... damit künftige Generationen nicht auf dumme Gedanken kommen
ZUR SOGENANNTEN 68ER-DEBATTE Wen interessieren noch die Tatsachen? Wenn die Zeitzeugen dereinst verstummt sind, wird die Rechte den Kampf um die Geschichtsschreibung gewonnen haben
Als im Jubiläumsjahr 1997 das Gespenst der RAF in Presse und TV zur Feier von "20 Jahre Stammheim" gebeten wurde - aufgebläht, als hätten die Vampire in den Anstalten und Verlagen 20 Jahre kein Blut zu lecken gehabt - dachte ich, hoffte ich: Dies war's nun... noch einmal, zum letzten Mal, die abgeschabten Steckbriefgesichter! Und als wieder, zum dritten oder vierten Mal, jener TV-Schauspieler seine Hinrichtungspistole in Hans Martin Schleyers Nacken hielt, in Breloers Herbstgeschichten: Dies war's nun wirklich...
Auf Anfrage schrieb ich auf, was mir noch zu sagen nötig oder möglich schien, es war für einen Vortrag im Berliner Ensemble, mein "letztes Wort" in dieser Sache, und bitte nie wieder.(*) Das war eine Täuschung. Heute, 2001, ist zu sehen: Das RAF-G
Das RAF-Gespenst wird weiter geistern, alle fünf oder zehn Jahre neu belebt, und auch in den Zwischenräumen. Warum? Weil die entstellten Gesichter der Stammheim Five dazu ausersehen sind, die Geschichte von "68" insgesamt historiographisch abzuführen: in den Geschichtsgulli, als "kriminell" beziehungsweise als "nie gewesen". So wie Billy The Kid geistert, und so wie sich kein Mensch in Deutschland "erinnert", was der Aufstand der Ruhrarbeiter 1920 gewesen ist. Es hat ihn nicht gegeben, so wie es "68" eines Tages nicht gegeben haben wird.(**) Diedrich Diederichsen spricht vom 68er-Bashing als längst etabliertem "Volkssport", in der Tat waren alle daran beteiligt, von Spex bis Bild. Es darf in Deutschland kein Andenken geben an irgendeine je gelungene oder auch nur halbwegs passable Revolte.Was befürchtet wird: Würde man den Komplex "68" auch nur in seiner mildesten Positivform als "Aufbruch der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft in die nach-faschistische Zivilisation" - wie Antje Vollmer das gern phantasiert - durchgehenlassen, der Mythos von "68" würde unentwegt wachsen; ins Riesenhafte, Hyper-Legendäre; unabhängig von den "Tatsächlichkeiten", die 68 ausmachen. Die deutsche "Rechte", der deutsche "Kohlismus", die hier herrschenden Kräfte seit, sagen wir: 1250, würden das niemals zulassen. Und sie werden gesiegt haben, am Ende, wie immer.Es geht beim Aufzeichnen nicht um die Tatsachen der Geschichte, es geht um die Art und Weise, in der diese im Andenken einer Gesellschaft konserviert oder gespeichert werden. Dabei gilt: "Die Archivierung bringt das Ereignis in gleichem Maße hervor, wie sie es aufzeichnet" - so (immer wieder) Jacques Derrida, Archivierungsspezialist. Die meisten Aufzeichnungen verschwinden, andere werden kanonisiert. Vernünftige Töne werden meist in den Wind gesungen sein, macht aber nichts; "geschichtlich" muss man sowieso immer von Wimpernschlägen leben, fürs Dauerhafte langen die Mythenhauer zu. Hitler in der Mythowelt darf immerhin als Foto überleben, die Stammheimer nur als Steckbrief, aber umziehen dürfen sie; der leerstehende Kyffhäuser braucht dringend Zwischenmieter...Der Zeitpunkt, da historische Ereignisse ihre Hundemarke umgehängt bekommen, lässt manchmal auf sich warten, aber er kommt. Es geht um das Label, unter dem sie von da an und in Zukunft abgerufen werden können, unter dem sie erhalten bleiben, oder auch vergessen beziehungsweise ausgelöscht werden. Im Moment sieht es so aus, als würde geprüft, ob der Komplex "1968" schon reif ist für sein Hundemärkchen. Den ersten Auslöschungsversuch von "68" LIVE habe ich erlebt, als es 68 noch gar nicht gab, um 1964 von Günter Grass: "Links von der SPD gibt es Nichts", lautete sein Diktum. Der Satz sollte Kieler SDS-Studenten, mit denen Grass diskutierte, davon abhalten, sich doch links von der SPD etwas vorzustellen. Wie man weiß, schlug Grass' Versuch gründlich fehl. Aber Geschichte wird dauernd umgeschrieben, beziehungsweise neu aufgetischt oder gelöscht, und manchmal sogar, bevor sie passiert ist.Ebenso muss ein aktueller Versuch nicht aufs Gegenwärtige zielen: die momentanen Festschreibungsversuche sind vor allem fürs Kommende gedacht. Im deutschen Geschichtsfundus soll weder die Erinnerung an wirkliche Revolten gegen die Staatsmacht, Heeresmacht, Industriemacht, Männermacht Fuß fassen, noch soll die Möglichkeit zukünftiger Revolten überhaupt im Bereich des Möglichen erscheinen. Die Rede der Politiker, und darin sind sich alle einig, lautet: wir sind sowieso das Beste, was ihr überhaupt bekommen könnt, also Hush, little Baby, don't you cry. Das ist auch der Hintergrund des hektischen Wett-Tragens schwerer Verantwortungen: Es soll uns erzählen, wir hätten es mit historischen Subjekten zu tun, nicht mit den (doch so gut sichtbaren) Kasperpuppen. Mit der Wahrnehmung der Politiker als solcher fing ja bekanntlich das alte 68 an...und kann sich doch jederzeit wiederholen...Vor allem, damit jetzige und künftige Generationen nicht auf dumme Gedanken kommen, ist der Sturm im Medienglas also da; erst in zweiter Linie gelten die Ablenkungsmanöver hoher Politiker der befürchteten Aufdeckung eigener Kriminalität. Dazu bräuchten Leute, die sich um "Legalität" nie groß gekümmert haben, nicht unbedingt ein mythologisch zurechtgebogenes "68". "Legalität" war, historisch, nie ein Hauptproblem der Rechten. Eher ein Problem von Einsatz und Risiko, nicht eins "des Rechts". Oft lautet der Einsatz schlicht Denunziation. So auch diesmal: Da an der freiheitlichen Substanz von "68" ebenso schwer herumzudeuteln ist, wie an der emanzipatorischen der feministischen und ökologischen Gruppen der 70er Jahre, wird mit gröberen Mitteln vorgegangen. Irgendwelche Tatsachen von 68ff interessieren dabei in der Tat niemanden. Es wird geholzt, und erstmals ganz ohne Visier. So primitiv und petzenhaft, wie Gerhardt, Westerwelle, Merkel Co. das allerdings vortragen, wird der Versuch für dies Mal noch scheitern, aber er wird wiederholt werden. Die Rechte ist ewig, die Rechte hat Zeit. Irgendwann verstummt der Widerspruch, sind die Zeitzeugen tot. Es bedarf dazu nicht unbedingt eines so hilfreichen Geschichtseinschnitts wie 1933...So zielt der heutige Zuruf "Distanzieren" nur sekundär auf Widerruf der politischen Haltung Einzelner ("Jugendsünden"); er zielt auf die Vernichtung des libidinösen Ausbruchs der 60er insgesamt. Fischer/Trittin eignen sich so gut als Zielscheiben, weil sie mit der Sache, um die es geht, nichts mehr zu tun haben. Gerade weil sie ihren Gegnern von den Oppositionsbänken so ähnlich geworden sind, sind sie so gut treffbar. Dies zu bemerken, reicht der Verstand der plietschen Pappnasen um Merz und Merkel allemal. Eine richtig schöne Klemme. Zudem brennen in der Kulisse die Feuer der kommenden grünen Apokalypse "Gorleben". Bald, sehr bald schon, wird die von den Leithammeln so geflissentlich dementierte Gewalt täglich über die Schirme flimmern..., auch deswegen konnte "der Steinwurf" derart zum Medienhit avancieren... der kommenden Würfe wegen... und natürlich sollen Leute, die sich auf die Schienen setzen, weggeprügelt werden können als Gewalttäter... Was für ein Wolkenbruch von Distanzierungen!... die Merz, Merkel, Meyer reiben sich schon... Hunderte von Polizisten werden befördert zu Menschen, die dereinst von Würdenträgern Entschuldigungen einklagen dürfen...per E-Mail und am Live-Telefon...Dies Kraftfutter für die Backenmuskeln der tiermehlresistenten Westerwelle, Gerhardt, Wissmann Co lässt sie aufblühen (auch nach rückwärts: natürlich waren sie, samt der ganzen radikaldemokratischen Horde von Günter Grass bis Wolfgang Schäuble, die richtigen 68er); der OB der Stadt, in der ich wohne, outet sich im Lokalblatt als begehrtes Objekt polizeilicher Wasserwerfer des Frühjahrs 1968: Straßenbahndemonstrationen! Nebbich, er war genauso ein strammer sozialdemokratischer Autokrat wie jetzt und half Studenten aus dem Saal treiben, die auf die abwegige Idee verfallen waren, SPD-Versammlungen aufzumuntern. Es ist aber ganz sinnlos, die offenkundigen "Verlogenheiten" öffentlicher Figuren gegen sie ins Feld zu führen. Das prinzipiell Verlogene ist allen anderen Äußerungsformen auf Dauer überlegen, da es sich einfach wiederholt, lächelnd, kühl, strategisch... Politiker-Metier... und wird sich durchgesetzt haben... in the end.Arbeitsteilig unterstützt wird das von routinierten Duftmarkensteckern "links". "Joscha" Schmierer, 1969 im SDS-Bundesvorstand, in den 70ern Haupt einer K-Gruppe, gibt in der FAZ vom 17.1.01 zum Besten (wie immer spricht er großzügig für die ganze 68erGeneration): "Demokratie stand von Anfang an im Zentrum der Auseinandersetzung und ist die Kernfrage dieser Generation geblieben. (...) Die Demokratiefrage blieb auch im Zentrum der Streitereien zwischen den Gruppen, die das politische Erbe des SDS antraten."So gelogen wie möglich. Haben wir alle Parkinson? Sonst wüsste doch noch wer, dass derselbe Schmierer - heute in Fischers AA-Beraterstab - in den 70ern jeden Linksmenschen, der Pekings Version der Einparteiendemokratie nicht propagierte, schriftlich an die Laterne wünschte. Aber wozu "Richtigstellungen". Er wird gesiegt haben: seine heutige Version der 68er-Immer-schon-Demokraten dürfte dereinst das gute, das durch die Waschmaschine gegangene Mythos-Gegenstück zu den "68er-Kriminellen" abgeben. Der Mann liegt immer richtig.Dass sich der allergrößte Teil der 68er, wenn man sie als "Generation" beschreiben will, unter dem Stichwort "außerparlamentarisch" zusammenfassen ließ: Wer will das noch "wissen"; zweitens unter dem Stichwort "pazifistisch"; pazifistische Steinewerfer, so etwas gab's. Wobei ich "persönlich" Wert darauf lege (nicht vor einer Öffentlichkeit, sondern vor mir selbst und den mir Nahestehenden), dass ich einen Stein in Richtung "anderer Mensch" nie befördert habe. Die Unverletzlichkeit der Haut anderer Körper ist die politische Geschäftsgrundlage, der Gesellschaftsvertrag sozusagen; mein Demokratieverständnis....trotzdem natürlich höchst ungerecht, wie wenig einem Mann, der gerade erst erfolgreich ein 2. Auschwitz verhindert hat, ein blinder Steinwurf oder ein Faustschlag gegen einen einsamen Uniformierten namens Marx nachgesehen wird. Das geht nach dem alten preußischen Prinzip ausgleichender Gerechtigkeit: Solange man jemand bi de Büx kriegen kann, wird nichts gelöscht. Als die Nazis 1933 an die Macht kamen, holten sie im Ruhrgebiet die Denunziationslisten mit den Namen der Arbeiter aus den Schränken, die beim Aufstand 1920 dabei waren. Insbesondere interessierte sie, wer mit einem Gewehr über der Schulter der Sonne ins Gesicht gelacht hatte. Die neuen Herren gingen in die Häuser, holten die "1920er" heraus, verprügelten sie, beglichen alte Rechnungen, kühlten Mütchen, wenn's glimpflich ging. Andere Revolutionäre kamen ins KZ. Gelöscht war nichts. Irgendein Arschgesicht hinter einer Gardine oder im eigenen Verein hatte immer mitgespitzelt, aufnotiert und weitergemeldet. Nach der Devise: freiheitlichere Leute in Deutschland, und seien sie noch so schemenhaft freiheitlich, gehören in den Knast, und nicht etwa in Regierungen. Der unverhohlene Beifall von Teilen des CDU-Fußvolks zum Schröder-Fahndungsplakat unterstrich die Lebendigkeit dieses Syndroms (- womit zum Status Schröders noch gar nichts gesagt sein soll). Steckbrief-Gehirne. Zum Glück liegen die Machtverhältnisse etwas anders, heute; und das nicht ganz von alleine.Aus der tief gefühlten Verpflichtung von Politikern und Diplommythologen, den Komplex "68"ff insgesamt als "kriminell" ins modern Talking zu überführen, (und gleichzeitig das alte Lied von erlaubten Kriminellen an Regierungsspitzen neu aufzulegen), ergibt sich die zyklische Wiederaufbereitung der Stammheim Five in der Steckbriefform schließlich zwingend: In ihnen war "68" bereits abgeführt, unter dem bewährten Signum "M", Fritz Langs Darstellung der Atmosphäre des Jahrs 1931. Zu diesem Behufe werden die RAFler überleben, und nur sie. Venceremos! ... bloß etwas anders, als sie wollten... You Can't Always Get What You Want... nur der abstrakte Gesamtkohlist bekommt's... mit Verspätung... der Entstellung flicht die Nachwelt gerne Kränze...Vielleicht handelt man die Stories von 68 also gleich besser ab wie die von Puh, dem Bär ...was wissen wir, in welchen Kinderbüchern wir gelandet sein werden, im Jahr 2068, wo das Buch des Apostels G. Marcus zum ersten anerkannten Evangelium des Erlösers Elvis P. Christ offiziell erhoben sein wird: Des Mannes, der für uns alle starb - singend! - am Kreuz der Drogenqual... I'm All Shook Up......oder man vergisst den Kram, und kümmert sich um was Gescheites...(*)Als "Bemerkungen zum RAF-Gespenst. Abstrakter Radikalismus und Kunst", in Ghosts, Stroemfeld Verlag, Ffm 1998; die Rede im Original auf CD bei supposé, Köln, 2001.(**)Es hat auch den KP-Widerstand gegen Hitler im offiziellen CDU-Deutschland nicht gegeben, und es gibt ihn (nach 1990) erst recht nicht. Es gibt dafür, im neuen Gesamtdeutschland, den Mythos eines erheblichen christlichen Widerstands gegen das DDR-Regime. - (Aber ob es die DDR überhaupt "gab"?)
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.