Wo bleibt der Kinofilm Ost? Das neue deutsche Kino floriert, aber bislang mischt nicht ein Ost-Regisseur vorne mit. Seit Knockin' on Heaven's Door, mit 3,7 Millionen Zuschauern der Mega-Hit 1997, folgt eine Produktion auf die andere: Lola rennt von Tom Tykwer, Solo für Klarinette von Nico Hofmann, Der Eisbär von Til Schweiger, und zu Weihnachten der neue Buck: Liebe Deine Nächste! Doch aus dem Osten Deutschlands: nichts dabei.
Das soll jetzt anders werden: Der Ost-Star Wolfgang Stumph, hatte sich nach Go, Trabi Go ganz auf - durchweg erfolgreiche - Fernseh-Serien verlegt. Nun drängt es ihn zurück auf die Kino-Leinwand: in der Rolle des Ex-Baggerfahrers Henning Stahnke aus dem Braunkohle-Tagebau. Bis zum Horizont und weiter: so offen, optimistisch, selbstbewußt
zum Horizont und weiter: so offen, optimistisch, selbstbewußt klingt der Titel dieses Films, den Progress, der einzige Verleih mit lupenreiner Ost-Identität, in dieser Woche in die Kinos bringt. Steigt er hier endlich auf wie Phönix aus der Asche, ein neuer Held des Ostens, ein Rächer der Enterbten?Die Story: Baggerfahrer (Ost) aus wüster Tagebau-Landschaft (Merke: Wo die Natur stirbt, stirbt der Mensch.) nimmt Richterin (West) als Geisel, um seine Freundin freizupressen; von der wurde diese nämlich gerade im fernen Berlin zu drei Jahren Gefängnis verknackt. Das klingt nach Action-Film, road movie, nach großem shoot-out als Finale, bei dem alle draufgehen.Doch mit großer Action is' nich'. Erstens schafft es seine fidele Freundin Katja (Nina Petri) ganz ohne seine Hilfe, aus dem Knast zu türmen. Er bräuchte eigentlich nur auf sie zu warten, zu Hause bei Muttern. Und wenn er sich nicht beim ersten Telephonat als Erpresser so blöd angestellt hätte, wenn er einfach nur zuhören würde, dann wüßte er das auch. Alles läuft ohne sein Zutun: Er wird nicht gebraucht!Zweitens ist die Richterin (Corinna Harfouch), so 'ne emotional frustrierte West-Tussi mit Osthelfer-Syndrom, nur all zu schnell bereit, zu ihm überzulaufen. Zwar hat er ihr das Gesicht blutig geschlagen (Kahane weiß, daß wir sowas dem lieben Stumph nie und nimmer abnähmen: also zeigt er das erst gar nicht). Und richtig professionell, also wie im Kino, mit den Händen über'm Kopf hat er sie in einem Braunkohle-Bagger gefesselt.Aber dann wird's ihm doch zu dumm, er bringt sie nach Hause zu Muttern. Da schlüpft sie bereitwillig in die Rolle seiner Verlobten, betrinkt sich mit der Mama und ihrem Holunderlikör und möchte danach nur noch eines: zu Sohnemann ins Bett. Aber nur Rücken an Rücken, bittet der sich aus. Schließlich hat er schon eine Freundin. Trotzdem ist seine Katja mächtig sauer, als sie (ausgerechnet jetzt) eintrudelt und die beiden im Bett findet. Aber auch das legt sich ruckzuck: ein Herz und eine Seele, die beiden Frauen.Und nun, wie kommt er da wieder raus, der Drehbuch-Autor, der Regisseur? Wo sich die große Entführungsnummer gleich doppelt im Nichts aufgelöst hat? Was tun, wo's nichts mehr zu tun gibt? Umbringen, alle beide.Also rückt nun doch die Polizei an, schußsichere Westen und Gewehre. Die beiden Ossis rennen durch die Braunkohle-Landschaft (wir erinnern uns: Wo die Natur stirbt...), und im Hintergrund tobt die Richterin, will ein Blutbad verhindern.Henning hält einen Stein hoch, den die Verfolger prompt für eine Handgranate halten. Feuer frei? Nein, erstmal große Liebe: Henning und Katja umarmen einander. Dabei müssen sie ausgerechnet auf Gleisen stehen - und da rollt auch schon ein Zug heran (mitten in der toten Tagebau-Landschaft ein Zug?): schön in Zeitlupe jetzt, geschmeidiger Wechsel zwischen Großaufnahmen, den Gesichtern der Liebenden und dem anrollenden Monsterzug, und jetzt: hinunterschwenken auf die Gleise, in Zeitlupe, wie sich die Metallstränge jetzt biegen, wie die riesigen Nägel fast herausspringen ... Abblende.So sind sie, die Ossis. So mit sich selber beschäftigt, daß sie nicht hören können, was um sie herum passiert. Zu blöd, diese Ossis.»Vom Zug des Fortschritts überrollt«: Übermächtig schwebt diese Philosophenmetapher über dem Filmende. »Bis zum Horizont und weiter« heißt er ja nicht umsonst: Für Wolfgang Stumph war er eine Herzenssache. Er hat den Stoff - ursprünglich ein Hör-Spiel - entdeckt, und ihn als Kino-Film initiiert; ohne ihn, den bekanntesten Ost-Star, den es zur Zeit gibt, wäre der MDR, die stärkste ARD-Anstalt im Osten, gewiß nicht als Co-Finanzierer mit von der Partie.Deshalb darf man das Portrait eines Ost-Mannes, das Stumph hier entwirft, durchaus für symptomatisch halten, für eine Momentaufnahme ostdeutscher Befindlichkeit, in ihrer männlichen Variante allerdings.Als Charakterdarsteller ist Wolfgang Stumph so etwas wie die ostdeutsche Antwort auf Heinz Rühmann: der Kleine Mann mit dem Herz auf dem rechten Fleck. Wie Rühmann ist Stumph ein Nachkriegsmodell: ein Mitläufer, der mit abwehrenden Gesten und eingezogenem Kopf immer schon vorausschickt, er sei's nicht gewesen.Psychoanalytisch formuliert: wir haben es hier mit einem symbolisch kastrierten Mann zu tun (wohl nicht ausschließlich symbolisch, möchte' man meinen angesichts dieses Films: ein Mann 90 Minuten lang unter lauter Frauen und nicht ein bißchen Sex, noch nicht 'mal Erotik! Schon deshalb wird dieser Film ein Flop werden).»Symbolisch kastriert« heißt praktisch: Henning macht zwar, aber er macht nichts richtig. Im Grunde seines Herzens hat er schon aufgegeben, bevor er angefangen hat. Er ist nie ganz bei sich: Dauernd schätzt er die Dinge falsch ein. Früher oder später geht ihm alles schief.Das liegt sicher auch daran, daß dem Ost-Mann die Gegner abhanden gekommen sind. Der Ost-Mann, Modell Henning, funktioniert in diesem Punkt ziemlich traditionell, um nicht zu sagen primitiv: Er braucht sowas noch, um halbwegs zu Form aufzulaufen. Eine »damsel in distress« zu retten, das packt er gerade noch, aber danach läuft ihm mangels Widerpart und brauchbarem Frontverlauf alles aus dem Ruder. Da wird er sentimental: Des Nachts spielt Henning auf seiner alten Trompete, auf einer malerisch verlassenen Bühne, und dann träumt er von früher...Außerdem kann ein Ost-Mann ja schon deshalb nicht gewinnen, weil er beschädigt ins Rennen geht (eigentlich ist er Opfer, von vornherein). Jedenfalls begann Hennings und Katjas sozialer Abstieg, so bekommen wir ins Ohr geträufelt, im Wilden Westen, auf einer Italien-Reise: Da wurden sie nämlich komplett ausgeraubt. Zuhause sei auch alles weggewesen, er arbeitslos, sie anschaffen. Außerdem, so schmiert man uns auf's Butterbrot, macht's dieser Henning nicht mehr lange: Husten würd' er viel, erzählt Katja, Blut im Urin.Und ungeschickt ist er halt, der Ost-Mann. Legt sich ins Zeug, wo's nix zu tun gibt, schlägt zu, wo's gar nicht nötig wäre und kommt um aus reiner Schusseligkeit. Wer nicht hören will, muß fühlen, schwant dem Ost-Mann, und er knipst schon 'mal das Licht aus.
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