"COMPUTERISIERUNG" DER GESELLSCHAFT Ein Porträt der Internetsoziologin Sherry Turkle, die Chancen und Gefahren der Interaktion von Menschen und Rechnern erforscht
Geht es um die Auswirkungen der virtuellen Realitäten des Cyberspace, dann kann Sherry Turkle kaum mehr etwas verwundern. Seit mehr als zwanzig Jahren beschäftigt sich die Wissenschaftssoziologin am renommierten Massachusetts Institute of Technology mit dem Verhältnissen von Menschen und Computern, hat Tausende von Usern befragt und umfassender als jeder andere Sozialwissenschaftler die Auswirkungen der neuen Medien auf die individuelle Psyche und die Gesellschaft im Ganzen untersucht. Die Reaktion ihrer siebenjährigen Tochter während eines Urlaubs an einem italienischen Strand überraschte sie dennoch: "Sie zeigte ins kristallklare Wasser und meinte: ÂMummy, schau Dir die Qualle an. Sie ist so real.Â"
Ihrem aktuellen Buch Leben im Netz hat
en im Netz hatte Turkle passenderweise ein Zitat des Dichters Walt Whitman vorangestellt: "Es war einmal ein Kind, das jeden Tag größer wurde, und in den ersten Gegenstand, den es betrachtete, verwandelte es sich." Dieses Ding ist heute natürlich oft der Computer. Und eine der zentralen Forschungsfragen für Sherry Turkle ist, wie denn diese "Verwandlung" konkret aussieht, bzw. wie sich die immer unschärfer werdende Trennung zwischen realen und künstlichen Welten auf unsere Gesellschaft auswirkt. Die Simulation, so Turkle, sei die große Herausforderung der Zukunft - vor allem für die heranwachsenden Generationen.Begonnen hatte sie allerdings ganz anders, nämlich mit einer Arbeit über die Rezeption der Psychoanalyse in Frankreich, womit sie an der Harvard University in Soziologie und Psychologie promovierte. Bald darauf begann sie am MIT in Boston zu arbeiten und schlug in diesem neuen Arbeitsumfeld - einer der Geburtsstätten der US-amerikanischen Computerkultur - eine neue Richtung ein: Sie interessierte sich fortan für die Interaktionen zwischen Menschen und Computern. Das Ergebnis ihrer ersten, sechs Jahre dauernden Forschungen war The Second Self (Die Wunschmaschine), jene inzwischen klassische Studie, in der Turkle erstmals zeigte, wie Computer unser Nachdenken über die menschliche Psyche radikal veränderten. Noch mehr Aufmerksamkeit erregte ihre zweite große Studie, Life on the Screen, für die sie jahrelang Benutzer von so genannten Multi User Domains beobachtet hat. In diesen virtuellen Räumen übernehmen die Teilnehmer fremde Identitäten - was laut Turkle zur Folge hat, dass ihr "Selbst" in viele "Teil-Ichs" aufgespalten wird und die Selbstdarstellungen in der virtuellen Realität vergleichbar werden mit jenen im Real Life (RL). In den Worten eines der befragten Nerds: "RL ist nur ein Fenster von vielen, und es ist gewöhnlich nicht mein bestes." Der MIT-Professorin trug dieses 500-seitige Buch unter anderem einen Platz unter den Top 50 der "Cyberelite" des Time Digital Magazine und eine Nominierung im Magazin Newsweek unter den wichtigsten 50 Denkern für die Zukunft ein. Sie wurde zur führenden Psychologin des Cyberspace und damit auch zur gefragten Expertin für die Kommunikationsbranche.Was die MIT-Professorin zu sagen hat, entzieht sich einerseits der hierzulande immer noch verbreiteten Schwarzweißmalerei in Sachen Neue Medien. Andererseits ist alles, wovon sie berichtet, durch empirische Studien abgesichert. Die Möglichkeiten, die das Internet den Erwachsenen zur spielerischen Erweiterung ihrer Identität bietet, sieht sie durchaus positiv - nicht ohne zugleich darauf zu verweisen, dass bei Jugendlichen, die noch keine sichere Identität besitzen, diese Simulationen nicht nur positive Folgen haben könnten.Das wieder heißt für die Psychologin und Mutter noch lange nicht, den Zugang zum Computer oder zum Internet für Heranwachsende - auch aus Gründen der Zensur - einzuschränken. "Das Problem für Kinder und Jugendliche ist nicht, etwas Pornografisches im Internet zu sehen. Es besteht darin, niemanden an der Seite zu haben, mit dem sie darüber sprechen können. Es gibt im wirklichen Leben und in den Medien viele Dinge, die für Kinder beunruhigend sind, und da wie dort müssen Kinder lernen, die Dinge zu kontextualisieren - wozu es eben Erwachsene braucht."In Sachen Computerunterricht sieht Turkle grundsätzlichen Reformbedarf: Zum einen hält sie es für kontraproduktiv, künstlerische und geisteswissenschaftliche Fächer oder den Tanzkurs dem Computer zu opfern. Zum anderen plädiert sie dafür, den Schülern weiterhin Grundbegriffe des Programmierens zu vermitteln, statt den Umgang mit Softwareprogrammen wie PowerPoint einzuüben. "Früher wurde durch das Erlernen einer Programmiersprache - wie sinnvoll auch immer das war - auch die Funktionsweise des Computers als solchem transparenter. Heute bedeutet, Âtransparent im Umgang mit Computern: Man kann auf etwas klicken und es funktioniert, ohne dass wir wissen, wie es funktioniert." Welche fatalen Auswirkungen es haben kann, wenn Kindern und Jugendlichen nicht mehr über die programmierten Simulationen des Computers aufgeklärt werden, erläutert Turkle anhand einer Anekdote aus ihren aktuellen Forschungen: Sie fragte Lehrer nach jenen Schülern, die sie für die größten Computer-Begabungen hielten. "Eine Lehrerin nannte mir eine Schülerin, deren Kenntnisse - wie sich später herausstellte - vor allem in der Beherrschung des Computerspiels SimCity bestand, wo es um simulierte Städte geht. Ich kam dann mit der Schülerin auch auf wirkliche Politik zu sprechen, woraufhin sie mir erklärte: ÂEs gibt zehn Gebote von Sim. Das sechste Gebot lautet: ÂSteuererhöhung führt immer zu Tumulten. Dieses Mädchen war also völlig gespalten in ihrer Fähigkeit, SimCity zu beherrschen und über Politik nachzudenken."Auch in ihrer alltäglichen Verwendung sieht Sherry Turkle die Revolution durch die neuen Kommunikationstechnologien mit gemischten Gefühlen: "Früher", erinnert sie sich, "brauchte es einiges, um Zugang zu mir zu bekommen, telefonisch einen Termin auszumachen. Das haben nicht allzu viele Studierende gemacht. Und wenn damals am Faxgerät eine Nachricht kam, schallte es durch das ganze Institut: ÂEin Fax ist da, ein Fax ist daÂ." Heute hingegen kriegt sie im Schnitt mehr als 300 E-Mails täglich. "Die Studierenden und all die anderen, die mit mir Kontakt aufnehmen wollen, tippen einfach sturkle@media.mit.edu - und erreichen mich. Ich jedenfalls kann so nicht weitermachen."In Zukunft werde es entsprechend viel mehr als heute um das Beschränken, das Aussortieren von Informationen und Kommunikationen gehen. "Welchen Anruf nehme ich am Handy entgegen? Welches E-Mail beantworte ich? Ich denke, wir stehen erst am Anfang, unsere eigene Robustheit in Sachen Informationsverarbeitung zu erkunden." Gleichzeitig gehe es aber auch nicht an, sich nur im Selbsttest den Technologien auszuliefern: "Man hat mir immer wieder vorgeworfen, dass ich bloß untersucht hätte, was die Computer aus uns machen. Tatsächlich meine ich, dass wir nicht alle Veränderungen durch die neuen Technologien einfach hinnehmen müssen: Wir sollten aggressiver damit umgehen und uns immer fragen, was sie uns tatsächlich bringen."Sherry Turkle: Leben im Netz. Identität in Zeiten des Internet. Reinbek 2000 (Rowohlt TB). 543
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