Immer wenn sich Kioskbesitzer Guo Jing am runden Holztisch vor seinem Stand in Ruhe eine Zigarette drehen will, kommt der nächste Kunde. Guo - kräftig, weißes Unterhemd und blaue Shorts - springt auf und reicht wahlweise eine Schachtel Zigaretten, zwei Flaschen Bier oder Eis am Stiel durch das Fenster. Der Laden des 48-Jährigen ist der einzige des alten Gassenviertels im Südosten Pekings. Reicht bei jemandem gerade das Geld nicht, schreibt Guo auch an. Er kennt seine Kunden. Ein alter Mann setzt sich zu einem Mittagsbier an den Tisch. Daneben bauen Vater und Sohn ein Schachspiel auf. "Wir achten hier alle ein bisschen auf den anderen", sagt Guo, "aber wer weiß, wie lange noch."
Er nickt in Richtung der gegenüberliegenden, für Olympia renovierten Häuserzeile, der Kulisse für die olympische Marathon- und Radrennstrecke, die durch sein Viertel führt. Guo konnte sich keinen neuen Anstrich leisten, wollte aber sein Geschäft auch nicht verlassen. "Kiosk ohne Lizenz" klebt nun an der Außenwand des kleinen Ladens. "Ich tue nichts Schlechtes", sagt Guo, "gerade die Alten können hier bequem und schnell etwas einkaufen." Das Geschäftsverbot ignoriere er einfach. Oft das Beste, was man bei manchen Anordnungen in China tun könne, auch zu Olympiazeiten, meint er.
Den Kiosk betreibt Guo seit 2002. Vorher arbeitete er 24 Jahre als Vertriebskoordinator für Schuhe in der staatlichen Produktionsfirma Erqing. Mit der kostenlos zugeteilten Wohnung, mit der Sozialversorgung und dem Gehalt war er zufrieden. Plötzlich jedoch wollte der an sich gut laufende Betrieb schließen, entschädigte die Angestellten nach Arbeitsjahren und kündigte alle Versicherungen. Guo erhielt 50.000 Yuan (damals knapp 6.000 Euro). Genug, um den Kiosk zu kaufen und etwas für die Arztkosten der Eltern zurückzulegen. Der Laden wirft im Monat gut 1.000 Yuan ab, Guos Frau bringt noch einmal so viel als Zimmermädchen nach Hause. Es reicht zum Leben, wenn die Preise nicht weiter steigen und keiner krank wird, meint Guo. Wegen der Kulturrevolution kam er kaum in den Genuss einer Schulbildung. Mit 42 Jahren setze ihn seine Firma auf die Straße. "Träume hätten in der heutigen Zeit keinen Platz mehr", sagt er nachdenklich, "aber dennoch: ich möchte irgendwann, zusammen mit meinem Sohn einen Supermarkt eröffnen." Wichtig sei nicht, ob er das schaffen werde, sondern dass er die Hoffnung nicht aufgebe. Warum sollte das Geschäft während der Olympischen Spiele dabei nicht hilfreich sein?
Während Guo Jing auf bessere Einnahmen spekuliert, klappt der Journalist Wang Guangze sein Laptop auf und rückt seine Brille zurecht. Mit Hilfe der Software Free Gate loggt sich der 36-Jährige anonym ins Internet ein und kann die normalerweise gesperrten Webseiten von BBC, Amnesty International oder Falun Gong lesen. Im Frühjar 2007 habe er den Think Tank China Reconciliation gegründet, erzählt Wang, um sich für den aus seiner Sicht nötigen politischen Wandlungsprozess einzusetzen. Moderate Reformer innerhalb wie außerhalb der politischen Führung sollten gemeinsam für eine graduelle Demokratisierung eintreten. "Zwar ist meine Webseite gesperrt, aber die Behörden lassen mich schreiben und Treffen organisieren", sagt Wang, "durchaus ein Fortschritt." Durch die Olympischen Spiele gäbe es mehr Toleranz und Spielraum.
Aufgewachsen in Henan, einer der ärmsten Provinzen Chinas, ließen ihn die Eltern nie über die schwere Zeit der Kulturrevolution im Unklaren. Als 16-jähriger Mittelschüler hörte er den US-Sender Voice of America und war schockiert über den Unterschied zu den Berichten der eigenen Medien über die Tiananmen-Proteste im Mai 1989. Wang studierte später Jura, dann Philosophie und arbeitete als Journalist für die liberale südchinesische Wirtschaftszeitung 21st Century Economic Herald. Nach einer Vortragsreise durch die USA entließ ihn die Redaktion fristlos. Wang hatte dort über seine Vorstellungen zur Demokratisierung Chinas gesprochen. Er kam nicht ins Gefängnis, fand aber danach keine angemessene Arbeit mehr. Das Gehalt seiner Frau, die Buchhalterin sei, die gelegentliche Hilfe von Verwandten wie auch Publikationen für ausländische Medien ließen ihn jedoch finanziell gut über die Runden kommen. "Wir sollten der kommunistischen Partei nicht mit Hass begegnen, sondern die reformerischen Kräfte durch konstruktive Kritik ermutigen." Was er während der Spiele zu tun gedenke, verrät er nicht. Am 9. August jedenfalls fahre er zunächst einmal für eine Woche zu seinen Eltern in die alte Heimat Henan.
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