Am Sonntag wählen 380 Millionen Europäerinnen und Europäer zum achten Mal ihre gemeinsame Vertretung. 96 der insgesamt 751 Abgeordneten des EU-Parlaments werden von den Bundesbürgern auserkoren und stellen damit die größte nationale Gruppe in der Versammlung. Doch das Interesse an den Wahlen ist bescheiden. Schon beim letzten Mal lag die Wahlbeteiligung in Deutschland bei nur 43 Prozent – und damit genau im europaweiten Durchschnitt. Zur letzten Bundestagswahl gingen immerhin 71,5 Prozent. Dabei ist es alles andere als unwichtig, wer im EU-Parlament sitzt – gerade auch für die Klimapolitik.
"Das Parlament spielt eine Hauptrolle in der europäischen Umweltpolitik", sagt Julia Michalak vom Climate Action Network Europe, einem zivilgesellschaftlichen Bündnis für europäischen Klimaschutz. "Man kann schon sagen, dass das Parlament die 'grünste' unter den EU-Institutionen ist." Seit den 80er Jahren ist der Einfluss des EU-Parlaments schrittweise gewachsen, sagt Michalak, zuletzt noch mal ein ganzes Stück durch den Vertrag von Lissabon vor fünf Jahren. Der Lissabon-Vertrag legt fest, dass das Parlament gleichberechtigt mit dem Ministerrat an den wesentlichen politischen Entscheidungen beteiligt werden muss. Das heißt: Damit ein EU-Gesetz Gültigkeit bekommt, muss neben den Regierungsvertretern der Mitgliedsstaaten jetzt fast immer auch das Parlament zustimmen.
"Auf der formalen Ebene hat das EU-Parlament eindeutig an Bedeutung gewonnen", sagt Severin Fischer von der Stiftung Wissenschaft und Politik, der sich seit Jahren intensiv mit europäischer Energie- und Klimapolitik befasst. Das zeige sich nun auch im Selbstverständnis der Parlamentarier. Sie sehen sich jetzt auf Augenhöhe mit den beiden anderen europäischen Machtzentren, der EU-Kommission und dem Ministerrat. Das bestätigt auch Rebecca Harms. Die Fraktionsvorsitzende der Grünen ist seit zehn Jahren Abgeordnete im Europaparlament. "Bei der Gesetzgebung zur Klima- und Energiepolitik entscheidet das EU-Parlament voll mit, hat also einen starken Einfluss."
Beispiel: Die Energieeffizienz-Richtlinie
Ein Beispiel dafür, wie das Parlament den Klimaschutz voranbringen kann, sofern dort die richtigen Leute sitzen, ist die Energieeffizienz-Richtlinie, die die EU im Juni 2012 verabschiedet hat. Dieses Rahmengesetz legt fest, wie stark die Mitgliedsstaaten dazu gezwungen werden, Energie einzusparen und ihre Wirtschaftsstruktur langfristig klimafreundlicher zu machen. Die EU-Kommission, die das Initiativrecht für Gesetzesvorschläge besitzt, hatte die Verhandlungen zur Effizienz-Richtlinie mit einer relativ schwachen Vorlage eröffnet. "Der Grüne Berichterstatter Claude Turmes konnte aber die Vorschläge für die Effizienzrichtlinie verbessern und gegen die Interessen der Mitgliedsstaaten verteidigen", berichtet Rebecca Harms. Der Politikwissenschaftler Severin Fischer formuliert es vorsichtiger: "Immerhin hat das Parlament erreicht, dass die Richtlinie nicht komplett verwässert wurde." Vor allem die – damals noch schwarz-gelbe – Bundesregierung in Berlin hatte versucht, effektive Effizienzmaßnahmen zu verhindern.
Trotz des formell gewachsenen Einflusses des EU-Parlaments gibt es aber auch einen gegenläufigen Trend: "In den letzten Jahren konnte man beobachten, dass trotz des Vertrags von Lissabon immer mehr Entscheidungen in den Europäischen Rat gewandert sind", erklärt Severin Fischer. Im Europäischen Rat, besser bekannt als EU-Gipfel, kommen die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten zusammen. Das Gremium zählt nicht zu den gesetzgeberischen Organen der Union, sondern nimmt im Institutionengefüge der EU eine Art übergeordnete Stellung ein.
Als ein Beispiel für diesen Trend nennt Fischer den sogenannten 2030-Prozess. Hier geht es darum, welche Klimaziele sich Europa für das Jahr 2030 setzt. Soll es nur noch ein übergreifendes CO2-Reduktionsziel geben oder wie bisher drei Ziele – für die CO2-Reduktion, den Ausbau der Erneuerbaren sowie fürs Energiesparen? Und wenn es ein Erneuerbaren-Ziel gibt, soll es nur ein übergeordnetes Ziel für die gesamte EU oder auch wieder ein individuelles Ziel für jeden Mitgliedsstaat geben?
"In diesem Prozess fällen nicht der Ministerrat und das EU-Parlament die Entscheidungen, sondern der Europäische Rat", analysiert EU-Experte Fischer. Das heißt: Bevor ein Gesetz den ordentlichen Gesetzgebungsprozess durchläuft, haben die Staats- und Regierungschefs schon alle entscheidenden Punkte unter sich ausgemacht. "Die echten Gesetzgebungsorgane winken das dann nur noch mit kleinen Änderungen durch." Der Grund hierfür: "Seit 2011 hat sich die Aufmerksamkeit wieder stärker auf die nationalen Strategien und die Durchsetzung nationaler Interessen verschoben." Das habe mit Entwicklungen wie der Energiewende zu tun, aber auch mit den ausbleibenden Ergebnissen der internationalen Klimaverhandlungen.
Auch Rebecca Harms sieht die nationalen Interessen wieder im Vordergrund. "Das Parlament hat sich ganz klar für die Festlegung von drei verbindlichen Klimazielen ausgesprochen – aber die Staaten sitzen am längeren Hebel", beklagt sich die Abgeordnete. "Der Wunsch Großbritanniens, um jeden Preis die Atomkraft ausbauen zu wollen, oder Polens Festhalten an der Kohle verhindern dann verbindliche und ehrgeizige Ziele zum Ausbau der Erneuerbaren, zur Energieeinsparung und zur Emissionsminderung." Kurz: Die Staats- und Regierungschefs wollen sichergehen, dass sie nicht am Ende eines komplexen Verhandlungsprozesses zwischen EU-Kommission, Parlament und Ministerrat etwas vorgesetzt bekommen, das ihnen nicht passt.
Regierungen an Parlament: Friss oder stirb
"Wie groß der Einfluss des Parlaments ist, hängt heute sehr stark davon ab, wie hoch die Staaten das Thema hängen", analysiert Politikexperte Fischer. Und das wiederum sei abhängig davon, wie sehr die bei einem bestimmten Thema ihre Interessen berührt sehen. "Für das EU-Parlament heißt es dann in vielen Fällen nur noch: Friss oder stirb", so Fischer. "Hinzu kommt, dass sich oft nur schwer einschätzen lässt, wie das Parlament entscheiden wird." Denn die Mehrheiten bei Abstimmungen im Parlament seien oft sehr knapp. "Das kann ganz schnell von der einen in die andere Position umschlagen." Zu unberechenbar für die Staats- und Regierungschefs.
Ganz so pessimistisch sieht Stefanie Langkamp die Lage nicht. "Bei der Festlegung der Richtungsentscheidungen hat das EU-Parlament keinen so großen Einfluss wie die Staats- und Regierungschefs", gesteht zwar auch die Klimapolitik-Expertin zu, die seit Jahren für den Deutschen Naturschutzring (DNR) beobachtet, was in Brüssel passiert. "Bei der Ausgestaltung der konkreten Gesetze ist das aber anders." Daran sei das Parlament ganz wesentlich beteiligt.
Konkret geht es etwa um die Frage, wie viele Zertifikate die europäischen Unternehmen beim Emissionshandel künftig kostenlos zugeteilt bekommen. Kann das EU-Parlament hier durchsetzen, dass Unternehmen für ihre Zertifikate zahlen müssen, ändert das zwar erstmal nichts an der eingesparten Menge an CO2. Langfristig aber bedeuten weniger kostenlose Zertifikate einen höheren CO2-Preis. Damit haben die Unternehmen mehr Anreize, in emissionssparende Technologien zu investieren.
Oder es geht darum, wie viele Zertifikate über die sogenannten flexiblen Mechanismen angerechnet werden dürfen: Clean Development Mechanism und Joint Implementation heißen diese Treibhausgas-Bilanztricks, bei denen das CO2-Sparen billig ins Ausland verlagert werden kann. Je mehr hier erlaubt ist, desto mehr wird der europäische Emissionshandel geschwächt – und damit der Klimaschutz.
Nicht nur Gesetzgebung
Die Einflussmöglichkeiten des Parlaments beschränken sich jedoch nicht auf die gesetzgeberische Rolle. Die Abgeordneten können die politischen Prozesse in Brüssel auch noch auf anderen Wegen beeinflussen. "Neben dem eigentlichen Gesetzgebungsverfahren kann sich das Parlament mit sogenannten Own Initiative Reports in das Geschehen einschalten", sagt Imke Lübbeke, die die Energie- und Klimapolitik der EU für den WWF verfolgt. Mit diesen Berichten nimmt das Europaparlament auf eigene Initiative zu politischen Themen Stellung.
Zuletzt hat es sich mit einem solchen Report in den 2030-Prozess eingemischt, und zwar kurz nachdem die EU-Kommission ihre Position zu den Klimazielen bekannt gegeben hatte und kurz bevor die Staats- und Regierungschefs darüber berieten. "Dass sich das Parlament genau zu diesem Zeitpunkt für drei ambitionierte Ziele – für die CO2-Reduktion, den Ausbau der Erneuerbaren und die Verbesserung der Energieeffizienz – ausgesprochen hat, hat ein starkes politisches Signal gegeben", sagt Lübbeke. Denn an diesen Zielwerten habe die Öffentlichkeit dann die Beschlüsse der Staaten messen können. Die hatten zwischenzeitlich stark dazu tendiert, nur noch ein einziges, EU-weites Ziel für die Reduktion von Treibhausgasen festzulegen. Lübbeke: "Die drei Ziele sind wichtig, um sicherzustellen, dass die zukünftigen Investitionen in saubere Technologien wie energieeffizienz und Erneuerbare energien statt in Kohlekraftwerke oder Schiefergas getaetigt werden." Endgültig entscheiden wollen die Staats- und Regierungschefs aber erst im Oktober.
Eine wichtige Rolle spielt das EU-Parlament für die Unterstützung von Demonstrations-Projekten. So hat es vor einigen Jahren dafür gesorgt, dass beispielhafte Erneuerbare-Energien-Projekte über Auktionserlöse aus dem Emissionshandel finanziert werden können. "Damit wurde erstmals ein Finanzierungstopf auf EU-Ebene durch das Engagement des Parlaments eröffnet", sagt Fischer. 2012 wurden über den sogenannten NER300-Fonds insgesamt 1,2 Milliarden Euro an 23 Projekte ausgeschüttet.
Europäische Persönlichkeiten
Natürlich trägt das Parlament auch über herausragende Abgeordnete zur politischen Willensbildung bei. "Einige Persönlichkeiten spielen hier eine ganz entscheidende Rolle. Sie können bestimmte Themen vorantreiben, die sonst weniger Beachtung finden würden", hat Imke Lübbeke vom WWF erlebt. Wichtig für den Bereich der Umweltpolitik allgemein sei etwa Jo Leinen, für den Bereich der Energieeffizien zum Beispiel der Grünen-Politiker Claude Turmes, der sich vor allem bei der Verabschiedung der Energieeffizienz-Richtlinie als Berichterstatter einen Namen gemacht hat. "Leute wie Jo Leinen oder Claude Turmes wirken nicht nur über Parteigrenzen hinweg, sondern tragen über ihre gute Vernetzung im politischen Milieu erheblich zur Positionsbildung bei."
Es ist also alles andere als egal, wer einen Sitz im EU-Parlament bekommt. "In der Vergangenheit lag der Ministerrat mit seiner Position im Bereich der Energie- und Klimagesetzgebung in der Regel unter dem, was die Kommission gefordert hat", sagt Lübbeke. Das Parlament habe dagegen häufiger ambitioniertere Positionen vertreten und die Positionen von Kommission und Ministerrat ausbalanciert. "Insofern hat das Parlament für den Klimaschutz eine sehr wichtige Rolle gespielt." Und dies umso mehr, als auch die Kommission, in letzter Zeit dazu neigen, schon von Vornherein mit schwachen Gesetzesvorschlägen in die Verhandlungen zu gehen.
"Das Parlament denkt in der Tendenz eher europäisch und geht damit über die Positionen der Nationalstaaten hinaus", urteilt auch Stefanie Langkamp vom Deutschen Naturschutzring. Gerade diese Grundtendenz aber ist momentan gefährdet. Für die kommende Wahl prognostizieren Experten, dass, begünstigt durch die niedrigen oder nicht vorhandenen Sperrklauseln, mehr europa- und auch klimaskeptische Abgeordnete ins Parlament einziehen könnten. Ein Grund mehr, wählen zu gehen.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf klimaretter.info.
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