Streichholz für die Mikrowelle

Brasilien Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) hat untersucht, welche Chancen Slumkinder aus Sao Paulo oder Rio auf dem Arbeitsmarkt der Verbrechersyndikate haben

Im Gassenlabyrinth seiner Favela gehört die Microonda - die "Mikrowelle" - für den dreizehnjährigen Joao zum Job: Die Opfer werden angebunden, Autoreifen bis in Kopfhöhe darüber gestülpt, Benzin fließt aus einem Kanister - schließlich das Streichholz, dann lodert der Scheiterhaufen. Joao ist Herr über Leben und Tod. Barfuss, nur mit Shorts bekleidet, am Gürtel zwei Handgranaten und eine Pistole in der Hand, meldet er über ein Sprechfunkgerät den Vollzug der Exekution. Danach teilt ihn sein Arbeitgeber - Brasiliens mächtiges Verbrechersyndikat Comando Vermelho (CV/Rotes Kommando) - zur Bewachung eines Drogendepots, später zur Patrouille durch verschiedene Favelas ein.
Der Mindestlohn in Brasilien liegt bei derzeit umgerechnet 90 Dollar im Monat - Joao kommt auf weit mehr als 400 und kann damit eine Großfamilie unterhalten, in der die meisten arbeitslos sind, weder lesen noch schreiben können und bisher in ihrem Universum des Elends nur überlebt haben, weil Joao schon mit zehn ein guter Schütze war. "Wenn sich ein Polizist mit mir anlegt, feuere ich zuerst." Leute durch Kugeln oder die Microonda sterben zu sehen, gehört zu seinem Berufsalltag.

Mit einer Rasierklinge ins Fleisch


Erstaunlich spät wollte jetzt die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) in Genf genauer wissen, wie diese Art von Kinderarbeit in der immerhin achtgrößten Wirtschaftsnation der Welt funktioniert, welche Motive die Minderjährigen antreiben. Auffälligstes Resultat: Obwohl es in Millionenstädten wie Rio de Janeiro inzwischen Schulen für Slumkinder gibt, hat das die Attraktivität eines Erwerbslebens im organisierten Verbrechens nicht vermindert. In 52 Slums von Rio waren die ILO-Experten unterwegs und hörten immer das Gleiche: "Warum soll ich jahrelang zur Schule gehen, wenn mir das später weder beruflichen noch finanziellen Nutzen bringt und ich hier nicht rauskomme?" Der Unterricht in den Favelas hat ein extrem niedriges Niveau - kein Vergleich mit den für die Unterprivilegierten unerschwinglichen Privatschulen, in denen die Kinder der Mittel- und Oberschicht darauf vorbereitet werden, später die Erwartungen ihres Milieus nicht zu enttäuschen.
Auch aus offiziellen Statistiken der Mitte-Rechts-Regierung des Ehrendoktors der Freien Universität Berlin, Fernando Henrique Cardoso, lässt sich ersehen, dass die Hälfte der Sechs- bis Fünfzehnjährigen in den rund 800 Slums von Rio ohne Bildung und damit ohne Lebensperspektive aufwächst. Eine vorzügliche Reservearmee des Verbrechens. Die ILO-Studie vermerkt. "Etwa 90 Prozent der Befragten rauchen Haschisch, aber nur 15 Prozent nehmen Kokain. Die Kinder geben an, die Drogen würden sie beruhigen, aber klares Denken verhindern, sie könnten daher bei der Arbeit stören." Dass die Verbrechersyndikate Kinder rekrutieren, sei ein neues Phänomen, behauptet die ILO, Derartiges habe es vor 1995 noch nicht gegeben. Ein krasser Irrtum. Spätestens seit Mitte der achtziger Jahre setzen Comando Vermelho und andere Netzwerke Straßenkinder ein.
Auch Yvonne Bezerra de Mello, Künstlerin, verheiratet mit dem schwerreichen Besitzer der Othon-Hotelkette, weiß es besser. Sie widmet sich seit Jahrzehnten den Straßenkindern von Rio, wurde zur Sozialexpertin, schreibt systemkritische Bücher, spricht auf internationalen Konferenzen. Sie weiß, was mit Minderjährigen passiert, die bei kriminellen Aktionen, weil sie drogensüchtig sind, statt des Gewinns für Verluste sorgen. "Diese Kinder werden eliminiert, die Leichen lässt man verschwinden. In den Slums gibt es genügend Ställe mit Schweinen - mehr muss ich nicht sagen. Oft passiert es, dass ein Junge - gerade 13 oder jünger - dem an einen Pfahl gefesselten Opfer mit einer Rasierklinge solange ins Fleisch schneiden muss, bis es stirbt. Das geschieht oft vor aller Augen, denn es geschieht vor allem zur Einschüchterung der Slumbewohner."
Weil ihr diese gern verdrängte Realität Brasiliens bestens vertraut ist, kennt sich Bezerra de Mello auch mit den Waffen der Soldados do Morro aus. "Wenn mir hier in Rio ein Schweizer etwas über die Neutralität seines Landes erzählt, lache ich laut auf. Die hochmodernen schweizerischen Sig-Sauer-Sturmgewehre werden von den Syndikaten am meisten importiert. Die Schweiz verstand es immer schon, vom Elend anderer zu profitieren ... "
Yvonne Bezerra de Mello weiß auch um die anderen Normendiktate von "Rios Taleban", wie sie sagt. Diebstahl werde mit Handabhacken bestraft, bei Vergewaltigungen drohten Kastration oder die Microonda. Jedermann müsse bei Razzien Drogen, Waffen, Raubgut oder Mitglieder der Syndikate verstecken und die von diesen verhängten Ausgangssperren einhalten. Jeder müsse über das Innenleben der Slums schweigen können. Wer dagegen verstoße, schwebe in tödlicher Gefahr.
Über das Geflecht von Politik, Wirtschaft und organisiertem Verbrechen weiß sie ebenfalls mehr als genug: "Die eigentlichen Bosse wohnen nicht in den Slums, sondern in den Nobelvierteln Rios, die wirklichen Arbeitgeber der Kindersoldaten bleiben unangetastet."

Slumbewohner werden zu Geiseln


40.000 Menschen wurden im vergangenen Jahr in Brasilien ermordet, im Durchschnitt 109 pro Tag, die meisten davon in den übervölkerten Favelas. "Die Slumbewohner werden zu Geiseln der Bandenmilizen - sie werden unterdrückt, weil sie der Staat in ihrem Elend verkommen lässt und schlichtweg abwesend ist", beschreibt Marcelo Itagiba, Chef der Bundespolizei in der Zehn-Millionen-Metropole Rio de Janeiro, deren Bruttosozialprodukt immerhin das von ganz Chile übertrifft, die Situation. Die national verflochtenen Gangstersyndikate reklamieren den rechtsfreien Raum der Favelas als Hoheitsgebiet. Niemand stört sie bei der Rekrutierung von Kindern und Jugendlichen aus verarmten, entwurzelten Familien. Niemand stört sie bei den Akten archaischer Selbstjustiz. Niemand vermisst deren Opfer. Hier findet im 21. Jahrhundert eine von Elend und sozialer Deklassierung gespeiste Selbstverteidigungskriminalität statt, wie sie Victor Hugo einst für das Frankreich des 19. Jahrhunderts beschrieben hat.
Selbst Brasiliens Bischofskonferenz prangert an, dass in den Slums "eine ganze Generationen von Minderjährigen mit völlig verzerrten ethisch-moralischen Werten aufwächst", deren Schicksal eines der gravierendsten Menschenrechtsprobleme der Gegenwart sei.
Allerdings hat das Thema ausgesorgt, wenn Gäste wie Prinz Charles Mitte des Monats in Rio einfliegen und auch den Favelas von Rio einen Besuch abstatten wollen. Dann umtanzen ihn Karnevalsmulattinnen, und es gibt viel zu sehen.

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