Die politische Interpretation von terroristischen Anschlägen ist umso gewagter, je frischer die Taten sind und je weniger etabliertes Wissen über die Täter, ihre sozialen Zusammenhänge und ihre politischen Haltungen bekannt ist. Dass die Anschläge von London, von Djerba, Bali, Madrid, von Nairiobi und Daressalam wie von New York und Washington alle auf das Konto des schwierig zu erfassenden "Netzwerks" al-Qaida gehen, gilt den meisten Kommentatoren dennoch als ausgemacht.
Doch die Ineinssetzung dieser Erscheinungen politischer Gewalt, ihre Kategorisierung als "globaler Terrorismus", könnte dem analytischen Verständnis dessen, was diese Akte politischer Gewalt bedeuten, eher im Wege stehen als zu ihm beitragen. Die vergleichende Betrachtung der Anschläge, ihrer lokalen Einbettung in politische Konstellationen und auch der politischen Reaktionen auf sie zeigen, dass "dem globalen Terrorismus" in Wahrheit nicht eine einzige Strategie und auch nicht eine einzige politische Agenda zugrunde liegen.
Mit dem Begriff des Terrorismus ist zunächst nichts anderes gemeint als eine bestimmte Gewaltstrategie: Mit überraschenden Angriffen auf militärische wie zivile Ziele setzt diese Strategie auf das Spektakel, das mit diesen Anschlägen ausgelöst wird. Der Terrorismus ist, wie der Soziologe Peter Waldmann dies gefasst hat, mehr als jede andere Gewaltform eine Kommunikationsstrategie. Zwar sind auch andere Gewaltakte, gerade solche in größeren gewaltsamen Konflikten, kommunikative Akte. Sie sollen dem Gegner und der Gefolgschaft Stärke demonstrieren, neue Unterstützer mobilisieren und den Mitgliedern durch das Charisma der Tat zeigen, dass möglich ist, was sonst für unmöglich gehalten wird. Letztlich beruht auf diesen machtsetzenden Effekten der physischen Gewalt all das, was Max Weber als das "Charisma des Kriegers" bezeichnet hat und was noch in der Bewunderung von Waffen und Uniformen nachscheint.
Die Ausübung terroristischer Gewaltpraktiken begründet aber, soziologisch gesprochen, noch keinen Akteurstyp. Terroristische Praktiken kommen in fast allen Kriegen vor, aber eben auch außerhalb von Kriegen. Bombenanschläge auf zivile Ziele finden sich im Repertoire der ETA in Spanien oder der RAF in Deutschland, aber auch im Krieg der jugoslawischen Partisanen gegen die deutsche Wehrmacht oder der tschetschenischen Separatisten. Vom "Krieg gegen den Terrorismus" zu sprechen, ist deshalb doppelt irreführend. Diese Wendung adressiert weder Akteure, noch lassen sich bestimmte Gewaltpraktiken "besiegen". Gerade weil die Wendung so unklar ist, begünstigt sie Verdächtigungen und Stereotypisierungen ganzer Bevölkerungsgruppen und Religionsgemeinschaften.
Die Bekämpfung des Terrorismus sollte deshalb von einer Analyse ausgehen, die auf solche Vereinfachungen und Kategorisierungen verzichtet. So wie sich die Reproduktion des Netzwerkes von al-Qaida aus eine Vielzahl von lokalen Arenen nährt, so muss sich auch die politische Strategie der Erwiderung auf diese lokalen Arenen beziehen. So wenig gesichertes Wissen über al-Qaida vorliegt, so lässt sich doch aus der Entwicklung islamistischer Gewalt und ihrer Internationalisierung ablesen, was den eigentlichen Nährboden dieser Form politischer Gewalt ausmacht. Die soziale Krise in Übergangsgesellschaften, die Frustration über politische Blockaden und verhinderte Lebensentwürfe verbinden sich offenbar mit manichäischen Interpretationen der Weltpolitik.
Eine Verbindung zum Krieg ergibt sich überall dort, wo sich in innerstaatlichen Gewaltkonflikten blockierte Situationen bilden. Al-Qaida oder andere islamistische Gruppen sind dann eine externe Ressource für die in Bedrängnis geratenen Akteure. Aus diesem Grund waren islamistische Helfer für die bosnischen Muslime interessant, und aus demselben Grund konnten sich islamistische Araber den tschetschenischen Seperatisten andienen. Gleiches gilt für die afghanischen Taliban oder die philippinische MILF-Fraktion des Abu Sayyaf.
In der westlichen Öffentlichkeit erscheinen diese Verbindungen dann als ein enger Zusammenhang von Gleichursprünglichkeiten. Ähnlich wie zu Zeiten des Ost-West-Konflikts werden alle Konflikte und Akteure auf die gleiche Konstellation bezogen und in die gleiche Richtung interpretiert. Im "Kampf gegen den Terrorismus" finden sich deshalb Parallelen zur Dynamik des Ost-West-Konflikts: Dazu gehört die Konstruktion schimärenhafter Globalbedrohungen auf beiden Seiten, die Eskalation der Vorwürfe und Unterstellungen sowie die Aufrüstung der Klienten und das globale Lernen der Gewaltexpertise. An den Ost-West-Konflikt erinnert auch die Arbeitsteilung zwischen denen, die die höhere Strategieplanung für sich beanspruchen, denen, die die Mittel bereitstellen, und jenen, die als lokale Klienten physische Gewalt ausüben oder erleiden.
Fasst man den Terrorismus in dieser Weise auf, dann läuft man Gefahr, die nicht-intendierten Effekte des Ost-West-Konfliktes erneut hervorzurufen: Die Wahl von Stellvertretern und die Tolerierung und Aufrüstung repressiver Regime würden mittelfristig nur eine weitere Welle der Gewalt hervorrufen. Schon jetzt kann man aus den Biographien autoritärer Staatschefs ablesen, wie sich staatliche Repression im gleichen Leben in gewaltsames politisches Handeln umsetzt: Josip Broz Tito und Robert Mugabe hatten schon Jahre im Gefängnis hinter sich, ehe sie begannen, Gewalt zu organisieren. Aus einem ausgewählten Sample von 36 Anführern bewaffneter Gruppen, die seit den 1990 Jahren aktiv waren, hatten 22 eine militärische Ausbildung und 24 waren unter den Regimen, die sie später bekämpften, in Haft. Dies gilt mittlerweile als globaler Mechanismus: Aus den Lehrlingen der staatlichen Gewalt bilden sich auch ihre späteren Herausforderer heran.
Die Kriege der Gegenwart haben aber nationale Agenden, so stark auch ihre internationalen Momente hervorstechen. In ihnen steht die Erlangung staatlicher Macht im Mittelpunkt. Deshalb ist es falsch, "den Terrorismus" mit aktuellen Kriegen zu identifizieren. Gerade der Terrorismus von al-Qaida lagert sich an laufende Kriege an, aber er ist nicht mit ihnen identisch.
Dass sich diese Interpretation so durchsetzt, liegt auch an den institutionellen Interessen der Sicherheitsapparate und Experten: Die Ineinssetzung ist einfach, sie wirkt plausibel und sie dient dem Erhalt der dreiteiligen Sicherheitsapparate. Denn Polizei, Geheimdienste und Armeen wären gleichermaßen wichtig, wenn sich diese Interpretation durchsetzte, wenn sich die behauptete Identität von Rebellen und Terroristen Geltung verschaffen könnte. Und zugleich lässt sich mit dem Verweis auf "den Terrorismus" interne wie externe Kritik an der je eigenen nationalen Politik diskreditieren. Für alle nationalen Sicherheitsdienste ist es attraktiv, ihre Arbeit als Teil eines globalen Problems, etwa des Kampfes gegen "den Terrorismus" darzustellen.
In dieser Interpretation, die innerstaatlichen Krieg und Terrorismus in eins setzt, überlagern sich alte und neue Codierungen. Reste des Antikommunismus und ererbte Feindschaften zeigen sich etwa in der Entscheidung, die kolumbianische FARC, eine degenierende Guerilla, als Terrororganisation einzuordnen. Die ugandische LRA hingegen geriet zunächst auf die Liste der Terrororganisationen, weil sie vom islamistischen Regime des Sudan unterstützt wurde. Mitterweile gilt als Grund ihre Praxis, Kinder durch Zwangsrekrutierung zu Soldaten zu machen.
Als Organisationen, in ihrer internen Politik, ihren Zielen oder ihren sozialen Ursprüngen haben diese Gruppen wenig bis gar nichts gemeinsam. Deshalb ist es nicht ratsam, sie unter einer einzigen Bezeichnung zu führen und für die Beendigung der Gewalt nur eine einzige Strategie zu ersinnen. Die politischen Strategien, die diese Kriegsakteure einbinden können, werden ganz unterschiedlich ausfallen müssen.
Die Reaktion, eine Vielzahl lokaler Konflikte unter einer Rubrik zu führen und sie politisch einfach zu codieren, erinnert ebenfalls an den Ost-West-Konflikt, wenn nicht an frühere historische Zeiten. Das Bedürfnis der Wissenschaften nach Typisierungen und das der Politik nach einfachen Erzählungen dürften weitere Gründe dafür sein.
Das Eingeständnis, dass die Phänomene politischer Gewalt vielgestaltig sind und nicht nur einer Logik gehorchen, verhindert nicht, dass sich über den politischen Umgang damit Allgemeines sagen lässt. So ungelenk etwa die US-amerikanische Strategie der politischen Öffnung des Nahen Ostens auch daherkommt, sie adressiert einen wichtigen Punkt, an dem sich die Frage der politischen Gewalt in der Region und darüber hinaus lange ausrichten wird: Nur dort, wo die politische Situation als beweglich, als veränderbar erfahren wird, ist die Radikalisierung politischer Opposition zur Bürgerkriegspartei und die Hypostasierung von Splittergruppen zu terroristischen Zellen unwahrscheinlich. Mit der politischen Öffnung muss sich freilich die wirtschaftliche Chance verbinden, die persönlichen Lebensentwürfe auch umsetzen zu können. Der Verlust dieser mittelfristigen und, wenn man so will, kleinbürgerlichen Perspektive ist - als exemplarisches Beispiel - in der palästinensischen Jugend gegenwärtig der Hauptmotor ihrer politischen Radikalisierung.
Eine Politik, die diese politischen und wirtschaftlichen Öffnungen befördern will, muss nun vor allem den Eindruck von Paternalismus vermeiden. Den islamischen Gesellschaften sollte, wie der französische Islamwissenschaftler Olivier Roy betont, die selbstgesteuerte Aneignung ihrer politischen Systeme ermöglicht werden. Sonst wird die gut gemeinte Hilfe von außen vor Ort als erneute Fremdbestimmung erfahren. Das würde den Manichäismus erneut bestätigen.
Klaus Schlichte ist Privatdozent und Leiter der Nachwuchsforschergruppe "Mikropolitik bewaffneter Gruppen" am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin.
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