Die "Neue Linke" fordert die "Neue Rechte" heraus

China Vor dem XVII. Parteitag der KP im Oktober ist die Debatte über eine "Demokratie mit nationalen Charakteristika" entbrannt

Zwischen dem breiten Trottoir und der Eingangsfassade einer Firma im Nordwesten Pekings führt Xu Qingquan eine schmale Eisentreppe hinunter. Im Souterrain liegt ein kleines Restaurant, das Tee und Wein aus der südlichen Provinz Yunnan anbietet. "Hier gehe ich immer hin, wenn es Wichtiges zu besprechen gibt", meint Xu, Herausgeber der Zeitschrift Yanhuang Chunqiu - wörtlich übersetzt "China durch die Zeit". Alle Tische sind leer, die Chefin lächelt verständnisvoll, gießt rasch den Tee auf, um dann ins Hinterzimmer zu verschwinden. An schwierige Themen ist der 45-jährige Xu im grauen T-Shirt und schwarzer Anzughose gewöhnt. Weil das Blatt seit seiner Gründung 1991 immer wieder Artikel zu Tabu-Themen wie in Ungnade gefallene Kader oder politische Reformen abdruckt, gerät die Redaktion zuweilen in Konflikte mit der Parteiführung.

Doch die Sponsoren von Yanhuang Chunqiu um den ehemaligen Vorsitzenden des Staatlichen Büros für Presse, Du Daosheng, sind selbst pensionierte Nomenklatura mit vorzüglichen Beziehungen. So werden in diesem Periodikum Texte platziert, die sonst nirgendwo erscheinen. Chinas liberalstes Magazin ist dank dieses Privilegs in den zurückliegenden Monaten zur Plattform einer bemerkenswerten Diskussion um innere Reformen geworden.

Wie zu Zeiten Deng Xiaopings

Alles begann mit einem Essay von Xie Dao, das Herausgeber Xu Qingquan vor genau einem Jahr im Internet las. Nur der demokratische Sozialismus kann China retten, überschrieb der ehemalige Präsidenten der renommierten Pekinger Volksuniversität sein Essay. Xie Dao, ein Verfechter der kommunistischen Internationale, widmete sich darin detailliert dogmatischen Schwächen des chinesischen Entwicklungsweges, ging auf die Korruption sowie die Ausbeutung von Arbeitern im heutigen China ein und beschrieb Erfolge sozialdemokratisch regierter Länder in Skandinavien. Nur mit demokratischen Mechanismen - so Xies Fazit - könnte China Konflikte wie etwa das soziale Gefälle im Land oder den fehlenden Rechtsschutz für Wanderarbeiter lösen.

"Vorherige Aufsätze haben das nicht so auf den Punkt gebracht", glaubt Xu, "wenn man Chinas Reformen beurteilt, geht es letztlich immer um die Frage des Systems." Fünf Monate, nachdem der Artikel im World Wide Web aufgetaucht war, durfte seine Zeitschrift schließlich Xie Daos Überlegungen in der Februarausgabe abdrucken, gekürzt und unter dem entschärften Titel Das Modell des demokratischen Sozialismus und die Zukunft Chinas. Im Internet entbrannte daraufhin sofort eine heftige Debatte zwischen Befürwortern und Kritikern. Dozenten von Universitäten und Forschungsinstituten stritten sich erstmals seit den Reformen Deng Xiaopings Anfang der achtziger Jahren wieder angeregt über Wesen und Antlitz des chinesischen Sozialismus. Die Zeitschrift Yanhuang Chunqiu legte ebenfalls nach: im März-Heft schrieb Wu Min, Professor für Kaderausbildung in der Provinz Shanxi, dass es "ohne Demokratie keine Kommunistische Partei" geben würde. Im April-Heft machte sich ein gewisser Lu Dingyi in einem Artikel "Gedanken anlässlich seiner alten Tage" über eine öffentliche Überwachung der Partei, um Korruption und eine ausufernde Bürokratie einzuschränken. Und im Juli argumentierte Professor Wu, dass das Machtmonopol der Partei die "Wurzel" der vielen Übel im heutigen China sei.

Li Changchun, Mitglied im Ständigen Ausschuss des Politbüros und zuständig für Propaganda, legte Staats- und Parteichef Hu Jintao daraufhin ein Verbot dieser Ausgabe nahe. Doch Hu lehnte ab, es sei besser solche Debatten an die Oberfläche kommen, als im Untergrund verschwinden zu lassen. Der Direktor des Staatlichen Büros für Presse und Publikation, Long Xinmin, appellierte allerdings an die Redaktion, in Anbetracht des am 15. Oktober beginnenden XVII.Parteikongresses der KP solle sie doch bitteschön auf eine "harmonische Atmosphäre" bedacht sein.

Keine Utopien mehr

Bringen derartige Debatten unter den politischen Eliten die Einheit der Partei zunehmend ins Wanken?

Derzeit verschafft sich eine so genannte "Neue Linke" - formiert aus altgedienter Nomenklatura und Sozialwissenschaftlern - Gehör und fordert wieder mehr Staat statt noch mehr Markt. "In Anbetracht der Probleme verurteilen sie die aus ihrer Sicht neoliberalen Reformen", meint der Parteihistoriker Xu Qingquan, "und plädieren für eine Rückkehr zum Gedanken der Gleichheit aus der Zeit Mao Zedongs." Im Gegenzug bilden Wirtschaftskader und Volkswirtschaftler den Kern einer oft als "Neue Rechte" bezeichneten Plattform. Nach dem Eindruck von Herausgeber Xu sind deren Position auch innerhalb der Parteispitze auf dem Vormarsch. Laut "Neuer Rechter" verhindert ein ideologischer Dogmatismus vertiefende Wirtschaftsreformen - Korruption und soziale Instabilität seien die Folge. Stimmen, deshalb politischen Reform das Wort reden, sind bis dato die Ausnahme. "Dafür ist die Atmosphäre in der Partei noch nicht frei genug", meint Xu, "die erlaubte Demokratiedebatte beschränkt sich auf den Wunsch nach Transparenz und auf innerparteiliche Mechanismen."

Noch wird in allen Lagern darauf geachtet, sich nicht allzu weit von der Parteilinie zu entfernen. "In den achtziger Jahren verehrten viele die westlichen Demokratien, allen voran die der USA", erinnert sich Xu. Nun sei man rationaler und habe auch Lehren aus Umbrüchen wie in Russland oder Osteuropa überhaupt gezogen. Unter den Bedingungen Chinas führten demokratische Revolutionen ins Chaos, heißt es oft. Nicht nur erfahrene Parteimitglieder wie Xie Tao, sondern auch ambitionierte Kader wie Yu Keping, Vize-Chef des Übersetzungsbüros der KP, favorisieren deshalb ein staatstragendes, elitäres Demokratiemodell - "mit chinesischen Charakteristika". Demokratie ist eine gute Sache, argumentiert der 49-jährige Yu Keping in seinem gleichnamigen Essay, das zunächst gleichfalls im Internet kursierte und dann Ende 2006 von der Pekinger Tageszeitung veröffentlicht wurde. Zwar sei Demokratie weder frei von Missbrauch noch einfach zu realisieren, aber eben doch das bestmögliche System für die Repräsentation der Volksinteressen und den "Aufbau einer modernen starken Nation im Sozialismus mit chinesischen Charakteristika". China solle keine fremden Modelle übernehmen, sondern gemäß seiner Geschichte und Kultur eine "sozialistische Demokratie" verfolgen, schließt Yu Keping sein Plädoyer.

Auch He Weifang liegt an einem prosperierenden China und einer Zukunft der Kommunistischen Partei. "Aber gerade deshalb sage ich deutlich, was gesagt werden muss", meint der Rechtsprofessor a der Peking-Universität. Als Übergang zu einem Mehrparteiensystem solle sich die KP in zwei Flügel spalten, sich wirklich der Verfassung unterordnen und eine freie Presse zulassen. "Nachdem ich das auf einer als intern klassifizierten Konferenz der Partei im Frühjahr 2007 gesagt hatte, fanden es dort viele zu direkt, aber ich wollte die Partei an eine neue Art der konstruktiven Kritik gewöhnen".

Das Protokoll der Sitzung gelangte an die Öffentlichkeit, viele lobten daraufhin Professor He für seine Offenheit, doch der entgegnete, aus seiner Sicht bleibe es schwierig, Akzente für ein umfassendes Verständnis von Demokratie zu setzen. Zwar stimme er Xie Tao oder Yu Keping durchaus zu, wenn es um einen eigenen Weg für China zur Demokratie gehe, jedoch sei "die Essenz eines demokratischen Systems, wie zum Beispiel Wahlen, unbedingt universell zu verstehen", sagt der 47-Jährige. In der Partei mangele es bisher an der Bereitschaft für wirkliche Veränderungen "Ich bin für die nächsten fünf, sechs Jahre nicht sehr optimistisch. sagt He. Was mich trotzdem zuversichtlich sein lässt, ist der Umstand, dass die Partei keine Utopien mehr verfolgen kann."


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