Diaspora" stand auf dem ersten der Karteikärtchen, mit denen Klaus Theweleit nach Berlin gekommen war, um die Laudatio, die Lobrede, auf Frieda Grafe und Enno Patalas zu halten. zehn Minuten Redezeit habe man ihm gegeben, darum habe er nur Stichwort-Zettel mitgebracht, knurrte er vorneweg, wo man doch wissen müsse, dass er keiner sei, der mit so wenig Zeit hinkäme ...
Aber es war halt ein schicker Multimedia-Preis namens "01-Award", finanziert vor allem von der Deutschen Bank, für den man ihn aus der Freiburger Studierstube nach Berlin engagiert hatte, in die Hochschule der Künste (HdK). Die macht mit diesem Preis Werbung für ihren ebenso schicken "hdk-multimedia"-Studiengang. Deshalb sollte es flott gehen, zack-zack, Âprofessionell eben.
"Diaspora": Mit diesem Begriff charakterisierte Theweleit das Lebensgefühl sensibler junger Leute, die sich im Deutschland der späten fünfziger und frühen sechziger Jahre nicht zu Hause fühlten - und die auch deshalb so oft ins Kino gingen.
Damals, 1959, gründete Enno Patalas eine kleine Monatszeitschrift namens Filmkritik, in der ab 1962 auch Frieda Grafe schrieb, eben zurückgekehrt vom Romanistik-Studium an der Pariser Sorbonne. Für ihn, Theweleit, sei nicht die "Gruppe 47", sondern die der Filmkritik-Autoren die erste Autoren-Gruppe gewesen, die "nicht nach Heimat, Fascho usw. roch". Um 1968 avancierte die Filmkritik denn auch zu einem Leitmedium der "ästhetischen Linken".
Damals war Theweleit im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), und seine literarische Tätigkeit beschränkte sich noch aufs Verfassen von Flugblättern. Die Lektüre der Filmkritik-Texte, die präzise gewesen seien, ohne rechthaberisch zu sein, habe ihn damals davor bewahrt, ideologisch zu versteinern. Für ihn sei jeder Filmkritik-Text ein Manifest gewesen: Schönheit kommt vor Ideologie! Schönheit ist Arbeit! Und Arbeit Schönheit!
Mir tat es gut, Theweleit zuzuhören. Mit wenigen Sätzen beschwor er eine Zeit herauf, die untergegangen zu sein scheint, wie nie gewesen, obwohl sie erst ein Vierteljahrhundert zurückliegt.
Es war eine Zeit, in der fast jeder Film ein Versprechen war: Vorschein eines besseren, freieren, wilderen Lebens. Damals war Ins-Kino-Gehen und hinterher darüber reden, diskutieren, schreiben, nicht bloß Hobby oder Freizeit-Vergnügen: es war notwendig, dringend, richtig wichtig; jedenfalls fühlten sich Filme und die Kritiken dazu von Enno Patalas, Frieda Grafe, auch die von Wolfram Schütte in der Frankfurter Rundschau, damals so an, auch für mich.
Ist das nun nostalgische Verklärung der eigenen Sturm- und Drang-Zeit? Oder ist tatsächlich etwas schlechter geworden seit der Hoch-Zeit der Filmkritik, die bei dieser Preis-Verleihung beschworen wurde? Ist der Film, jedenfalls der deutsche, inzwischen vielleicht wirklich in die Hände von Halbwüchsigen und Beutelschneidern gefallen, und die Filmkritik vollends an Zirkulationsagenten?
Ich kann mich erinnern, wie ich damals wirklich gespannt war auf den neuen Fassbinder, Herzog, Wenders. Wen kümmert heute noch im Ernst der neue Film von Tom Tykwer, Roland Suso Richter, Detlev Buck? Und wer schreibt auch nur annähernd so intelligent und sensibel über ihn wie damals Enno Patalas oder Frieda Grafe?
Was hat sich geändert seit damals? Gewiss sind heute, dank Video und der enormen Vermehrung der Fernsehprogramme, mehr Filme verfügbar denn je. Doch die Qualität, vor allem die Intensität der Film-Erfahrung hat gelitten, und mit ihr die Film-Bildung.
In seiner Dankrede erinnerte Enno Patalas daran, wie Frieda und er nach Paris in Henri Langlois' Cinematheque oder nach Brüssel in die von Ledoux gefahren seien, um einen bestimmten Film sehen zu können. Heute würden Filmstudenten die meisten Filme nur noch auf Video sehen, gezogen von abgespielten Kopien, meist in verstümmelten Fassungen. Auf Video: Wie kann man von einem Schwarzweiß-Film zutiefst ergriffen werden, wenn das, was man sieht, Grau-in-Grau ist?
Auch Patalas kann nicht mehr zurück. Aber wenn schon Video, dann wenigstens intelligent genutzt: Die Möglichkeiten der "Digital Video Disc" (DVD), der digitalen Bildplatte, faszinieren ihn. Weil man in diesem Medium auf mehreren Ebenen arbeiten, den linearen Ablauf durch Fußnoten, Varianten, Seitenäste aufbrechen kann, möchte er seine jahrzehntelange Forschungs- und Rekonstruktionsarbeit an Fritz Langs Metropolis gerne auf DVD verfügbar machen.
Die Verleihung des 01-Award ist verbunden mit der Ernennung zum "Honorarprofessor" an der HdK. Was das heißt, plauderte Enno Patalas gleich freimütig aus: "Honorarprofessor" bedeute nicht, so habe ihn der HdK-Rektor aufgeklärt, dass er ein Honorar bekomme, und weil er schon in Rente sei, bräuchte er auch nicht zu lehren.
Doch wenn sich HdK Deutsche Bank schon seinen Namen ans Revers heften, dann will Patalas wenigstens etwas herausschlagen für sein Metier: Als "Workshop" an der HdK wolle er die erste Historisch-kritische Ausgabe eines Filmes realisieren.
Hoffen wir, dass man ihn dort seinen DVD-Metropolis machen lässt. Dann wäre Enno Patalas da angekommen, wo im Medium der Literatur der ehemalige Bundesvorsitzende des SDS, K.D. Wolff, bereits seit Jahren zu Hause ist mit den historisch-kritischen Klassiker-Ausgaben seines Stroemfeld/Roter Stern-Verlages. Die als die schärfsten Kritiker ihrer Väter antraten, enden als Retter ihrer Großväter.
Erstmals war der 01-Award an zwei Menschen zugleich, an ein Paar, verliehen worden. Aber Frieda Grafe konnte den ihren nicht selbst entgegennehmen: Sie genese noch von einer schweren Erkrankung. Das war schade - schon allein deshalb, weil Klaus Theweleit fast die Hälfte seiner Redezeit allein von ihr sprach, ihr Lied sang.
Frieda Grafe sei "verliebt in die Dinge, über die sie schreibt", meinte Theweleit. Jedenfalls, meine ich, macht sie uns verliebt durch die Weise, wie sie schreibt, und zwar gleichermaßen in sie, die Autorin, und in die Filme und Menschen, über die sie schreibt. Es ist die heitere Leichtigkeit, mit der sie um ihre Gegenstände herumtänzelt, eine Beobachtung hier mit einem Detail dort verknüpft, Fäden spinnt von hier nach da - bis Gegenstand und Leser gemeinsam eingesponnen, ja intim geworden sind miteinander.
Frieda Grafes Schreiben über Film hat also nichts gemein mit dem, was landläufig als ÂKritik gilt: sie zerlegt nicht, spielt nicht gegeneinander aus, urteilt nicht. Ihre Texte, so Theweleit, gehen nicht auf und nicht zu Ende; man verstünde manches nicht und sei doch berührt, verwirrt, auf jeden Fall: angetörnt.
Genau so isses: Auch für mich ist Frieda Grafe die Königin der deutschen Filmpublizistik. Aber bitte, glauben Sie's nicht - lesen Sie selbst! Ihre schönsten Film-Texte finden Sie in den Sammelbänden Im Off (bei Hanser) und in Beschriebener Film 1974-1985, erschienen als Nr. 72-75 der Zeitschrift Die Republik.
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