Ballett kann kämpfen

Politik und Theater II Mit "Picasso" nimmt Johann Kresnik Abschied von der Volksbühne in Berlin, bleibt seiner Ästhetik des Aufrüttelns aber treu

An der Volksbühne in Berlin geht in diesen Tagen eine Ära zu Ende: die Ära Kresnik. Lange hatte man sich Anfang der neunziger Jahre darum bemüht, Johann Kresnik nach Berlin zu holen, und 1994, nach seinen Stationen in Bremen (1968 bis 1979), Heidelberg (ab 1980) und noch einmal Bremen kam er dann endlich. Acht Jahre lang hat er mit seinem Choreografischen Theater politische Themen auf die Tanzbühne gebracht. Von Anfang an haben seine Stücke heiße Kontroversen ausgelöst. Besonders die explizit politischen wie Ernst Jünger (1995), in dem er dessen pathetische Verklärung des Krieges bloßlegt, oder Hotel Lux (1998), einer schonungslosen Abrechnung mit dem totalitären System des Stalinismus. Doch es gab auch kritische Stimmen jenseits des politischen Standpunktes, die seine psychologischen Analysen häufig als zu oberflächlich empfanden. Kresnik sah in solchen Auseinandersetzungen seine Absicht erreicht: "Das Theater hat die Funktion, politisch und gesellschaftskritisch aufmerksam zu machen." Als eines seiner großartigsten Stücke entstand in der Zeit an der Volksbühne Goya (1999), ein Stück, das sowohl choreografisch als auch inhaltlich ausnahmsweise einmal von allen Seiten Zustimmung erhalten hat.

Das bürgerliche Lager, allen voran die Springer-Presse, hat Kresnik nie gemocht und daraus auch nie einen Hehl gemacht. Zu viel Blut, zu viel Fäkalien, zu viel Nacktheit, zu viel Genitalien auf der Bühne. Das löste Ekel aus, und das war beabsichtigt von Kresnik, denn nur der Ekel setzt Selbstreinigungskräfte in Gang. Auch in seinem neuen Stück Picasso, seinem letzten an der Volksbühne, fließt Blut. Dort stülpt sich Picasso einen abgeschlagenen Pferdekopf, der wie sein Anti-Kriegsbild Guernica die grausige Zeit des spanischen Bürgerkriegs symbolisiert, über den Kopf und zieht ihn bluttriefend heraus. Den klinisch reinen TV-Kriegsbildern stellt der Pazifist Kresnik in seinen Stücken immer wieder die Schrecken des Krieges deutlich gegenüber. Erstaunlicherweise werden die blutigen Bilder Kresniks oft als die stärkere Provokation empfunden. Kresnik ist sich der begrenzten Wirkung seiner Stücke durchaus bewusst. Er glaube nicht, sagte er einmal, dass seine Stücke gesellschaftlich etwas verändern. Aber er hoffe, dass sie die Zuschauer nachdenklich stimmen und zu Diskussionen anregen.

Das hat er nicht nur mit den Inhalten seiner Stücke, die die Widersprüche von Personen oder Sachverhalten aufzeigen sollten, erreicht, sondern vor allem durch eine ebenso phantasievolle wie drastische Bildersprache. Die Radikalität seiner Bilder verstörte so nachhaltig, dass die konservative Kritik ihn schnell mit dem Signum "Bürgerschreck" versah, was von vielen Medien unreflektiert aufgegriffen und so zu einer Art Markenzeichen seiner Arbeit wurde. Wenn von ihm heute gesprochen wird, dann selten ohne das Etikett des "Politischen Provokateurs".

Jetzt, wo auch an der Volksbühne wegen chronischer Unterfinanzierung, so der offizielle Sprachgebrauch, die Tanzsparte "abgewickelt" wird, zeigen sich die Wirkungen dieser Stigmatisierung. "Keiner weint ihm nach", textet Die Welt und die Berliner Morgenpost kommentiert erfreut, dass es am Rosa-Luxemburg-Platz nun wieder ruhig werde, wenn dort "Herr Kresnik sein Unwesen nicht (mehr) treibt".

"Eigentlich", so sagt Kresnik von sich, "bin ich ein sehr lustiger Mensch, lache gern, mache viel Blödsinn. Ich trinke gern, streite mich gern. Ich liebe Kinder. Aber die Entwicklung in dieser Gesellschaft macht mich wütend, dieses unglaublich schlimme Jahrhundert der Deutschen."

Dass er das deutsche Tanztheater mit begründet hat, ist weltweit allgemein anerkannt. Doch anders als Pina Bausch, die sich ganz auf die Problematik des Geschlechterverhältnisses, der Kommunikationsschwierigkeiten zwischen Frau und Mann konzentriert und diese vielfach variiert hat, verlegte sich Johann Kresnik von Anfang an auf tagespolitische Themen. Gleich das zweite Stück, Paradies?, noch im katholischen Köln inszeniert, thematisiert die Bonner Notstandsgesetze und das Attentat auf Rudi Dutschke. Sein Tanztheater, das er lieber als Choreografisches Theater bezeichnet, ist immer ein explizit politisches gewesen. Er begründete damit ein Genre, als dessen bekanntester Repräsentant er weltweit gilt. Längst haben sich auch andere Choreografen dieses Genres bemächtigt, wie der Franzose Jan Fabre, die Belgier Alain Platel und Wim Vandekeybus oder die japanische Gruppe Gekidan Kaitaisha, die teils noch konsequenter und noch bohrender ihre Fragen an die Ungerechtigkeiten unserer Weltordnung stellen als dies Johann Kresnik je getan hat. Wie Kresniks Tanztheater, so sprechen auch sie mit ihrer Direktheit ein junges Publikum an, das für das zeitgenössische Theater eigentlich als längst verloren galt.

Politischen Tanz hat es auch schon vor Kresnik gegeben. Der Grüne Tisch von Kurt Jooss aus dem Jahr 1932 gilt als das Anti-Kriegs-Ballett schlechthin. Zehn schwarz gekleidete Herren steigern sich in immer heftigere Diskussionen, bis sie schließlich Pistolen ziehen und den Krieg auslösen. Das Ballett auch für politische und gesellschaftliche Anliegen zu öffnen, ist jedoch im Ansatz steckengeblieben, und war nach dem Zweiten Weltkrieg geradezu verpönt. Von dieser Weltfremdheit hat sich selbst das zeitgenössische Ballett noch nicht gänzlich erholt. Kresniks Ruf "Ballett kann kämpfen" fand jedenfalls andernorts keine Resonanz. Immerhin stellt sich die Choreografen-Generation um Wilhelm Forsythe wieder gesellschaftlichen Fragestellungen. Erst das Tanztheater hat auf die gesellschaftlichen Veränderungen Nachkriegsdeutschlands reagiert und sich sozialer und politischer Fragestellungen angenommen. Kurt Jooss hat mit seinem Ballett gezeigt, dass auch der Tanz in der Lage ist, allgemeinverständliche Bilder für ein politisches Anliegen zu finden. Die angemessene Bildhaftigkeit zu kreieren, ist die größte Herausforderung des Tanzes gegenüber dem Sprechtheater, das einfach "Krieg" sagen kann, wo im Tanz der Körper inszeniert werden muss.

Kresniks Picasso sucht den Schlüssel zu dessen Werk in seiner Person. Gleich neunfach tanzt Picasso in Streifenhemd und Unterhose über die Bühne. Das weckt Erwartungen auf eine facettenreiche Persönlichkeit, die, neunfach geschichtet, von nur einem Tänzer nicht hinreichend dargestellt werden kann. Doch nur vier davon agieren als Charaktere. Mit der Vervielfachung soll eher die künstlerische und persönliche Omnipotenz Picassos veranschaulicht werden. Sinnigerweise wird ihm von Kresnik noch ein weibliches "Ich" zur Seite gestellt. Die gertenschlanke Riccarda Herre, der die Picasso-Streifen auf den nackten Oberkörper gemalt sind, treibt ihre Picassos von Szene zu Szene, spiegelt sie in Aktion und Gedanken.

Picasso, ein Tyrann, Pantoffelheld in Unterhosen, Anarchist und Dionysos zugleich, Macho oder Friedenstaubenzüchter? Die Frage bleibt - natürlich - offen. Kresniks Szenenfolge bietet von allem etwas, vom Macho dagegen reichlich. In sechs "Umarmungen" mit seinen Frauen führt Kresnik Picasso, aufgepeppt mit reichlich Situationskomik. Aus den Bilderrahmen der ersten Szene schaut uns seine Geliebte Olga Koklowa an (im Tutu), allerdings mit ihrem nackten Allerwertesten, auf den Picasso - ganz Kubist - gleich sein berühmtes Augenpaar klebt. Es dauert noch eine Weile, bevor wir ihr ins Gesicht sehen können. Barbusig bis splitternackt auch seine anderen Frauen. Doch Lebensfreude vermitteln diese Nuditäten nicht. Ihre Blößen zeigen Verletzlichkeit, machen die Frauen zum Opfer. Picasso, das künstlerische Genie und der politische Mensch kommen zu kurz. Zwar werden zentrale Motive seiner Bilder, Les Demoiselles d´Avignon und natürlich Guernica in die Szenenfolge aufgenommen. Doch scheint es, als sei Kresnik ständig auf der Suche nach der Psychologie seiner Figur. Hoffnung keimt auf, als der Bretterzaun fällt, der die Isolation des faschistischen Spaniens symbolisiert, und die ganze Truppe mit Blecheimern und Schüsseln lärmend die Bühne übernimmt. Das sind große Momente für das Ensemble, aber es sind auch Momente, in denen der Zuschauer über das plakative Geschehen auf der Bühne hindurch den Zusammenhang finden muss.

Wer zum Abschluss seiner Volksbühnenzeit einen Paukenschlag von Kresnik erwartet hatte, wurde enttäuscht. Picasso ist ein für ihn typisches, in seiner Analyse aber nicht herausragendes Stück. Kresnik wird auch außerhalb der Volksbühne weiterhin seine ebenso unangenehmen wie konsequenten Fragen nach Armut, latentem Faschismus oder den Ungerechtigkeiten der Weltordnung stellen. Man kann nicht die Globalisierung als Quelle zunehmender Ungerechtigkeit kritisieren und sich gleichzeitig der schmerzenden Analyse eines politischen Tanztheaters entziehen wollen. Auch eine Ästhetik des Hässlichen leitet wirkungsvolle Auseinandersetzungen ein. Da, wo andere von der Gewalt nur in Andeutungen sprechen, zeigt sie Kresnik. Wo andere den Missbrauch nur andeuten, zeigt er ihn. Diesen Schock wird er den Berlinern so schnell nicht ersparen. Schon im Juni wird Kresnik an der Deutschen Oper mit Daniel Libeskind als Bühnenarchitekt Messiaens Saint Francois d´Asise inszenieren.

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