Erinnerungsschlacht und weniger militant Gedächtnismarathon hat der seit kurzem an der Universität Jena lehrende Historiker Norbert Frei die Kampagne genannt, mit der hierzulande auf geschichtliche Ereignisse, die 60 Jahre zurückliegen, Bezug genommen wird. Das eine Sprachbild lässt an Sieger und Besiegte denken, das andere an eine Menschengruppe, die nach außergewöhnlicher Anstrengung an ein Ziel gelangen will. Beide Bilder regen zum Nachdenken darüber an, was eine Minderheit von Deutschen, die manchen als die geschichtsversessene gilt, unternimmt, wenn sie Bücher schreibt und liest, Filme dreht oder ansieht, debattiert, fragt, streitet und gar auf Straßen demonstriert.
Während einer Diskussion in Strausberg bei Berlin fragte, als die Rede von der Naziwehrmacht war, ein junger Mann aus einer Gruppe, die sich als "deutschnational" verstand, was ein Deutscher auf einem Friedhof zu tun hätte, auf dem Soldaten der alliierten Armeen begraben sind, die in den Schlachten des Zweiten Weltkrieges umkamen. Einem Siebzigjährigen mag es nicht schwer fallen, darauf eine Antwort zu geben. Hätten diese Soldaten, damals kaum älter als er, den Faschismus nicht zerschlagen, wäre die Reihe auch an ihn gekommen. Er hätte dem Einberufungsbefehl zur Wehrmacht folgen müssen und wäre dann womöglich, irgendwann auf irgendeinem Friedhof beerdigt worden. Das mag einleuchten, ist für die Nachgeborenen, die an keinem Krieg gerade so vorbei geschrammt sind, aber kein Grund für Danksagung mehr. Was also kann der Mehrheit der Deutschen dieses Datum 8. Mai bedeuten? Welcher Platz gehört ihm in unserer Geschichte?
Mit dessen Bestimmung hat es nach wie vor mancherlei Schwierigkeit, das offenbart allein die anhaltende Kontroverse darüber, wie das Ereignis benannt werden soll. Kaum war es eingetreten, redeten die Zeitgenossen - treffend und mehrdeutig - vom "Zusammenbruch". Zu Bruch gegangen waren nicht nur Häuser und Städte, sondern ebenso, wenn auch weniger sichtbar und noch weniger eingestanden, die im Nazireich gewonnenen Anschauungen und Illusionen. Alltagssprachlich lieferte die Wendung "Nach dem Zusammenbruch" jahrelang eine jedermann geläufige Zeitdiagnose wie heute noch das bildärmere "Nach der Wende". Weiter kamen Kennzeichnungen in Gebrauch wie Kriegsende, Niederlage, Kapitulation, Untergang, Stunde Null - wie an verschiedenen Orten aufgestellte Scheinwerfer beleuchten sie ein und denselben historischen Platz, das eine sichtbar machend, anderes im Schatten lassend.
Doch wie steht es mit dem Begriff "Befreiung", der aus der Zeit deutscher Zweistaatlichkeit zudem mit einer konträren Geschichte befrachtet ist? Im ostdeutschen Staat seit dessen Gründung nicht nur offiziell gebräuchlich, vergingen im westdeutschen hingegen nahezu vier Jahrzehnte bis Richard von Weizsäcker (s. Seite 5) ihn 1985 in einer Staatsrede verwandte und versuchte, den Bundesbürgern klar zu machen, dass sie allesamt - Zeitgenossen und Nachgeborene - aus jenem schon fernen Ereignis einen Gewinn gezogen hätten. Aber welchen, denkt man nicht allein an die aus Konzentrationslagern, aus der Gewalt der Machthaber und ihrer Büttel Befreiten?
Unstrittig ist, dass Hunderttausende deutscher Zivilisten vor 60 Jahren definitiv von ihren Ängsten vor Luftangriffen, vor Nächten in dumpfen Kellern, vor qualvollem Tod unter Trümmern befreit waren. Millionen Wehrmachtssoldaten mussten nicht länger fürchten, durch einen Befehl in Schlacht und Tod gehetzt zu werden. Das ist mitunter vergessen oder wird mit dem Verweis abgetan, die Masse der Deutschen hätte sich nicht befreit gefühlt. Wie auch sollte sich eine schlesische Bäuerin - mit ihren Kindern ins Bayerische verschlagen - befreit fühlen? Wie jene, denen eine ungewisse und ungewiss lange Gefangenschaft bevorstand? Wie Millionen kleiner und nicht so kleiner Nazis, die erwarten mussten, dass die Rede auf ihre Rolle kommen werde und das nicht ohne Folgen? Doch Todesfurcht gegen Zukunftsangst - das war bei allem kein so schlechter Tausch. Und die Gewissheit des Über- und Weiterlebens wuchs. Doch damit hat das Für und Wider kein Bewenden.
Wer sich dem Begriff Befreiung nicht nur von den teilweise illustrativen Lebensgeschichten der Zeitgenossen her nähert, ein Verfahren, dass derzeit in allen Medien praktiziert wird, sondern eine historische Perspektive gewinnen will, sollte tun, wovon ihn die gleichen Medien Tag für Tag weglenken. Er sollte sich Ursprung, Charakter und Ziele dieses Krieges vor Augen führen und könnte erkennen, dass die übergroße Mehrheit der Deutschen in jenem Mai von einer schandbaren Rolle befreit wurde, die keine Generation ihrer Vorfahren je gespielt hatte. Sie waren, freiwillig oder gezwungen, begeistert oder widerwillig an einem weithin verwirklichten Plan beteiligt, Europa unter das Hakenkreuz zu zwingen. Sie hatten nahezu den gesamten Kontinent mit Mordstätten überzogen. Durch sie waren Lebenspläne von Abermillionen zerstört worden. Und sie hatten mit wenigen Ausnahmen nichts getan, sich von dieser Rolle zu befreien, ja sie vielfach selbst bis in dieses Frühjahr 1945 hinein verlängert. Ihnen und den Nachfolgenden gab die Befreiung die Chance auf eine Zukunft, in der sie den Völkern keine Bedrohung mehr sein würden.
Dieses Verständnis von Befreiung ist in diesem Land bei weitem nicht durchgesetzt. Es bleibt ein Indiz dafür, ob und wie die Deutschen ihre Geschichte begriffen und aufgearbeitet haben. Nicht mehr zum Zwecke juristischer Anklagen von Personen, sondern zuallererst, um das Verdienst der Befreier nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Festgehalten werden soll daher eine Warnung, die in unseren Tagen ihr Verfallsdatum noch längst nicht erreicht hat. Sie zu verstehen, heißt danach zu forschen, wie sich die Deutschen in die Lage brachten, dass Europa von ihnen und sie selbst von ihrer Rolle befreit werden mussten.
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