Zwei Quadratmeter Hongkong

Cage-People in Boom-Town Wohnen im Karton und hinter Gittern

Auch viereinhalb Jahre nach dem Wechsel in die Volksrepublik China ist Hongkong das wichtigste Finanzzentrum Asiens geblieben. Doch hinter den glitzernden Fassaden der einstigen britischen Kolonie verbirgt sich häufig extreme soziale Not. Zehntausende müssen beispielsweise in sogenannten Cages unter kläglichen Umständen leben.

Es ist heiß und stickig. Wong Tung tupft sich den Schweiß mit einem schmutzigen Handtuch von der Stirn. Zusammengekauert sitzt er auf einem Holzschemel. Ständig wandern seine wachsamen Augen durch den Raum, ruckartig dreht er den Kopf nach jedem Geräusch und über die pergamentene Haut seiner eingefallenen Wangen treibt ein nervöses Zucken. Wie ein gehetztes Tier wirkt der 63-Jährige.

Sein Zuhause sind zwei Quadratmeter Hongkong, das heißt, Wong Tung wohnt in einem Cage-Home, einem Gitterverschlag mit Etagenbett, auf dem in weißer Farbe die Nummer 27 steht. Eines von rund 50 in einer schmuddeligen Wohnung im Slumviertel Tai Kok Tsui. Alles, was Wong Tung besitzt, hängt am Gitter seines Käfigs: Ein verbeulter Blechbecher mit Zahnbürste, ein billiger Wecker, ein kleiner Ventilator, ein paar Küchenutensilien, zwei Hemden.

Etwa 200 Menschen leben zusammengepfercht auf 150 Quadratmetern in diesem Cage-Home. Sie leben wie in einem, nach menschlichem Maß gezimmerten Kaninchenstall. Viele Bewohner haben ihre Gitter mit Zeitungspapier abgehängt, um zumindest optisch ein Stück Abgeschiedenheit zu schaffen.

Karton mit Lüftungsschlitz

Stockend erzählt Wong Tung aus seinem Leben. Immer wieder will er das Gespräch abbrechen. Jeden Moment kann der Vermieter auftauchen; die letzten Journalisten wurden aus dem Haus geprügelt. Wong Tung möchte auch nicht, dass seine Familie in China erfährt, wie er haust. Obwohl er schon in diesem Cage wohnt, seit er vor über 20 Jahren aus der chinesischen Provinz Guandong nach Hongkong kam, um als Hilfskraft in den Restaurants der boomenden Metropole Geschirr zu spülen. Ein Platz im Cage kostet umgerechnet 160 Euro pro Monat, eine kleine Wohnung auf dem freien Markt fast das Dreifache. Selbst als Wong Tung noch über 700 Euro verdiente, unerschwinglich.

"Es gibt viele Alte und Alleinstehende wie Wong Tung, die seit Jahrzehnten in Cages wohnen", erzählt Wu Wai Yan, Sozialarbeiterin von der SoCo (Society for Community Organization), ein ökumenischer Verband für die Cage People. Ihre Arbeit ist bitter nötig in Glamour-City. Bis in die achtziger Jahre war Hongkong, damals noch Kolonie der Briten, ein Weltzentrum der Textilindustrie mit vielen Jobs für Ungelernte; auch auf den ungezählten Baustellen der Stadt und im Hafenviertel wurden stetig Arbeitskräfte gesucht. Dann begann die benachbarte Volksrepublik China, unter Deng Xiaoping Sonderwirtschaftszonen mit dem Ziel einzurichten, ausländische Investoren - nicht zuletzt aus Hongkong - abzuziehen. Was unter diesen Umständen an Arbeitsplätzen erhalten blieb, gehörte vorzugsweise zur High-Tech- und Dienstleistungsbranche. Inzwischen liegt die Arbeitslosenrate knapp unter sieben Prozent. Alte, Kranke oder Erwerbslose leben von umgerechnet 500 Euro Sozialhilfe. Arbeitslosengeld wird nicht gezahlt und das jüngst eingeführte Rentensystem nützt Alten kaum noch etwas, sie haben nichts eingezahlt.

Über Nacht kann man in Hongkong sozial abstürzen. Das zeigt ein Besuch mit der SoCo bei den Obdachlosen in der Nähe des Star Ferry Pier, der für seinen fantastischen Ausblick auf die Skyline nicht nur bei Touristen beliebt ist. Vis-à- vis zum Peninsula-Hotel, in dem eine Nacht so viel kostet wie das einem Sozialhilfeempfänger zugebilligte Monatsbudget, schlafen Männer in Pappkartons mit Lüftungsschlitzen. Ein 42-jähriger, aus Hongkong stammender Ingenieur erzählt, wie er in nur drei Jahren von einem gut bezahlten Job in der Zigarettenindustrie bis ganz nach unten durchgereicht wurde: "Erst bin ich meinem Arbeitgeber in die Volksrepublik gefolgt und habe dort geheiratet, wenig später aber meinen Job an einen anderen verloren, der bereit war, ihn für die Hälfte zu erledigen." Seine Frau und die zwei Kinder ließ er in Shanghai zurück, um wieder in Hongkong Arbeit zu suchen. Seit einem Jahr schläft er nun in Pappkartons. Was er mit seinen Aushilfsjobs verdient, braucht die Familie. Jeden Morgen klingelt der Wecker nicht nur in seinem Karton; die Männer hier sind keine Dropouts!

Auf dem Dach

In den Cages leben auch viele Chinesen aus den Küstenregionen der Volksrepublik, die gezwungen sind, ihren kargen Lohn nach Hause zu schicken. Die SoCo betreut hier mitunter ganze Familien. Die Tangs etwa leben mit ihren beiden, 14 und 16 Jahre alten Söhnen in einem Verschlag aus Latten, verrosteten Blechen und Plastikplanen auf dem Dach eines Cage-Hauses - auf ganzen sieben Quadratmetern. Eines der beiden Kinder hockt auf der Matratze und lernt für die Schule. Daneben klappert die Mutter mit Geschirr, es riecht nach Gas. Direkt vor dem Verschlag spielen ein paar Männer lärmend Majong, ein chinesisches Brettspiel.

Für die Unterkunft bezahlen die Tangs umgerechnet 230 Euro. Sieben Quadratmeter in einer Cage-Wohnung wären doppelt so teuer. Die Familie muss von rund 900 Euro leben, die der Vater auf dem Bau verdient. Erst jetzt hat die Familie mit Hilfe der SoCo eine öffentlich geförderte Wohnung zugewiesen bekommen, die 50 Quadratmeter groß ist. Fünf Jahre haben die Tangs darauf gewartet. Allerdings wollen viele ältere Cage-Bewohner nicht in derartige Public Housings. Sie fürchten die Anonymität in den vor der Stadt lagernden Siedlungen. "Wenn ich dort sterbe, merkt das niemand", sagt eine 82-jährige Frau. Dennoch ist die Zahl der Cages durch die Arbeit der SoCo deutlich gesunken: 1997 gab es rund 320 registrierte Cage-Etagen, heute noch 100 bis 110, davon knapp 50 illegale.

1998 wurde ein Gesetz erlassen, das Mindeststandards vorschreibt. Für acht Cage-Bewohner muss eine Toilette vorhanden sein, Mindestbreiten für die Korridore sind ebenso vorgeschrieben wie Brandschutzmaßnahmen. - "Dieses Gesetz hat bewirkt, dass jetzt weniger Leute hier leben", sagt Wong Tung, der alte Mann aus Guandong. In der Etage, in der sein Käfig steht, scheint nur noch jeder zweite Platz besetzt. So ist es vergleichsweise ruhig, abgesehen von den Rufen des geistig verwirrten Mannes, der unter Tungs Platz liegt. Immer mehr Randgruppen suchen jetzt in den Cages einen Zufluchtsort - Drogenabhängige, Ex-Häftlinge, viele psychisch Kranke. Bei Wong Tung leben sogar zwei in einem Etagenbett, direkt neben dem Waschraum und der Toilette, aus der ein beißender Geruch herüber strömt. In den schmutzigen Zellen hängen Kabel von den Wänden, und der Kachelfußboden ist von einer schleimigen Schicht überzogen.

"Hongkong wird eines Tages sterben ohne Industrie", sagt einer der beiden plötzlich und schaut aus geröteten Augen ins Leere. Sein Nachbar dämmert auf einer Bastmatte vor sich hin, neben sich eine alte Keksdose randvoll mit Zigarettenkippen. "Eigentlich bräuchten diese Männer eine spezielle Betreuung", meint Wu Wai Yan, "aber darum kümmert sich niemand.".

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