Bordeaux oder Bier?

EROTISCHE SEANCE Milan Kundera beweist, dass gewichtige Bücher nicht dick sein müssen

Im Jahr 1986 schreibt der in Brünn geborene und 1975 nach Frankreich emigrierte Milan Kundera auf Französisch. Damit sind seine Romane unbestritten Bestandteil der französischen Literatur. Ob er deswegen auch schon ein französischer Schriftsteller ist? In gewisser Weise geht es in Die Unwissenheit, Kunderas jüngstem Buch, genau um diese Frage.

Der Roman beginnt damit, dass Irena, die seit 20 Jahren in Paris lebt und zwei beinahe erwachsene Töchter hat, von den Ereignissen des Jahres 1989 sozusagen überfahren wird. Der Zusammenbruch des Kommunismus drängt sie zurück in die tschechische Heimat; zumindest in den Augen ihrer Freundin Sylvie, die Irenas Beteuerung "Mein Leben ist hier!" nicht gelten lässt: "›Bei euch ist Revolution!‹ Sie sagte es in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete."

Irena muss damit leben, dass sie sich ihre Heimat nicht aussuchen kann, sondern ihr diese abgesprochen oder zugewiesen wird. Selbst ihr schwedischer Freund Gustaf erblickt in ihr nur die "aus ihrer Heimat verbannte, leidende junge Frau", und ihre Prager Bekannten weigern sich, Irenas mitgebrachten Bordeaux zu trinken, stellen ihr Tschechentum durch ostentativen Bierkonsum unter Beweis. Plötzlich findet sich Irena in der Rolle des kurz davor vom Erzähler herbeizitierten Odysseus, der nach 20-jähriger Irrfahrt in seine Heimat zurückkehrt: Weil er in Ithaka kein Fremder ist, fordert ihn dort auch niemand auf, von seinen Abenteuern zu erzählen, die seinen Lebensmittelpunkt ausmachen.

Auch Josef, der Irina seinerzeit in Prag Avancen machte und dem sie nun zufällig am Flughafen begegnet, muss erleben, wie wenig die Zurückgebliebenen eigentlich von ihm wissen wollen: Auch nach 1989 wird er weder über den Tod nahestehender Menschen noch über die Rückerstattung des von den Kommunisten enteigneten elterlichen Besitzes informiert. Dafür weiß "zuhause" auch niemand vom Tod seiner Frau. Irena, die ihres auf dem totalen erotischen Rückzug befindlichen Freundes Gustaf überdrüssig geworden ist, ist entschlossen, der "traurigen Geschichte ihres Begehrens" eine neue Wendung zu geben und die vor Jahrzehnten nie wirklich in Gang gekommene Beziehung zu Josef"fortzusetzen".

Allein diese Liebesgeschichte ist Grund genug, den Roman zu lesen. Auch wenn auf die beglückende sexuelle Vereinigung im Hotelzimmer die große Ernüchterung und Kränkung folgt, als Irena erkennen muss, dass ihr Geliebter schlicht keine Ahnung hat, mit wem er es zu tun hat.

Das wird auf eine Weise erzählt, die man mit plausiblen Argumenten als "altmodisch", ja "überholt" bezeichnen kann. Aus der souveränen Distanz des allwissenden Erzählers eröffnet Kundera seinem Leser, den er mitunter sehr höflich siezt, die Innenwelten seiner Protagonisten. Da bleibt kaum etwas unklar, alles wird auf den Begriff gebracht. Dennoch - und darin liegt das Bestechende des Romans - nimmt diese ständige Reflexion und der Hang zum Kommentar der Geschichte selbst nichts von ihrer Kraft. Allein der Geschlechtsakt der beiden Protagonisten ist den Kauf des Buches wert: Wie "diese erotische Séance" ganz ohne körperliche Konkretheit erzählt wird, ist grandios und beweist einmal mehr, dass Erzähldistanz nicht mit Gefühlskälte verwechselt werden darf.

Als wäre die Asymmetrie des Begehrens zwischen Irena und Josef noch nicht genug, erfährt der Leser auch noch die Geschichte Miladas, deren Jungendliebe zu Josef seinerzeit bis zum juvenil-unbedachten Selbstmordversuch gediehen ist, von dem aber Josef ebensowenig weiß wie Miladas Freundin Irena. Das Pathos explodiert sozusagen an der erzählerischen Peripherie - als leise, gleichwohl herzzerreißende Detonation.

Gemeinsam mit dem Erzähler blickt der Leser auf die Unwissenheit der Protagonisten, und ebenso wenig wie dieser ist er geneigt, sie zu verurteilen. Ohne Entlarvungsgestus zeigt der Roman, dass das Leid der Emigration unter anderem auf einer prekären Spielart des Selbstverständlichen beruht. Befragt danach, ob ihr denn ihre französischen Freunde Fragen stellten, antwortet Irena: "Natürlich nicht! (...) Sie interessieren sich nicht füreinander, aber in aller Unschuld. Sie sind sich dessen nicht bewusst."

Banal? Schon möglich. Milan Kundera hat darüber einen 180 Seiten knappen und unaufdringlich klugen Roman geschrieben. Wer sich für dessen Figuren nicht zu interessieren vermag, dem ist nicht zu helfen.

Milan Kundera: Die Unwissenheit. Roman. Aus dem Französischen von Uli Aumüller. Hanser-Verlag, München 2001 180 S., 38,- DM

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