Dem menschlichen Leben auf der Spur, das sind viele in den medialen Welten. Doch was die Journalisten finden und tagtäglich sehen und hören lassen, könnte verschiedener kaum sein. Eine der breiten Spuren führt zum Leben von Prominenten. Ihr Zentralorgan ist das Fernsehen und ihre Matrix Wetten Dass? Als "Promimotion" lässt sich ein Format benennen, bei dem Zuschauer live zusehen können, wie sich angesagte Persönlichkeiten vor laufender Kamera selbst bewerben. Dabei hat die alte Rollenverteilung längst ihre Bedeutung verloren. Moderatoren wie Thomas Gottschalk oder Sabine Christiansen setzen vor allem sich selbst in Szene. Dem Leben auf der Spur? Wohl kaum. Hier handelt es sich weniger um ein Sprechen und Nachdenken über Biografien, als vielmehr um das Präsentieren von Ich-Marken, medialen Abziehbildern. "Promimotion" funktioniert für Zuschauer wie Bunte für Leser - ganz dicht dran an den VIPs und doch meilenweit entfernt.
Eine andere Überholspur führt zum Leben der Masse. Ihr Zentralorgan ist das Fernsehen und ihre Matrix heißt Reality-TV. Was mit nachmittäglichen Talkshows begann, erhielt ein erstes Update im Container und ein zweites mit der vielfältigen Suche nach diversen Superstars. Hier wird gnadenlos Alltag exekutiert. Die Kamera hält drauf: beim Familienstreit, vor, bei und nach der Geburt oder beim Heimwerken. Intimität wird, von Moderatoren befeuert, unter Lust oder Schmerz entblößt. Die Seele bleibt entblättert zurück - Kater und Elend folgen später. Beglückt sind allein die Voyeure vor dem Schirm. Reality-TV funktioniert für Zuschauer wie Bild für Leser - folgenlos und tief werden die Gefühlswelten von Menschen geplündert. Moderne Piraterie gibt den kurzen Kick, aber keine Nähe. Dem Leben auf der Spur? Dazu bedarf es mehr als nur schnelle Entblößung, Befeuerung und Sensationslust. Echtes Interesse am anderen, Sensibilität und der Wille, eine Beziehung aufzubauen sind vielmehr gefragt, um die Biografie eines Menschen zu einem bewegenden Erlebnis zu machen.
Eine in diese Richtung führende Randspur bietet DeutschlandRadio Berlin seit 1995 mit dem Live-Portrait Im Gespräch. Ein Moderator trifft auf einen Gast. Sie sehen sich das erste Mal und haben eine Stunde Zeit, sich kennen zu lernen. Der Gast unterlegt seine Biografie mit einigen Wunschtiteln. Und die Hörer lauschen ihnen dabei. Doch von Reality-Radio ist dieses Format meilenweit entfernt. Das hat gute Gründe. Zum einen wird jedes Gespräch akribisch und aufwändig geplant. Die Gäste werden in Vorgesprächen eingestimmt. "Viele haben Angst, vorgeführt und entblößt zu werden", erläutert Sabine Lau, eine von zwei Redakteurinnen der Sendung. Vor allem bei Zeitzeugen brauche es viel Einfühlung, um das Einverständnis für ein persönliches Gespräch vor laufendem Mikrofon zu erhalten. Denn persönlich soll es schon sein, das Live-Portrait.
"Spannende Biografien mit Brüchen", nennt Lau als Markenzeichen ihrer Sendung. Es geht nicht um das Abhaken von Lebensdaten, sondern um die Reflexion von gemachten Erfahrungen. Hier wirft keiner dem Moderator sein Leben zum Fraß vor. Die Gäste wissen, worüber sie sprechen und worauf sie sich einlassen. Sie kommen aus allen Berufs- und Altersgruppen - Alltagsthemen sind gefragt. Nicht zu abgehoben solle parliert werden, erläutert Lau.
Den Gästen zur Seite stehen die Moderatoren, sechs an der Zahl, Männer und Frauen. Sie bereiten sich intensiv auf jedes Gespräch vor. Freie Mitarbeiter des Senders erstellen Dossiers über die Gäste, mitunter in ersten Interviews. Es folgt eine Diskussion mit den Redakteuren. Thema: "Was ist das Spannende der jeweiligen Biografie? Und: Wie kann ein Gesprächsbogen verlaufen?", gewährt Lau einen Blick hinter die Kulissen. Es ist es dieser professionelle Rahmen, diese nur noch selten anzutreffende journalistische Gründlichkeit, der die besondere Wirkung dieser Sendung erst ermöglicht.
Und was passiert da beim Zuhören? Es entsteht eine Art Sog, ähnlich der Wirkung beim Lesen eines guten Romans. Die äußere Welt verblasst, die innere gerät umso mehr in Bewegung. Zwei Stimmen, die sich vorsichtig, die Grenzen wahrend einander annähern, beleben die Phantasie. Beim Hören entsteht eine intime Beziehung zur Biografie des Gastes - und damit auch immer zur eigenen. Da nimmt ein Mensch sein Leben in die Hand, verlässt ausgetretene Pfade, wagt etwas Neues ohne Netz und doppelten Boden. Das ist spannend. Und wirft die Frage auf, wie es denn mit den eigenen Wünschen und Träumen steht.
Der Psychoanalytiker Alfred Adler hat von drei Lebensaufgaben gesprochen, die sich jedem Menschen unausweichlich stellen, und auf die er eine Antwort finden muss: Liebe, Arbeit und Mitwelt. Es sind genau diese Fragen, um welche die Live-Portraits in immer neuen Annäherungen kreisen. Die Antworten der Gäste von Im Gespräch, in ihrem Leben und vor dem Mikrofon, haben eines gemeinsam. In der Art und Weise, wie sie sich ihren Lebensaufgaben stellen, zeigt sich mit den Worten Adlers ein ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl, ein starkes Bezogensein auf die Mitmenschen.
Ähnlich Allzumenschliches findet sich bei "Promimotion" und Reality-TV selten. Die Gäste, Teilnehmer und Moderatoren kreisen wie Planeten jeder in seiner Umlaufbahn - Monaden, die sich selbst bespiegeln, und im anderen einen Konkurrenten sehen, den es zu übertrumpfen gilt. Denn allein wer sich behauptet und durchsetzt, bleibt medial präsent; die anderen werden abgeschaltet. Wem dabei die Lust auf immer neue Versionen der römischen Gladiatorenkämpfe vergeht, kann umschalten auf das gute alte Radio und zuhören, wie Menschen miteinander ins Gespräch kommen. Einfach so, eine Stunde lang einer Biografie nachspüren.
Im Gespräch ist montags bis freitags von 9.05 bis 10 Uhr auf DeutschlandRadio Berlin zu hören.
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