Friz Kröhnke, Friz wie Hölderlin, ist kein Held wie wir. Er erzählt simple Geschichten, und er kann das: in einem gepflegten Deutsch, wie es nur wenigen seiner Zunft eignet. Seine Sätze mäandern nicht, noch mäandrieren sie. Bei ihm heißt Zahnpasta immer noch Zahnpasta und kommt ohne global spielende Markennamen aus.
In seinen pointierten Erzählungen über Liebe, Freundschaft und Verlust bevorzugt er klare Hauptsätze, an denen jeder Deutschlehrer seine Freude hätte - wenn nicht, nun ja, wenn nicht diese Liebe, die eines Mannes zu einem Jungen wäre, einem jungen Jungen, unter 16. Denn was der Friz, oder sagen wir sicherheitshalber: sein literarisches alter ego, im Unrechtsstaat DDR ganz legal durfte, mit Vierzehnjährigen anbä
n anbändeln, dafür käme er in Neudeutschland vor den Kadi. Ein Wendeopfer der besonderen Art also, zumal ihm mit der Kapitulation der Schwulenbewegung sein Schutzgeist abhanden gekommen ist.Aber wir wissen ja, daß das mit den Jungs überhaupt keine Liebe sein kann, allenfalls klebriger Schmuddelsex - wenn nicht gar die Verletzung von Menschenrechten (NATO-Bomben auf Pataya!). Da kann der Kröhnke noch so viele Romane schreiben, in denen er es besser weiß. Seit zehn Jahren schon erscheinen die bei einer feinen Adresse in Zürich, und hilft's ihm? Beim so liberalen Feuilleton jedenfalls nicht. Das wendet sich naserümpfend ab und hat auf der Suche nach dem ultimativen Wende-Roman Kröhnkes 1989er Romanze P 14 doch glatt übersehen. Ganz zu schweigen von der infamen Verschwisterung von Päderastie und Sozialdemokratie, die er uns in »Was gibt es heut bei der Polizei?« auftischte.Und nun wagt der Kröhnke allen Ernstes ein Opus magnum, halb Bildungs- und Entwicklungsroman, halb Konfession à la Reinaldo Arenas' Bevor es Nacht wird. Mit dem verhurten Kubaner teilt er die pikareske Aufschneiderei: »Aber glaubt mir, ihr wißt es doch, daß da nichts hinzuerfunden ist, wenn ich eitel von den Hunderten, vielleicht Tausenden von Jungen spreche, die zu mir kommen, die ich in der Welt aufstöbere, die mich wollen. Die Wunder und Abenteuer. Die Reisen, als wären mir Tod und Teufel auf den Fersen. Die Orgasmen. Die Trophäen.«Will er hier wen neidisch machen? Dann hätte er die Voyeure auf ihre Kosten kommen lassen müssen. Tut er aber nicht. Sagt zwar »abgespritzt«, wo abgespritzt wird, aber das klingt bei ihm nicht recht obszön.Dann will er also uns Kinderschützer provozieren? - wohl wissend, daß alles, was er da schreibt, nicht justitiabel, weil hinterm dicken Panzer des Wörtchens »Roman« verschanzt ist. Die Nürnberger hängten keinen, denn sie hätten ihn. »Autobiographie«, wie Arenas, kann das nur nennen, wer hernach aus dem Fenster springt. So aber plaudert der Romancier aus seiner Schatztruhe der Knabenliebe - unbekümmert, unverschämt, heiter. Wo er doch voller Angst sein müßte, was sein wird, wenn er arm und alt ist. Manchmal kommt die Angst tatsächlich, hinterrücks, als unheimliche Krankheit. Der Buchtitel bezieht sich darauf. Sie hat ihm schon am Gymnasium der Heimatstadt der Künste im Nacken gesessen.Diese Jugend in Darmstadt ist ein Roman für sich. Ein ganz anderer der von Bochum aus geführte Kampf für die Weltrevolution. Und wieder ein anderer der seiner Mutter. Die ethnische Säuberung ihrer nordböhmischen Heimatstadt bleibt ihr als Trauma eingebrannt: an einer Scheunenwand jeder zehnte Deutsche erschossen, »die Toten haben auf der Straße gelegen«. Kröhnke scheut sich nicht, dorthin zurückzukehren. Auch ins westpreußische Pomerellen seines Vaters. An diese Vertreibung zu erinnern ist ein Tabubruch, mit dem sich der permanente Linke endgültig zwischen alle Stühle setzt.Wäre er doch dabei geblieben, das Hohelied auf seine Jungen zu singen. So aber wird man ihm vorwerfen, daß sein Opus in disparate Einzelteile zerfällt - und dabei übersehen, wie die auch einzeln zu lesenden Kapitel und Kapitelchen durch Leitmotive und Variationen kunstvoll miteinander verknüpft sind. Wiederholungen unterlaufen ihm nicht, unauffällig funktionieren sie stilbildend.Wenn einer der Romane im Roman die anderen unvergeßlich überragt, dann weil er unser Vorurteil vielleicht ja doch zu erschüttern vermag. Nicht umsonst steht die unter die Haut gehende Liebesgeschichte zwischen Friz und Tim gegen alle Chronologie in der Mitte des Buchs. Der Ausreißer aus dem ostdeutschen Provinzkaff im warmen Nest des weltstädtischen Literaten - schon möchte man dieser beide beglückenden Beziehung Festigkeit über die Jahre zutrauen, da schlägt der »Jugendschutz« zu und steckt Tim ins Heim. Der Nachgeschmack der Frage, wer hier wen wovor schützt, ist bitter.Ihn macht auch nicht das Dramolett zwischen dem älter werdenden Friz und dem ausgeflippten Felix vergessen. Wie diese beiden sich finden und verlieren und immer wieder finden, erinnert an Szenen einer stink normalen Ehe. Man gönnt den zwei, daß sie nach diesem Buch weitergeht. Aber das wird ein anderer Roman.Friedrich Kröhnke: Die Atterseekrankheit. Roman, Ammann-Verlag, Zürich 1999, 438 S., 42,- DM