Großmutter wusste immer, welches Wetter kommt. Manchmal befühlte sie nur ihr Kreuz, lag da auf den bunten Kissen, erstöbert aus den Abfalltonnen der Umgebung, und ächzte: "Kalt wird´s." Auf dem hoch aufgetürmten, mit einem orangefarbenen Kunstfell bedeckten Bett saßen abgegriffene Teddybären und einarmige Puppen, der einen fehlte ein Auge, der anderen hatte jemand mit Kugelschreiber eine Narbe ins Gesicht gemalt. An den Wänden reihten sich Kartons, Großmutter stopfte die während ihrer nächtlichen Streifzüge zusammengetragenen Stoffe, Bettüberzüge, Vorhangreste und Kleiderfetzen in Kartons, bis sie alles im Raum überfluteten. Die Stühle waren schon seit langem nicht mehr aufzufinden, nur zwei unförmige Hügel erinnerten daran, dass man sich einst in der Zimmermitte hinsetzen konnte. Irgendwann hatte sie mit Schuli gemeinsam eine Schnur quer über das Zimmer gespannt und ihre Neuerwerbungen dort aufgehängt: eine austrocknende Bananenschale, weil sie so lustig scheppert, einen Weinheber, einen Kugelfisch mit Schmolllippen, ein Bild aus der Zeitung. Großmutter malte um die Lichtschalter lachende Gesichter, und auf die Wand malte sie lange Lianen mit Blüten, bunte Pflanzen, Äffchen, und Teufel, die die Zunge herausstreckten.
Im kleinen Haus herrschte immer ein bestialischer Gestank, wir zogen uns meistens nur zum Schlafen dorthin zurück, sonst wohnten wir im Garten, der fast uneinsehbar an einem steil abfallenden Hang lag. "Dass du mir ja nicht auf die Straße hinausgehst", sagte Großmutter immer, eher verschlafen als streng, als wäre die Straße die Hauptgefahrenquelle, und als hätte sie damit ihre großmütterlichen Pflichten auf Tage hinaus erledigt: "Wenn du hinausgehst, dann schlag ich dich tot." Was ich tagsüber aß, was ich trug, ob ich mich eventuell wusch, das kümmerte sie wenig. Ich sah niemals, dass sie sich gewaschen hätte, sie trug stets ein buntes Tuch auf dem Kopf, an den Füßen sommers wie winters Pantoffeln, und ihre Knöchel waren ständig von großen verschorften Wunden übersät.
Ich sah mir ihren Fuß an, als sie mit Schuli die Lehmgrube aushob: zwischen ihren Zehen mit den langen schwarzen Krallen quoll der fahle Lehm herauf. Schuli hatte den Ofen in zwei Tagen gesetzt, ab da konnten wir alles brennen, was wir aus Lehm geformt hatten. "Backen kann man wohl nicht in dem Ofen?" fragte ich. Großmutter begriff irgendwie, dass ich Hunger hatte, denn sie wies mit dem Kinn in die Tiefe des Gartens: "Iss Mandeln. Außerdem gibt es Brombeeren."
Schuli, ihr Lebensgefährte, hielt sich nur selten bei ihr auf, manchmal verschwand er für Wochen, dann brachte er immer einen Sack mit, dessen Inhalt sie später neben der Hauswand hockend sortierten. Großmutter hatte neben meiner Mutter angeblich noch ein Kind, das verhungert war, zumindest erzählten das die Verwandten, und dass Mutter anfangs einen kleinen Bruder namens Rudi hatte, der mit vier Jahren an der Ruhr starb, weil er sich in seinem Hunger mit unreifen Aprikosen vollgestopft hatte.
Ich wagte es nie, danach zu fragen, mich schauderte es vor dem Wort Ruhr und außerdem fürchtete ich die gelegentlichen manischen Wutausbrüche meiner Großmutter, wenn sie mit den Armen fuchtelnd ihre Flüche in die Luft und in das Echo des Steilhanges schleuderte. "Dass der Tod euch allen aus den Augen schauen wird!"
Einmal ging sie für mehrere Tage weg. Mir kam meine Mutter in den Sinn, die ich seit etwa drei Wochen nicht gesehen hatte, sie war offenbar gegangen, um eines meiner neuen Geschwister tot zu gebären und es dann rasch zu beerdigen, danach würde nur noch der langsam flacher werdende Bauch an das versprochene Geschwisterchen erinnern. Oder mein Vater, der zu jener Zeit die Grenzdörfer mit seiner Schießbude abklapperte und von Zeit zu Zeit mit lautem Gepolter eintraf, um dann wieder genau so schnell, wie er gekommen war, zu verschwinden.
Ich saß im Garten auf dem Boden und auch ich versuchte, die Wege der Ameisen zu erkennen. Großmutter und Schuli zeichneten seit Jahren ihre Landkarten, die sie dann an die Außenwand des Schuppens nagelten, wo sie zwar durch die mit einer gelben Platte verlängerte Traufe geschützt waren, aber doch wellig wurden und vom hereinsickernden Regenwasser bunte Streifen weinten.
Ich saß auf dem Boden und besah mir meine Sohlen, schwarz von den Brombeeren, und überlegte, ob ich nicht zu den Verwandten nach Újpest fahren sollte. Ihre Adresse war mir bekannt, nur nicht, wie man von hier oben zu ihnen kam. Als ich unten in der Stadt angekommen war, stieg ich in eine Straßenbahn, die mich zu einem großen Platz brachte. Ich wusste, von da musste ich mit einem Autobus weiterfahren, aber nicht, mit welchem. Ich befragte alle Passanten, wie ich zum Großkaufhaus in Újpest kommen konnte, denn von dort kannte ich den Weg zur Siedlung, die, da sie inzwischen abgerissen war, nur aus ebenerdigen Häusern bestand. Auf dem Hof stand ein ausgeweideter sandfarbener Lada ohne Räder, und an der letzten Tür hing eine geborstene Tafel: "Das freie Ausspucken ist verboten." Im Haus war der Rauch zum Schneiden, es drängten sich an die zehn Personen um den gedeckten Tisch.
"Das ist die Tochter vom Sanyi", sagte eine Frau, die sich hinter den Stuhllehnen herausgewunden hatte. Ein Mann blickte mich unvermittelt an und grölte in den Rauch hinein: Und jetzt singen wir "Mein guter Vater ist der allerbeste Mensch!" Er legte gleich los, die Frau bugsierte mich mit der Hand an meinem Genick in die Küche und fragte: "Hast du gegessen?"
Ich kaute auf der Hühnerkeule herum; von Zeit zu Zeit gerieten die Männer in Streit, dann setzte sich das Gegröle friedlich fort. Eine langhaarige Frau mit Goldzähnen reichte die Teller über meinem Kopf weiter. "Du, schau mal, Ida, was hat dieses Mädchen am Kopf?"
Die Kopfhaut unter den Haaren juckte mir bereits seit Tagen, und wenn ich mich kratzte, lösten sich größere gelbe Plättchen, an deren Stellen Schorfe zurückblieben. Während die Belustigung immer lauter wurde, gossen die zwei Frauen warmes Wasser in einen Zuber, wuschen mir den Kopf und schmierten ihn mit einer stinkenden Masse ein. Dann machten sie mir in der Küche ein Lager auf der strohgeflochtenen Bettstelle und zogen die Tür zu. Gelegentlich kam und ging jemand, ich hörte im Halbschlaf das Reden von draußen. "Der kleine Rudi ist nicht an der Ruhr gestorben. Er war zu schwach."
Jemand erzählte, wie meine Großmutter das tote Kind auf der Bahre photographiert, ihren Rock hochgeschürzt und sich auf den Sarg gehockt hatte, um das ihrer Ansicht nach kunstvollste Bild aus dem richtigen Winkel schießen zu können. "Die war ja schon immer verrückt", schloss einer, "und diesen Schuli werden sie schon noch schnappen."
In der Nacht erwachte ich von einem unerträglichen Jucken im Hintern. Ich kratzte mich, aber es half nichts. Eine Zeitlang lag ich wach in der Dunkelheit und hörte dem Schnarchen zu, dann fasste ich mir ein Herz und schlich ins Zimmer hinüber. Ich tastete mich zwischen den auseinandergeschobenen Möbeln vorsichtig bis zum Ausziehsofa vor, ich wusste, darüber hing ein großes buntes Marienbild an der Wand. "Tante Ida", flüsterte ich in die Dunkelheit.
Wir standen in der Küche, ich beugte mich mit heruntergelassenem Höschen vor und hielt meine Knöchel fest, während die Frau meines Onkels im spärlichen Licht der Küchenlampe aufmerksam meinen After untersuchte. "Gottverdamm sie alle, verfaulen sollen die Biester," - lautete ihre Diagnose. Sie schälte mit dem Küchenmesser einen schmalen Streifen von der Kernseife ab und sagte, ich solle mich auf den Bauch legen. Es werde weh tun, die Biester aber vertreiben. Das hassen sie, und den Knoblauch. Dann schob sie mir den Seifenstreifen wie ein Zäpfchen in den Darm.
Ich spürte einen ungeheueren Schmerz und war mir sicher, gleich sterben zu müssen, ja, dem Tod selbst begegnet zu sein.
Bis zum Morgen hatte alles nachgelassen, nur mein großes Geschäft konnte ich nicht machen. Tante Ida packte eine Menge Fleisch und Kartoffeln ein, und Onkel Dodo beugte sich zu mir herab: "Sag deiner Großmutter, dass sie ganz furchtbar in den Arsch getreten wird. Das lässt ihr Dodo ausrichten."
Es war Mittag, als ich im kleinen Haus ankam. Einen Kühlschrank gab es nicht, ich stellte die Schachtel von Tante Ida neben der Hauswand in den Schatten und versuchte mich noch ein wenig am Ton, doch die Grube war durch das warme Wetter ganz ausgetrocknet. Ich klopfte mir ein paar Marillenkerne auf, dann bekam ich auch das über und zeichnete weiter an den begonnenen Ameisenlandkarten.
Auf dem Garten lastete brütende Hitze, meine Haut war schweißglatt, und meinen Haaren entströmte noch immer ein Geruch nach Petroleum. Ich legte mich an den Rand der Grube, schob mir das mottenbewohnte Kissen aus dem Bett unter dem Kopf, und sah den immer dunkler werdenden Wolken zu. Sie türmten sich hoch und quollen in sonderbaren Formationen, als stiege der Rauch eines Waldbrandes aus dem Tal zu uns herauf. Die Ameisen schleppten ihre Eier, als wüssten sie mehr. Ihr Zug hatte etwas tödlich Entschlossenes. Baute ich Hindernisse aus Zweigen auf ihrem Weg, kletterten sie darüber und beförderten ihre winzigen Wickelkinder weiter, zu einem Versteck, das sie für sicher hielten.
Ob nun der Abend dämmerte oder ein herannahender Sturm den Himmel verdunkelte, jedenfalls war es schon ziemlich spät, als ich Großmutter aus den Tiefen des Gartens heraufkommen sah, an einem Arm trug sie einen Korb, über dem anderen ein graues Brautkleid.
"Ich musste weg", keuchte sie. Sie trat in das kleine Haus und lud ab. Ein mächtiger Donnerschlag ließ den Berg erzittern, ein trockener, greller Blitz riss den Himmel entzwei. "Hast du gegessen?" rief sie aus der Küche, und knisterte mit den Taschen und Tüten, die sie aus ihrem Korb fischte.
"Die Ida hat Essen geschickt."
"Na also", quittierte Großmutter die Nachricht und wollte gar nicht wissen, durch wen sie wohl das Essen geschickt hatte, sie beugte sich neugierig über die Schachtel, deren Deckel ich eben abhob.
Der angeschlagene Teller, auf dem die Fleischstücke lagen, war über und über mit Ameisen bedeckt, als hätte ich einen gehäuften Teller Mohn auf den Tisch gestellt. Großmutter pustete und schlenkerte die Pellkartoffeln. Draußen legte der Regen mit Getöse los, er trommelte auf das Wellblech und auf die am Dach lose ausgelegten Teerpappenbahnen.
"Deine Mutter hat entbunden", sagte sie. "Ein Junge."
Sie schüttelte die Ameisen so gut es ging von einer Hühnerkeule, reichte sie mir und sagte:
"Aber er ist gestorben. Du musst essen, sonst wirst auch du noch schwach."
Aus dem Ungarischen von György Buda
Krisztina Tóth wurde 1967 in Budapest geboren. Nach dem Abitur studierte sie an der Philosophischen Fakultät der Universität ELTE. Ihr erstes Buch, für das sie den Miklós Radnóti Literaturpreis bekam, erschien im Jahr 1989. Seitdem hat sie sieben Gedichtbände veröffentlicht und zahlreiche Preise gewonnen.
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