Grass, die dreifache Persona non grata

Zeitgeschichte Für Birma, DDR und Israel war und ist der Schriftsteller eine unerwünschte Person. Sanktioniert wurde er auch von der SED-Diktatur wegen eines literarischen Textes

Immerhin: „Birma lässt kleine Hoffnung keimen.“ Die israelische Regierung hingegen begreife sich weiterhin als „eigenmächtig und ist bislang keiner Ermahnung zugänglich.“ So kommentierte der verfemte Günter Grass das Einreiseverbot, das Israels Innenminister Eli Jischai gegen ihn ausgesprochen hat. Die Maßnahme, so Grass weiter, erinnere ihn im Tonfall an das gleichlautende Verdikt des berühmt-berüchtigten „Ministers Mielke“, auf dessen geheimdienstliche Kontrolle sich die SED-Diktatur in der DDR von 1957 bis zur friedlichen Revolution von 1989 zuverlässig stützen konnte.

Birma, die DDR und Israel also, nebeneinander. Ist er das, der nächste unverhältnismäßige Klopper aus der Feder des Literaturnobelpreisträgers? Nachdem er Israel in seinem Gedicht Was gesagt werden muss mit einem rhetorischen Fragezeichen als Bedrohung des „ohnehin brüchigen Weltfriedens“ bezeichnete und die Chimäre einer Auslöschung des iranischen Volkes aufs Papier gemalt hat, zieht Grass nun also eine Parallele zu der SED-Diktatur und der ehemaligen Militärherrschaft in Südostasien.

Lassen wir Letztere außen vor; dort immerhin keimt Hoffnung, wenn man Grass folgt. Die assoziative Nähe der israelischen Regierung zu derjenigen der DDR liegt den deutschen Feuilletons ohnehin geographisch näher. Vorweg sei gesagt: Grass, die dreifache Persona non grata, bezeichnet Israel in seinem bissigen Kommentar explizit als Demokratie und die DDR als Diktatur. Das Vergleichsmoment sind die Zwangsmaßnahme selbst und der Tonfall, mit der diese ausgesprochen wurde.

Die Plebejer proben den Aufstand

Tatsächlich gibt es eine interessante Parallele, die das Einreiseverbot des einen und des anderen Staats ursächlich verbindet: Beide berufen sich auf literarische Texte von Grass, die mehr oder minder explizit eine politische Sache verhandeln. Während das Gedicht Was gesagt werden muss jetzt in aller Munde ist – oder auch nicht, denn die Debatte hat sich längst davon gelöst –, ist das historische Gegenstück fast vergessen: Die Plebejer proben den Aufstand, ein „deutsches Trauerspiel“ aus dem Jahre 1965. Es brachte gleich zwei DDR-Tabus auf die westdeutschen Bühnen, nämlich den Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 und eine kaum verschlüsselte Kritik am zögerlich-opportunen Verhalten des – auch offiziell – verehrten Großmeisters Bert Brecht. Nicht nur für dessen langjährigen Freund und Mitarbeiter Erich Engel war das Stück deswegen der „finsterste Fetzen Papier, den die deutsche Literatur auf den Tisch der Geschichte geblättert hat.“

Nachdem Grass den SED-Kulturfunktionären bereits vorher nicht gerade genehm war – er hatte z. B. im Frühjahr 1961 auf einer Lesung in Hans Mayers Hörsaal 40 den Leipziger Studierenden Grüße vom Dissidenten Johnson ausgerichtet, wenig später auf dem V. Schriftstellerkongress in Ostberlin die „Freiheit des Wortes“ gefordert und nach dem 13. August desselben Jahres mit offenen Briefen gegen den Mauerbau protestiert –, wurde er nun von den DDR-Grenzern abgewiesen; zum ersten Mal war er Persona non grata, zumindest vorläufig.

NATO-Doppelbeschluss

Denn die Einreisesperre wurde bald wieder aufgehoben und erst 1977 vom „Minister Mielke“ im Rundumschlag nach der Biermann-Ausbürgerung erneuert. In der konkreten Begründung tauchte der Name des Liedermachers allerdings nicht auf: Grass habe die Publikation von Hans Joachim Schädlichs Debütband Versuchte Nähe im westdeutschen Rowohlt Verlag maßgeblich initiiert, nachdem die Kurzgeschichten des Autors in der DDR nicht veröffentlicht werden konnten. Trotzdem konnte er z. B. 1981 mit einer Sondergenehmigung zur so genannten Berliner Begegnung zur Friedensförderung in den Ostteil der Stadt reisen, um mit seinen Kollegen über den NATO-Doppelbeschluss und die Stationierung von neuartigen Raketentypen in der Bundesrepublik zu diskutieren.

Die „Grassnost“ im SED-Staat brach allerdings erst 1983 langsam an: Der Autor durfte wieder regelmäßig einreisen, wurde ein Jahr später erstmalig in einem DDR-Verlag veröffentlich und konnte 1987 zu einer ersten Lesereise durch den Osten Deutschlands aufbrechen – stets argwöhnisch beobachtet von der Stasi, die die Veranstaltungen mit vorbereiteten Fragen durch „geeignete Kräfte“ unter Kontrolle zu halten versuchte. Derartigem wäre er in Israel mit ziemlicher Sicherheit nicht ausgesetzt.

Das wiederum hängt nicht nur mit der Staatsform zusammen, sondern auch mit dem Zweck, der der Einreisesperre in den beiden Fällen zugrunde lag bzw. liegt. Für die SED erschien der populäre Schriftsteller als reale Bedrohung ihres real existierenden Sozialismus – unabhängig davon übrigens, ob er gerade einreisen durfte oder nicht. Für die israelische Regierung ist er sicherlich keine Gefährdung ihrer Demokratie. Aus der DDR versuchte man ihn buchstäblich fernzuhalten: Grass‘ Werke standen auf der Zollliste und wurden an der Grenze einkassiert; die dezenten Vorstöße, doch eine Lizenzausgabe der Blechtrommel oder der Hundejahre ins Druckgenehmigungsverfahren der HV Verlage und Buchhandel zu schicken, waren lange Zeit zum Scheitern verurteilt.

In Israel ist die Prosa des Nobelpreisträgers in hebräischer Übersetzung weitverbreitet. Denn eines war Grass eigentlich immer: Ein überzeugter Antifaschist und Antinationalist. Dafür spricht sein Werk. Und eben darauf beruft er sich, wenn er sich dem Land Israel nach wie vor „unkündbar verbunden“ sieht.

Sechstagekrieg

Ein interessanter historischer Randaspekt angesichts des jüngsten Vergleichs ist seine Rede Wir und Israel von 1967: Als das Neue Deutschland kurz vor dem Ausbruch des Sechstagekriegs verlauten ließ, dass die Verteidigungsmaßnahmen der arabischen Staaten gegen das „reaktionäre Komplott“ von Washington, Tel Aviv und Bonn von der DDR „nachhaltig unterstützt“ würden, kritisierte Grass die zynische Übernahme von „Moskaus Sprache“, die von machtpolitischem Taktieren und antisemistischen Relikten der stalinistischen Zeit geprägt sei. Die Ulbricht-Regierung habe damit „über die Meinung unserer Landsleute in der DDR hinweggesprochen.“ „Jeder Schlag gegen Israel“, so Grass weiter, „trifft auch uns.“

Klang sein Urteil hier noch absolut, versuchte sich der Bürger und Schriftsteller in seinen Reden und literarischen Werken dem jüdischen Staat in der Folgezeit eher mit seinem typischen „Einerseits-Andererseits“ anzunähern. Und gerade diese intellektuelle Grundbewegung lässt Grass in seinem neuen Gedicht aus „letzter Tinte“ vermissen, wenn er vom möglichen „Auslöschen“ des iranischen Volkes und vom „Maulhelden“ Ahmadinedschad spricht.

Dennoch: Dass Teile der literarischen und sonstigen Öffentlichkeit ihm derzeit den Schandtitel des ewigen Antisemiten anhängen wollen, ist absolut werk- und wirkungsfern, das verspätete „Zwiebel“-Bekenntnis zur Mitgliedschaft in der SS hin oder her. Das Verdikt des israelischen Innenministers hat ohnehin einen ganz anderen Hintergrund: Die israelische Regierung sieht sich nicht nur global, sondern auch im eigenen Land immer massiverer Kritik ausgesetzt.

Mit Kritik leben

Deswegen, so scheint es, flüchtet sich Jischai in eine übertriebene und populistische Maßnahme wie ein Einreiseverbot. Und eben hier lässt sich auch eine Parallele zum Einreiseverbot ziehen, das der „Minister Mielke“ gegen Grass ausgesprochen hatte: Das herrschaftsstabilisierende Moment spielt eine entscheidende Rolle. Das stilisierte Feindbild Grass – für die SED der antikommunistische Revisionist, für Jischais Schas der antisemitische Nazi – soll zur Loyalität verpflichten.

In der DDR, die es, wie Grass richtig bemerkte, „nicht mehr gibt“, hat das nicht funktioniert. Zu lange war das SED-Regime „eigenmächtig und keiner Ermahnung zugänglich.“ Die israelische Regierung hingegen wird weiter mit Kritik leben müssen, die, sofern sie eine ernsthafte Rolle im politischen Diskurs spielen soll, immer vom garantierten Existenzrecht des jüdischen Staates ausgehen muss. Ein bisschen mehr Demut gegenüber den „Ermahnungen“ von außen und innen würde ihr gut zu Gesicht stehen. Gleiches gilt für Grass.

Er sollte versuchen, etwas weniger laut aufs öffentliche Blech trommeln und zu seinem stets zweifelnden „Einerseits-Andererseits“ zurückkehren. Vielleicht kann er sich dabei an seinen 1973 geschriebenen Essay Israel und Ich erinnern, in dem es heißt: „Die Freunde in Israel begreifen mich nicht. Sie vermissen ein direktes, parteiergreifendes Wort. Sie fühlen sich verlassen, verraten. Enttäuscht stellen sie ungenaue Vergleiche an. Doch das Fehlverhalten beider Seiten erlaubt keine eindeutige Parteinahme.“ Wie Recht er doch hat, bzw. hatte.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden