Verlustanzeigen, von Kulturwissenschaftlern oder Medienhistorikern vorgetragen, kommen meist im Trauerflor daher und werden mit dem Timbre der Wehmut vorgetragen. Was soll, seitdem wir vor dem Fernseher sitzen und erst recht seitdem wir im Internet surfen, nicht alles verloren gegangen sein! Unsere Leselust und unser Erinnerungsvermögen, unser Geschichtsbewusstsein und unsere Fähigkeit, zuzuhören, unsere Aufnahmefähigkeit für die lange Erzählung und unsere Geduld mit dem filmischen Bild, sobald die Kamera länger als zwei Sekunden in einer Einstellung verharrt.
Wer genauer in die Klagegesänge der Kulturkritik hinein hört, wird feststellen, dass so manche Verlustanzeige nur auf vagen Vermutungen basiert, die sich empirisch nicht erhärten lassen - dies gilt zum Beispiel für die These, die audiovisuellen Medien machten uns unweigerlich zu Analphabeten. Im Übrigen muss die Frage erlaubt sein, ob dort, wo etwas schwindet oder seine mediale Magie verliert, nicht Raum für Neues entsteht, das wir noch nicht kennen oder nur darum ablehnen, weil wir auch in der tosenden Medienvielfalt Gewohnheitstiere geblieben sind und letztlich ungestört bleiben wollen.
Diese grundsätzlichen Bemerkungen einmal voraus geschickt, soll hier ein Verlust angezeigt werden, dessen Tragweite und mögliche Folgen offensichtlich noch nicht wahrgenommen wurden - oder aber einfach hingenommen werden wie die Erhöhung des Briefportos oder die Tatsache, dass wir in der Warteschleife mancher Telefonleitungen zunehmend von Musik eingelullt werden. Das allmähliche Verschwinden des Originaltons aus den audiovisuellen Erzählungen hat mit dem Briefporto gar nichts, um so mehr freilich mit der synthetischen Musik in den Telefonleitungen zu tun. Wovon ich rede? Von einer schleichenden Reduktion der Hörerfahrungen, der Erlebnisse unseres Ohres, wenn wir Spiel- und Dokumentarfilme von heute auf dem TV-Bildschirm sehen. Diese Reduktion betrifft, wie alles Ästhetische, die Varianzbreite unserer Wahrnehmungen und damit die Arbeit, die Neugier, die filigrane Tätigkeit unserer Sinne, die wir im Laufe unserer Gattungsgeschichte entwickelt und nicht zuletzt dank medialer Erfindungen verfeinert haben.
Das leise Schlurfen der Schritte, wenn sich der unsichtbare Mörder naht, gehört ebenso zu unseren Kinoerfahrungen wie das Pferdegetrappel im Western, das unverkennbare Knackgeräusch, wenn ein Revolver entsichert wird, oder das liebliche Vogelgezwitscher, während der Killer sein Messer an den Hals seines Opfers setzt. Seit Einführung des Tonfilms hat die Kinematographie Enormes geleistet, um unsere Sinne für die Vielfalt akustischer Erfahrung ebenso wie für kontrapunktische Bild-Ton-Beziehungen empfänglich zu machen. Schon sehr bald haben die Studios das, was das Mikrofon und oder die Tonkamera einfing, mit dem maschinell erzeugten Effekt zu übertrumpfen versucht - mit Erfolg und stets im Bemühen, den "Originalton" authentisch zu treffen und ihn originell in den Gang der Erzählung zu integrieren. Bedeutende Dokumentarfilme zeichnen sich dadurch aus, dass sie das Atmosphärische einer gefilmten Situation - eben: die "Atmo" - mit dem Mikrofon einfangen und dem, was zu sehen ist, eine unschätzbare Qualität im Bereich des Hörbaren hinzufügen. Hollywood, noch immer der Hauptfeind aller ehrbaren Kulturkritiker, hat alle diese Entwicklungen übrigens nicht behindert, sondern (die Erfindung von Dolby Sound eingeschlossen) entschieden gefördert. Bis heute sind in jedem Blockbuster, der etwas auf sich hält, Filmmusik und Originalton virtuos "ausgesteuert", das heißt im Sinne der filmischen Erzählung ausbalanciert.
Im Fernsehen allerdings läuft da etwas schief. Man verstehe mich recht: Wenn sich Herr Wickert durch seine Nachrichten hindurchstolpert, will ich keineswegs noch die Nebengeräusche im Studio hören. Und MTV ist nun einmal MTV. Doch gerade im Krimi, in der Reportage und in solchen dokumentarischen Genres, in denen unser Ohr auf Informationen, nein: auf seine spezifischen Sensationen angewiesen ist, wird es zunehmend um sein Futter betrogen. Der Angriff auf den Originalton erfolgt durch eine missverständlich "Soundtrack" genannte technische Brutalität, die vorzugsweise Keyboard-Klangteppiche und elektronisch erzeugte Akustik als Waffe einsetzt, um die Bilder, zu denen die Produzenten offenbar kein Vertrauen haben, konsumierbar zu machen und schneller Entsorgung zuzuführen. Lautstärke ist in der Regel das entscheidende Kriterium; das Ganze nennt sich Musik.
Offensichtlich haben hier ästhetische Strategien der Werbung, des Musikvideos und der Vor- und Nachspanngestaltung wesentliche Teile des Programms infiziert. Die audiovisuelle Avantgarde - der intelligente Werbespots und Videoclips unbedingt zuzurechnen sind - penetriert inzwischen die Krimis, das mehrteilige TV-Drama und dokumentarische Formate, aber nicht zu deren Vorteil. Der Konkurrenzdruck kommt hinzu: Da Fernsehen längst ein Nebenbei-Medium geworden ist, das zum Wegsehen, auch zum Weg-Zappen verleitet, suchen die Programmgestalter das unstete Publikum mittels Soundeffekten zum Hinhören zu zwingen - nur wer irgendwie "dran bleibt", ist ein Zuschauer, der für die Quote zählt. So kommt es, dass gerade die spannenden Stellen im "Tatort", wenn das geübte Ohr auf den Schritt des Mörders, den knirschenden Kies oder knackende Zweige lauert, von einer Musik genannten Akustik überdröhnt wird, die direkt aus dem Sägewerk zu kommen scheint. Auch in den meisten Tiersendungen ist die Natur als Universum vielfältigster Geräusche still gestellt: Was im Wasser, im Wald, im Wind zu hören ist, wird meist von zirpenden Geigen-Soli, perlenden Klavier-Glissandos oder rauschenden Tutti erstickt.
Ein Verlust also, der anzuzeigen ist, weil er die Amputation unserer Sinne betrifft und das Medium nicht nur eine technische Errungenschaft, sondern eine ästhetische Qualität preisgibt. Es mag sein, dass sich auch mit dem Untergang des O-Tons etwas Neues ankündigt. Das, was gegenwärtig als "Soundtrack" gehandelt wird, ist es allerdings nicht.
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