Heute gibt es kaum eine Zeitung mehr, die nicht in Farbe prangt; jedes Lamento darüber kommt hoffnungslos verspätet. Doch was - als noch darüber gestritten wurde - eine Geschmacksfrage schien, ist von größerer Tragweite und gehört letztlich in den Kontext unserer ganzen, aus lauter bunten Bildchen, Logos, Piktogrammen und Klingeltönen zusammengesetzten Alltagskultur.
Als Anfang 2003 die Frankfurter Allgemeine Zeitung erstmals Farbfotos im redaktionellen Teil druckte, machte ein Leser in einer witzigen Zuschrift an die Herausgeber eben diesen Zusammenhang deutlich: "Farbe? Au, fein! Die Welt ist doch so bunt. Warum soll dann die FAZ nicht auch so schön bunt sein? Ich hätte dann aber gerne mehr kräftige, helle, ungemischte Farben, denn sie machen so schön optimistisch, oder? Und außerdem hätte ich gerne, dass die FAZ täglich parfümiert erscheint, denn bisher riecht sie ja nur nach Druckerschwärze. Deshalb hätte ich gerne ein kräftiges Patschuli zu Beginn des Tages oder ein Rosenwasser. Und außerdem hätte ich noch gerne ein kleines Stück Flausch als Einleger, weil es sich so schmusig auf der Haut anfühlt."
Das ganze Elend unserer bunten Presse ging mir wieder auf, als ich mich jüngst durch die opulente Werkbiografie des Fotografen James Abbe treiben ließ, dessen Werk das Kölner Museum Ludwig im vergangenen Jahr ausgestellt hat. Der Amerikaner, der von 1883 bis 1973 gelebt hat (hauptsächlich in Europa), war schlicht und einfach Fotoreporter. Aber er hat mit dem Medium der Schwarzweiß-Fotografie - als Journalist und Künstler, als Kenner des Showbusiness und des politischen Welttheaters - eine große, facettenreiche Kulturgeschichte seiner Zeit erstellt.
Das wäre auch heute möglich, wenn Kennerschaft (in Relation zum fotografierten Gegenstand) und ästhetische Kriterien in der Pressefotografie noch dominierende Maßstäbe wären. Und es wäre selbstverständlich auch "in Farbe" möglich, würde die Farbe in unserer Presse nicht hauptsächlich als "eye-catching"-Effekt, als Erregungsmoment für unsere flüchtigen, für vielfache Ablenkungen reizbaren Augen eingesetzt werden. Wir halten bunte Lappen in den Händen, und wenn wir erst einmal zu blättern beginnen, hat die Farbkleckserei ihre Schuldigkeit getan: Zum Betrachten des Dargestellten verleiten die Buntheiten in der Regel nicht.
Farbe und Schwarzweiß funktionieren in den Print-Medien anders als im Fernsehen. Seit Durchsetzung des Farbfernsehens stehen die farbigen Bilder für ein medial konstruiertes Hier und Heute, also für "Gegenwart". Und seit der Etablierung des kommerziellen Fernsehens stehen sie einfach dafür, dass etwas passiert. "Bunte und bewegte Bilder wollten wir liefern, denn auf dem Schirm sollte einfach immer etwas stattfinden": So definierte der ehemalige RTL-Chef Helmut Thoma sein Verständnis vom Fernsehgeschäft.
Die schwarzweißen Bilder (alter Dokumentarfilme zum Beispiel) hingegen erinnern daran, dass es jenseits der TV-Gegenwart eine Nicht-Gegenwart gibt - etwas, das offenbar vergangen ist, folglich einmal existiert hat, aber nicht mehr existiert. Diese Dichotomie existiert in der Fotografie nicht. Aber sonderbarerweise wollen die Zeitungsmacher sie ihren Bildern aufzwingen: Mit den Buntbildern verkaufen sie die Illusion, in der Gegenwart angekommen und "dabei" zu sein.
Die Geschichte der Fotografie rechtfertigt diese Strategie keineswegs. Schon in den ersten Jahrzehnten nach ihrer Erfindung wurde mit Kolorierungstechniken experimentiert, aber die Farbfotografie galt lange als Spezialfall. Ihre künstlerischen, eher anti-realistischen Aspekte wurden erkundet, und ihr Informationsreichtum, ihre Leistungen in punkto Authentizität wurden durchaus anerkannt, spielten jedoch im Medium der Reportage keine Rolle.
James Abbe hat auf nahezu allen Gebieten der Fotoberichterstattung eine Formenvielfalt entwickelt, die ihn heute als einen Exponenten des beginnenden Medienzeitalters erscheinen lässt. Seine Abnehmer waren, außer den großen amerikanischen Zeitungen, modern zugeschnittene Print-Medien wie die Berliner Illustrierte, das London Magazin oder die Pariser Zeitschrift Vu. Sie hatten mit avancierten Reproduktionstechniken nicht nur den Umbruch, sondern das Genre der Reportage und das gesamte Gewerbe revolutioniert. Abbes neuartige Bild-Text-Collagen füllten ihre Seiten: Ob es nun die mit Witz erzählten "back-stage-stories" aus Hollywood waren, Schnappschüsse vom sozialen Elend in der Sowjetunion oder Studien aus dem Deutschland vor 1933 wie die beklemmenden Aufnahmen von blutüberstömten Gesichtern nach einer studentischen Mensur.
Versenkt man sich in seine Bilder, geben sie etwas vom Geheimnis der Schwarzweiß-Fotografie als Medium der Berichterstattung preis: Das "Weniger" an Information, das dem Fehlen der Farbe geschuldet ist, entpuppt sich als ein Zugewinn an Kontingenz, an Deutungsmöglichkeiten, damit als ein Surplus für unsere Neugier und Fessel unserer Aufmerksamkeit. Den Anspruch auf "Gegenwart", mit dem sich die Farbbilder aufdrängen, überbieten sie durch Päsenz: eine Gegenwärtigkeit des Dargestellten, die unabhängig ist von Zeit und Ort.
Nicht, dass unsere heutigen Print-Medien so vollkommen anders aussehen als Vu oder das London Magazin, ist das Problem. Auch nicht, dass unsere Zeitungen mit dem Farbdruck einen geschmacklichen Irrweg eingeschlagen haben. Es ist schlimmer: Sie haben sich für einen Abbildungsmodus entschieden, der weder der Wirklichkeit gerecht wird noch den technischen Qualitäten der gedruckten Zeitung. Die Buntdrucke wirken "unscharf und farblich unrichtig", schrieb damals ein Leser an die FAZ. Seltsam: die unscharfen, "unrichtigen", meist hintergrundarmen und suppigen Farbkleckse werden uns als Wiedergabe der Realität verkauft; die realitätsgenauen und randscharfen Schwarzweiß-Fotos nicht nur James Abbes hingegen gelten inzwischen als Kunstprodukt.
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