Schlechte Mütter, unzufriedene Töchter

Berlinale mit weiblichem Gesicht Selten waren soviel Frauen in Haupt- und Charakterrollen zu sehen wie in diesem Jahr

Sie stehen im Mittelpunkt und besetzen die Hauptrollen: Frauen sind momentan angesagt und stehlen ihren männlichen Kollegen die Show - auch auf der Berlinale. Sogar in Hollywood bemerken die Produzenten, dass sich mit Frauen-Filmen neben guten Kritiken auch noch Geld verdienen lässt. Ob das so bleibt? Nicole Kidman, die im Wettbewerbsbeitrag The Hours von Stephen Daldry die Schriftstellerin Virginia Woolf spielt, ist da skeptisch. Es sei ein gutes Jahr mit guten Rollen für Frauen, doch nächstes Jahr könne es schon wieder ganz anders aussehen. Was bleibt, sind starke weibliche Hauptfiguren, die auf sehr verschiedene Weise ihren Filmen ein Gesicht geben. Eine Annäherung an drei Beispielen aus den ersten Tagen der Berlinale.

Ihr Name: Molly Parker. Die britische Darstellerin spielt in Pure (Panorama) eine drogenabhängige Mutter. Die Verantwortung für ihr Leben hat sie an ihren Dealer und Lover Lenny abgegeben, ihre beiden Söhne bleiben sich selbst überlassen. Doch der zehnjährige Paul (Harry Eden) nimmt sich nicht nur seines jüngeren Bruders an, sondern kämpft unerbittlich, um die Mutter zurückzugewinnen. Ein klassischer Plot für ein britisches Sozialdrama: Eine vaterlose Familie ganz unten auf der gesellschaftlichen Stufenleiter, aussichtslose Verhältnisse. Das ist immer sichtbar in der Inszenierung von Regisseur Gillies MacKinnon, doch im Kern geht es um die Beziehung zwischen Mutter und Sohn, um die Frage, ob ihre Liebe stärker ist, als die Verlockungen der Sucht. Ganz dicht rückt die Kamera beiden auf den Leib, lässt diesen so erbittert wie verzweifelt ausgetragenen Kampf physisch erlebbar werden.

Die Mutter ist beständig hin- und hergerissen zwischen der Sucht, die ihren Körper beherrscht, und der Liebe zu ihrem Sohn, den sie nicht verlieren will. Eine Spannung, die sie zu zerreißen droht. Molly Parker gelingt in ihrem Spiel die Gratwanderung, diese Figur glaubwürdig zu machen. So wie in einer furiosen Szene, die den Kulminationspunkt des Konflikts bildet. Die Mutter bittet den Sohn, sie für einen Entzugsversuch sieben Tage in ihrem Zimmer einzusperren und die Tür unter keinen Umständen zu öffnen. Später fleht sie den Jungen an, sie herauszulassen. Doch der weigert sich standhaft, Verzweiflung im Blick. Zunächst montiert MacKinnon das Innen und Außen des Zimmers im Gegenschnitt, bis die Kamera in paralleler Verlängerung der Tür Mutter und Sohn gleichzeitig einfängt. Ein Moment höchster Intensität und zugleich genauesten Schauspiels. Molly Parker changiert im plötzlichen Wechsel zwischen verzweifelter Liebe, unbändiger Wut und völliger Hilflosigkeit. Den Körper aufgespannt zwischen Erschöpfung und letzter Anstrengung. Zu sehen und zu erleben ist, wie die Sucht Herrschaft über Körper und Seele ergreift. Ergreifend und - nicht nur für den Jungen - schwer zu ertragen.

Das Gegenstück eines derart intensiven Spiels, bei dem Molly Parker der Mutter immer ihre Würde bewahrt, ist in Steven Soderberghs Solaris (Wettbewerb), nach dem gleichnamigen Roman von Stanislaw Lem, zu sehen. Er habe im Kontrast zum legendären Film von Andrej Tarkowskij die Frauenrollen stärker machen wollen, erklärte der Regisseur in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Doch die Inszenierung spricht eine andere Sprache. Natascha McElhone spielt die verstorbene Ehefrau des Psychologen Chris Kelvin (George Clooney), den unerklärliche Vorgänge auf eine Raumstation zur Erforschung des Planeten Solaris führen. Sie, die sich vor Jahren das Leben genommen hat, nimmt dort wieder Gestalt an - als Ausgeburt seiner Erinnerung. Ein Scheinwesen, eine reine Projektionsfläche, die Kelvin erneut in ihren Bann schlägt. So, wie vor Jahren, als sich beide zuerst in einer U-Bahn kurz und schicksalhaft ansahen, um das Spiel der Blicke später auf einer Party zu vertiefen. Letztere endet für beide im Bett. Liebe auf den ersten Blick eben.

Vom ersten Kontakt an verkörpert McElhone keine eigenständige Figur, sondern eine Verlockung. Sie ist schöne, reizvolle Oberfläche, dass sie eine tiefe Verzweiflung am Leben in sich trägt, bleibt bei Soderbergh bloße Behauptung. Gesicht und Körper wirken wie in Stein gemeißelt, keine Lebensspuren werden sichtbar. Die Liebe bleibt hier, wie auch schon in Soderberghs Out of Sight, Phantasie des männlichen Blicks. Und sie erfüllt sich am Ende, in welcher Erinnerung und Wirklichkeit auch immer. Wie einst Orpheus seine Eurydike, holt auch Kelvin seine Frau aus dem Hades zurück, um sie dann erneut zurückzuschicken. Orpheus dreht sich schon auf dem Weg ins Leben nach ihr um, was die Götter nicht erlauben; Kelvin schickt sie mit Hilfe einer Raumkapsel in den Orbit. Hilflos schaut ihm seine Frau mit großen Augen nach. Es ist allein dieser flehentliche Blick, der Natascha McElhone als Ausdruck bleibt, weniger geht kaum noch.

Mehr schon - auch in Hollywood. Stephen Daldry, der bereits mit seinem Debütfilm Billy Elliot einen großen Erfolg feierte, inszeniert The Hours (Wettbewerb) gleich mit drei Frauen in den Hauptrollen. Inhalt und Entstehung des Romans Mrs. Dalloway von Virginia Woolf bilden den roten Faden einer Geschichte, die über drei zeitlich voneinander getrennte Schauplätze bis in die New Yorker Gegenwart reicht. Zwar verändert sich der gesellschaftliche Rahmen, doch für alle drei Hauptfiguren gilt, dass sie ihr Leben mehr und mehr als trostlos, trivial und unerträglich wahrnehmen. Sie würde eher den Tod wählen, als länger in der Provinz vor den Toren Londons zu leben, sagt Nicole Kidman als Virginia Wolf. Es ist die Nähe zum Tod, welche die Frauen ins Leben zurückführt und es der Schriftstellerin ermöglicht, ihren Roman zu beginnen und zu vollenden.

Der Roman vereint die drei Frauen, die doch sehr verschieden sind. Nicole Kidman, bleich geschminkt und kaum noch zu erkennen mit vergrößerter Nase, spielt Virginia Woolf im Jahre 1923 als Intellektuelle mit einer sehr fragilen Emotionalität, schwankend zwischen innerer und äußerer Realität. Wie ein Schatten liegt die Unmöglichkeit eines erfüllten Lebens auf ihrem Gesicht und ihrem Körper. Und doch kämpft sie mit jeder Faser um einen Rest an Selbstbestimmung - bis hin zum Selbstmord, mit dem der Film anfängt und endet. Kidman macht ein inneres Drama sichtbar und zeigt zugleich, wie sehr Woolf eine Fremde ist in ihrer Zeit. Unverstanden und nur getragen, für einige Jahre, von der bedingungslosen Liebe ihres Mannes.

Dreißig Jahre später lebt Laura Brown in einer Vorortsiedlung von Los Angeles. Sie ist schwanger, hat einen Sohn und einen Mann, der sie liebt. Sie wohnt in einem perfekt eingerichteten Haus, die Familie hat zwei Autos. Sie könnte glücklich sein, wenn sie sich nicht wie ein Bestandteil des Interieurs fühlen würde. Daldry hat die Idylle als perfekte Hülle inszeniert, deren Kälte einem ganz langsam den Rücken hinaufkriecht. Laura Brown liest an diesem Tag Mrs. Dalloway, nach der Geburt ihres zweiten Kindes wird sie die Familie für immer verlassen. Juliane Moore spielt eine Frau, die mit plötzlichem Erstaunen erkennt, dass für ihr eigenes Leben kein Platz in dieser heilen, wohlanständigen Welt ist und nie war. Moore bewegt sich in den vertrauten Räumen abwesend, fast somnambul. Ihr Gesicht wirkt wie eingefroren. Sie ist unfähig, ihrem eigenen Sohn noch ein Lächeln zu schenken.

Hinter der perfekten Fassade lauern Abgründe, auch die des Begehrens. Der Geburtstagskuchen für ihren Mann will ihr nicht gelingen, als die Nachbarin klingelt. Gesicht und Körper eine einzige Maske rauscht sie herein - reich und erfolgreich. Laura Brown trägt dagegen noch immer ihren Morgenmantel, ihr Outfit ist ein Provisorium. Doch dann bröckelt für kurze Momente die Maske des Nachbarin. Denn das, was sie sich am meisten wünscht, wird sie nie haben: Kinder. Sie muss sich sogar einer Operation unterziehen, gleich am Nachmittag noch. Und da entsteht ganz kurz eine Nähe. Laura Brown gibt ihr einen langen, intensiven Kuss, und im Blick der Nachbarin mischen sich Erstaunen und Lust. Als die Maske wieder sitzt, bleibt Laura Brown allein mit ihrem Gefühl - eine Fremde, nicht nur im eigenen Haus.

Ein Leben im inneren Exil führt auch Clarissa Vaughn im heutigen New York. Sie lebt in der Erinnerung an eine Liebe die nur einen Sommer dauerte, als sie 18 war und glücklich, wie sie rückblickend ihrer Tochter erzählt. Seitdem klebt sie mit ihrem Leben an diesem Mann, der sie verlassen hatte, um mit Männern zu leben und Bücher zu schreiben. Jetzt ist er HIV-infiziert und weiß, dass er für sie, die ihn pflegt und betreut, eine Last ist. Doch seine Anwesenheit bietet ihr auch einen Schutzraum, um nicht ins Leben springen zu müssen. Er sagt es ihr, sie weiß es, beide streiten sich. Er nennt sie Mrs. Dalloway.

Meryl Streep spielt Clarissa Vaugh als beständig unter Strom stehend. Das verpasste Leben ist als eine innere und äußere Unruhe in ihren Körper eingewandert. Sie versucht dagegen anzukommen, indem sie organisiert, macht und tut - vor allem für andere. Doch längst hat sie sich nicht mehr unter Kontrolle. Die Gesichtszüge entgleisen unwillkürlich, Weinen schüttelt sie durch, die Hände wissen nicht mehr wohin. Ja, genau so ist es, wenn eine oder einer ihre oder seine Wünsche beständig zurückstellt, möchte man Streep zurufen, die so unaufdringlich ihren Figuren Realität verleihen kann. Zum Dank darf ihre Clarissa spät noch ihr Leben auskosten, als letzte in der Reihe dreier Mrs. Dalloways. Ein bewegender Film dank dreier Frauen - nicht allein für Frauen.

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