernando Henrique Cardoso fortgesetzt, die Banken und das spekulative Kapital begünstigt, wenig gegen die Massenarbeitslosigkeit und das Wuchern der Slums getan - er habe sich den neoliberalen Dogmen eben doch unterworfen.

Was davon auch immer zutreffen mag, augenblicklich steuert das Tropenland einer Rezession entgegen, die zu Beginn des Jahres so nicht absehbar war und extensiver Sozialpolitik zusätzliche budgetäre Grenzen setzt. Der Präsident lässt in dieser Situation höchste Vorsicht walten, will eine Haushaltspolitik des Verzichts nicht durch eine großzügige Sozialpolitik flankieren und gibt sich derart moderat, dass seine schon während des Wahlkampfes wundersam schrumpfende Gegnerschaft nun vollends die Konsenstrommeln rührt.

Auch bleibt verhalten-appellativer Beifall von der anderen Seite nicht aus - George W. Bush und IWF-Direktor Horst Köhler gratulierten ihm bei seiner jüngsten Washington-Visite ausdrücklich zu einer "beispielgebenden und erfolgreichen Wirtschaftspolitik". In Brasilien vergeht kaum noch ein Tag ohne öffentlichen Protest gegen diesen "beispielgebenden und erfolgreichen" Kurs. Weil die von der Arbeiterpartei (PT) versprochene Agrarreform bislang ausbleibt und ungenutzter Großgrundbesitz keineswegs wie erhofft verteilt wird, sorgt allein schon die bestens organisierte Landlosen-Bewegung MST mit täglichen neuen Fazenda-Besetzungen dafür, dass die Regierung den Druck von unten spürt.

Ist man an der Macht, gewöhnt man sich sogar an die Straßenkinder

Lula, der ausgerechnet den zwielichtigen Milliardär und Großunternehmer José Alencar aus der rechtspopulistischen Sektenpartei Partido Liberal (PL) zu seinem Vizepräsidenten erhob, wird inzwischen in diversen Medien, die jeglicher Sympathien für linke Reformpolitik unverdächtig sind, genüsslich mit dem Etikett "Volksverräter", "Wahlbetrüger" und "Falschspieler" versehen. Man übernehme nur, was in der Regierungspartei selbst an Enttäuschung und Frust kursierte. Tatsächlich artikuliert sich - auch hier muss man sagen: erwartungsgemäß - die schärfste Kritik am Präsidenten und seinem Führungszirkel in den eigenen Reihen. Bildungsminister Cristovam Buarque - ein angesehener PT-Intellektueller - beobachtet eine "erkennbare Indifferenz gegenüber dem Leiden des Volkes". "Die soziale Tragödie Brasiliens" werde inzwischen mehr und mehr toleriert. Wenn man an der Macht sei, gewöhne man sich sogar an die Straßenkinder. "Ist die Indifferenz einmal da, bleibt sie auch und ist unheilbar, sie empfiehlt sich als bester Verbündeter der Bürokratie." Buarques Fazit: Indifferenz und Bürokratie können eine Regierung paralysieren.

Der Minister will nicht gelten lassen, dass die mit viel Furor und Empathie angekündigten Fortschritte im Kampf gegen Elend und Hunger wegen des fehlendes Budgets nun ausbleiben. "Ich bin überzeugt, die nötigen Gelder sind vorhanden." Andere Intellektuelle vom linken Flügel der Arbeiterpartei bescheinigen "Lula" in einem "Protest-Manifest", nicht einem Mitte-Links-, sondern einem Mitte-Rechts-Kabinett vorzustehen und das Wahlprogramm des PT durch den Reißwolf gejagt zu haben. Sie rufen einen Vorgang als Kronzeugen auf, der für Aufsehen sorgt: Im Mai wurde die Zahl der landesweit Hungernden überraschend nach unten korrigiert - 50 Millionen waren es noch im Wahlkampf, 15 Millionen sind es jetzt -, da wird der Spagat zwischen Sozial- und Haushaltspolitik zur Zerreißprobe.

Vehementer noch als diese merkwürdigen Korrekturen und die politische Allianz mit den traditionellen Oligarchien wird innerhalb des PT die Wirtschaftspolitik der Regierung attackiert. Im Januar, nur wenige Tage nach "Lulas" Amtsübernahme, waren die ohnehin extrem hohen Leitzinsen (die höchsten der Welt) um 1,5 auf 26,5 Prozent angehoben worden. Daraufhin rollte eine Entlassungswelle, mit der die Regierung offenbar nicht gerechnet hatte. Allein im Groß- und Einzelhandel Sao Paulos verloren zwischen Februar und Mai 74.000 Menschen ihren Arbeitsplatz, was entscheidend darauf zurückzuführen sein dürfte, dass Unternehmen für Kredite derzeit bis zu 70 Prozent Zinsen zahlen. Dabei hatten Lula und seine Equipe noch Ende 2002 angekündigt, die Leitzinsen unverzüglich senken zu wollen.

In Brasilien wird eine maximale Arbeitslosenhilfe von umgerechnet 125 Euro für höchstens fünf Monate nur an ursprünglich fest angestellte Arbeitnehmer gezahlt - inzwischen die absolute Minderheit unter den Beschäftigten. Durch jedes Prozent Zinsanhebung, so Wirtschaftsanalysten, drohe allein in Sao Paulo, der Industrielokomotive Lateinamerikas, etwa 40.000 Brasilianern die Kündigung. Ohnehin verzeichnete der nationale Arbeitsmarkt im Vorjahr die schlechtsten Ergebnisse seit 22 Jahren. Nicht allein dass die Erwerbslosenquote explosionsartig anstieg, über 50 Prozent aller Erwerbspersonen finden nur noch im informellen Sektor Beschäftigung - ohne jede soziale Absicherung.

"Wir sind bereits mitten in einer klassischen Rezession", glaubt Reinaldo Gonçalves, Wirtschaftsprofessor an der Universität von Rio, der zusammen mit anderen PT-Experten ebenfalls ein Manifest gegen Lulas "Neoliberalismo" verfasst hat. Dass die Leitzinsen Ende Juni wenigstens um ein halbes Prozent gesenkt wurden, nennt der Industriellenverband völlig unzureichend - die Rezession sei damit nicht aufzuhalten. In Sao Paulo, der reichsten und zugleich von unglaublichen Sozialkontrasten gezeichneten Stadt, gewähren Besitzer von Billigläden ihrer Kundschaft aus den riesigen Slums derzeit Ratenzahlungen bei Artikeln, die umgerechnet weniger als einen Euro kosten.

"Radikale, Rebellen, und Revoluzzer" will die PT-Spitze gern abstoßen

Von den ansässigen Geldinstituten profitiert indessen die nordamerikanische Boston Bank am meisten von Lulas Zinspolitik, sie konnte im ersten Halbjahr ihren Gewinn erneut auf Rekordhöhe treiben. Ihr einstiger Präsident Henrique Meirelles wurde vom "Lula" zum Zentralbankchef berufen, was besonders die PT-Linke in Rage versetzt hat. Weil der brasilianische Staat Schuldner der Boston Bank sei, so der Kongressabgeordnete Joao Batista Oliveira, müsse Multimillionär Meirelles seinen Schlüsselposten räumen. Meirelles bleibt natürlich - aber die schärfsten innerparteilichen Kritiker, die als "Radikale, Rebellen, und Revoluzzer" geschmähten Politiker, will die PT-Spitze gern abstoßen, droht mit Ausschlussverfahren und relegiert sie aus Parlamentsausschüssen. Für Parteichef Josè Dirceu will "diese Opposition von links" lediglich der Rechten zu Diensten sein. "Die Rechte ist doch längst in der Regierung", bekommt er zu hören.

Der Präsident selbst verteidigt sich mit dem Argument, ein völlig heruntergewirtschaftetes, bankrottes Land übernommen zu haben, erst einmal aufräumen zu müssen, das Vertrauen der Märkte zu benötigen. Zudem sei Regieren schwieriger als gedacht. Dass im Juni ein Offizier seiner Leibwache von Unbekannten erschossen wurde, gilt dabei weniger als Indiz für eine wachsende Empörung, die sich in Attentaten Luft macht, sondern für die prekäre innere Sicherheit. Auch Lula überlässt Millionen von Slumbewohnern dem brutalen Terror hochbewaffneter, neofeudaler Milizen des global vernetzten Verbrechens, die immer wieder Menschen zur Abschreckung lebendig verbrennen lassen. Brasiliens "unerklärter Bürgerkrieg" kostet jährlich weit über 40.000 Menschen das Leben - neuerdings attackieren die urbanen Warlords in Rio sogar Armeekasernen. Eine großangelegte Gegenaktionen der Streitkräfte, wie sie auch der Kongress immer wieder fordert, lehnt die Regierung bisher ab.

Wodurch kommt Lula auf einmal zu seinen neoliberalen Einsichten? "Lula und Tony Blair haben in mancher Hinsicht gleiche Vorstellungen", meinte der britische Botschafter in Brasilia. Gute Beziehungen der Führung des PT zur Sozialistischen Internationale habe es schon immer gegeben. Auf jeden Fall hat Lula zunächst einmal viel politisches Kapital verspielt, das ihm vor allem dann fehlen dürfte, wenn mit der andauernden Rezession der konjunkturelle Tiefpunkt noch bevorsteht.


Alle ins Boot holen

Lulas Kabinett: Spagat zwischen Sozialpolitik und Wirtschaftsliberalität

Von den 26 Ministern, die am 1. Januar 2003 zusammen mit dem neuen Präsidenten vereidigt wurden, gehören nur 13 dem Partido dos Trabalhadores (PT) an, die Koalitionsparteien - der Partido Liberal (PL) und der Partido do Movimento Democrático Brasileiro (PMDB) - verfügen über sieben Ressorts, sechs Minister sind parteilos. Unter anderem trifft das auf Außenminister Celso Amorin zu, der zuletzt Botschafter seines Landes in London war. Unter den Präsidenten Collor de Mello und Itamar Franco war Amorin zwischen 1991 und 1994 schon einmal für die auswärtigen Beziehungen zuständig und bemühte sich während dieser Zeit besonders um den Gemeinsamen Markt (MERCOSUR) mit Argentinien, Uruguay und Paraguay - danach arbeitete er bis 1999 für die Welthandelsorganisation (WTO).

Die PT-Minister sind fast ausnahmslos für die klassischen Sozialressorts Ernährung, Arbeit, Gesundheit, Infrastruktur, Bildung und Sozialversicherung berufen worden - ebenfalls dem PT zuerkannt wurde das jetzt deutlich aufgewertete Ministerium für Agrarreform. In der Wirtschaftspolitik hat "Lula" hingegen von Anfang an auf unabhängige Experten gesetzt - so ging das Schlüsselressort eines Ministers für Entwicklung, Industrie und Außenhandel an Luiz Fernando Furlan, einen Unternehmer aus Sao Paulo. Präsident der brasilianischen Zentralbank (ebenfalls im Ministerrang) wurde Henrique Meirelles, der zuletzt als erster Ausländer an der Spitze des Managements der nordamerikanischen Boston Bank stand. Eher dem rechten Parteiflügel des PT werden Planungsminister Guido Mantega und Finanzminister Antonio Palocci gerechnet, der bis zu "Lulas" Wahlsieg Bürgermeister von Jacarei war, einer Stadt des Bundesstaates Sao Paulo.

J.M.S.

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