Europa hat sich vor drei Jahren um ein großes Stück Osten erweitert. Der Schriftsteller György Dalos hatte zum Beginn unserer Serie auf das doppelte historische Bewusstsein in Ungarn hingewiesen (Freitag 15/2007), während der kroatische Kultursoziologe Zarko Paic die fortdauernde Dämonisierung des Balkans konstatierte (Freitag 17/2007). Im dritten Teil schlägt die lettische Schriftstellerin Laima Muktupavela nun einen Ort vor, an dem die ängstlichen Vorstellungen vom Anderen relativ leicht abgelegt werden können: den Esstisch.
Gestatten Sie mir, dass ich, während ich Europa auf meinem Ryanair-Besen überfliege wie eine Hexe, einen Blick in die Zukunft werfe und erzähle, wie es war und wie es sein wird.
Der 1. Mai vor drei Jahren war Welcoming Day. Wir Letten und neun andere waren eingeladen, Europa beizutreten. Offiziell gab es Jubel auf beiden Seiten. Die Altmitglieder drückten uns Neuankömmlingen diplomatisch die Hand. Chöre sangen, es erklang die Ode an die Freude. Wir fühlten uns wie Konfirmanden vor der Kirche. Danach ein Bankett. Liebevolle Kniffe in unsere geröteten Wangen, anstoßen mit den alten Ländern, nicht zu vergessen die alten Damen vom Wohltätigkeitsverein, die uns mit knochigem Zeigefinger drohten und Belehrungen über einen tugendhaften Lebenswandel mit auf den Weg gaben. Endlich hatten die alten Schachteln naive Zuhörer gefunden: uns, die neuen Mitgliedsländer. Die Titelseiten der Zeitungen waren voller Argumente für die soziale und wirtschaftliche Notwendigkeit der EU-Erweiterung. Wie aber mochten sich die fühlen, die uns aufnahmen? Wie ging es dem Durchschnittseuropäer, der einfach nur seinen friedlichen Alltag im Wohlstand erleben wollte? Ja, was denkt der tipicus europeanus, wenn er mit uns Neuankömmlingen sein Brot teilen muss?
Vor einigen Jahren organisierte die französische Botschaft in Dublin das französisch-irische Literaturfestival "Memory now". Autoren aus Frankreich, Irland und einigen Kandidatenländern sprachen damals über die Zeit, wie es nach dem 1. Mai sein würde. Nach dem Welcoming Day. Wir alle hatten Vorträge über die Notwendigkeit vorbereitet, die Ereignisse der Vergangenheit in literarischen Werken zu dokumentieren. Aber in Wirklichkeit redeten alle über dasselbe: Über die Angst. Ja, über die Angst, Sie haben sich nicht verhört!
Aus welcher Ecke Europas die Literaten auch kamen, sie sorgten sich über die Zukunft ihrer nationalen Kultur. Als hochgebildete und wohlerzogene Menschen äußerten die Literaten ihre Ängste über das Überleben ihrer Sprachen freilich nicht laut. Die Franzosen, ein Volk mit Millionen Menschen, machen sich ernsthaft Sorgen über ihre Sprache. Sie könnte ja vom Englischen oder von arabischem Slang unterwandert werden, es soll solche Tendenzen geben. Man stelle sich das mal vor! Die Franzosen liegen in ihren Schützengräben wie einst bei Waterloo.
Die irischen Schriftsteller waren auch verängstigt: In Brüssel wird es kein Irisch mehr geben! Das wäre der Todesstoß für die irische Sprache, stellten sie fest. In Irland gibt es nur vier Millionen Iren, seufzten sie. Wenn dann noch zehn neue, dreiste und unverschämte Länder dazukommen, dann würden diese vier Millionen Menschen zur Bedeutungslosigkeit verdammt.
Wie oft haben wir Letten dieses und ähnliches nicht schon gehört. Wir haben uns längst daran gewöhnt und sind zu Experten geworden, wenn es darum geht, vor zunehmendem Einfluss von außen auf unsere Sprache und vor der allgemeinen Europäisierung zu warnen.
Die Schriftsteller bemühten sich, diese Unkenrufe durch Gegenargumente zu entkräften. Und man kam zu dem Schluss, dass jeder, statt ängstlich vor den Fremden und Barbaren zu zittern, sich erst einmal darauf besinnen sollte, wer er selbst sei und was seine Wurzeln seien, ob er nun Franzose, Ire, Deutscher, Brite, Lette, Tscheche, Pole oder Spanier war. In Lettland ist dieser Prozess bereits im Gange. Siehe da, die Lettgallen schämen sich nicht mehr, Lettgallisch* zu sprechen. Man will nicht länger der durchschnittliche Einheitseuropäer sein, sondern Katalane, Baske, Bretone, Bayer, Walliser, Same, Tscheche oder Malteser. Wird auch in fünfzig Jahren zum 9. Mai, dem Europatag, die Ode an die Freude über Europa erschallen?
Das Folgende nicht nach einem üppigen Mittagessen lesen!
Jeder wird gehört haben, dass außerhalb von Europa die Anderen ein anderes Leben führen. Reisende wissen merkwürdige Dinge zu erzählen von eigentümlichen Bräuchen und sonderbarer Kleidung. Und die Zuhörer stellen fest, dass die Welt wirklich verrückt ist. Diese Anderen, schau, sie leben und denken seltsam. Wir, die wir in unserem eigenen Land leben, schau, wir machen es richtig.
Ich will davon erzählen, welche absonderlichen Dinge die Anderen essen:
- vergorene Pferdemilch (Kasachstan)
- in Hirschmägen zubereiteten Pilzeintopf (Alaska)
- Schildkrötenwurst in Schlangenhaut mit Ingwersauce (Thailand)
- bei lebendigen Leib gebratene Karpfen, die noch auf dem Teller nach Luft schnappen (China)
- In Yak-Hörnern servierte Wildschweinhoden (Tibet)
- Rotkohlsuppe mit Blutsülze (Polen)
Die Esskultur der Anderen entspricht nicht unseren Traditionen. In Lettland gab es einmal einen Skandal, der international für Aufsehen sorgte. Bei einem Empfang wurde der französische Kulturattachée mit erlesenen lettischen Nationalgerichten bewirtet:
- in Asche gebackene Kohlrüben
- Wurst aus Grütze und Schweineblut
- Erbsen mit Speck
- Grütze aus Sauermilch
Das Essen wurde schön auf einem weiß gedeckten Tisch aufgetragen, in einer Tonschüssel serviert und mit einem Holzlöffel vorgelegt. Wir wollten, dass der hohe Gast und Feinschmecker das Besondere der einfachen, aber zugleich gesunden Küche des lettischen Volkes kennen lernt. Der Monsieur aber war zutiefst beleidigt. Er drohte sogar mit einer Note aufgrund der Missachtung seines Diplomatenstatus. Das gab vielleicht ein Rauschen im Blätterwald! Die Geschichte trug sich in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts zu. Damals lernten wir gerade, uns in die europäische Politik, Wirtschaft und Kultur einzufinden, und begingen prompt einen Fauxpas. Und dabei wollten wir doch nur das Beste, indem wir dem Gast das vorsetzten, was nun einmal im Hause war.
Ungefähr solche Gedanken kamen mir, als ich im letzten Sommer in Eire am Atlantik stand, auf dieser Insel am Rand Europas. Ich war in ein Haus eingeladen, in dem man Gälisch sprach. Die Anderen waren nicht zu verstehen. Man konnte sich nur von dieser Druidensprache dahintreiben lassen wie bei einem uralten Ritual.
Die Hausherrin Deirdre hatte gerade ihr zweites Kind zur Welt gebracht, einen Sohn mit Namen Cronan. Ich hatte zusammen mit den Gastgebern eine Ecke des mit Brombeersträuchern überwucherten Gartens für uns frei gemacht. Meine Tochter Anna arbeitete und sang lettische Volkslieder, zumindest ein paar davon - es gibt bei uns davon fast zwei Millionen. Sie hatte den Iren von Lettland und den Letten erzählt. Leider auf Englisch, nicht auf Gälisch.
Wir verständigten uns darauf, dass die Letten wie die Iren ihre ursprüngliche Weltsicht bewahrt hatten: den Sieg des Lichts über das Böse. Die Gastgeber waren uns wohlgesonnen. Cronan wurde uns vorgeführt. Ein neugeborener Kelte mit schwarzen Haaren und blauen Äuglein.
Dann wurden wir zum Essen gerufen. Erst da begann die wahre Geschichte von den Kräften, die die Menschheit vereinen. Das Essen war einfach und gesund: ein traditioneller irischer Kohleintopf mit Lammkeule und Pellkartoffeln und dazu große Salatblätter in Essig. Und in einem Extratopf gab es geriebene Möhren mit etwas, das wie kleine Fleischstückchen aussah. Nur Deirdre aß davon. Wir lobten die Kartoffeln, die zu unterschiedlichen Epochen sowohl Iren als auch Letten vor dem Hunger gerettet hatten. Wir verkündeten, dass uns nicht nur Fett ernährt, sondern auch die Kraft des Schöpfers und die guten Gedanken.
Empfindsame Naturen sollten an dieser Stelle nicht weiterlesen!
Deirdre schenkte mir ein herzliches Lächeln und bot mir vom Inhalt ihres Topfes an: "Das ist meine andere Seite. Wir Kelten pflegen seit alten Zeiten den Brauch, dass die Mutter nach einer Niederkunft das hier aufisst. Das gibt der von der Geburt erschöpften Mutter ihre Kraft zurück. Das bietet man denen an, denen man vertraut. Would you like my placenta´s soup?"
Ich bin seit über zwanzig Jahren Vegetarierin, und im Flugzeug lasse ich mir immer ein special meal bringen. Hier aber, bei Deirdre am Tisch, war ich keine Diplomatin wie der französische Kulturattachée. Ich nahm Deirdres Geschenk an und verzehrte die Stückchen von ihrem Mutterkuchen wie gebratene Champignons. Das Gericht hatte nichts mit Fleisch, mit dem Körper oder überhaupt mit Essen zu tun, verstehen Sie. Sondern mit dem Spenden alter Kräfte, jawohl!
Und eins weiß ich heute genau: Wenn der französische Diplomat damals an einem heißen Tag eingeladen worden wäre, beim Heumachen auf der Wiese zu helfen, dann hätte er seinen Smoking ausgezogen und zusammen mit uns Letten im weißen Hemd geschuftet. Und er hätte zusammen mit uns all das gegessen, was wir über Jahrtausende hinweg für gut und gesund befunden haben. Die bei der gemeinsamen Arbeit verbrachte Zeit wäre eine gute Lehrstunde zur Geschichte der lettischen Arbeit und Kultur gewesen, und wir wären eins geworden.
Aber jetzt sage ich es noch einmal: Jawohl, wir, die wir an jenem 1. Mai nach Europa gekommen sind, wir waren die Anderen. Vor uns hatte man Angst wie vor Fremdlingen. Und man hat noch immer Angst vor uns! Aber wenn man dem Anderen das anbietet, was Jahrhunderte lang in den Traditionen des Volks hochgehalten wurde, dann verschwindet die Angst vor dem Fremden. Es geht hier nicht nur um das Brot, das man dem Anderen vorsetzt. Wenn man dann auch noch die Mentalität der anderen Nation versteht, deren Geschichte erfährt und Menschen aus Fleisch und Blut kennen lernt, dann verschwindet das Spukbild des Fremden. Das hat weder etwas mit Mystik noch mit Kannibalismus zu tun. Sondern mit gegenseitigem Interesse und Vertrauen. So nennt man das.
Das Schlimmste, was man im alten China seinem Feind wünschen konnte, waren die Worte: "Mögest du in einer Zeit der Umbrüche leben!" In Unsicherheit über die eigene Zukunft und die der Kinder zu leben, ohne sich und die Anderen zu verstehen - was konnte es Entsetzlicheres geben? Wir wollen doch alle satt, glücklich und in Frieden leben, und oft stellen wir uns die EU im vollen Ernst als Schlaraffenland vor. Wenn dort nun wirklich Milch, Honig oder Wein in den Flüssen fließt, die Häuser aus Kuchen bestehen und einem die gebratenen Tauben in den Mund fliegen, gilt das dann auch für uns?
Aber das Gedächtnis des Menschen ist kurz. Solche imperialen Gebilde, solche Vernunftehen, die aus sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Erwägungen einiger Völker oder Stämme heraus gebildet wurden, gab es immer wieder. Mesopotamien, das Römische Imperium - sie kamen und gingen.
Die Aufnahme Lettlands in die EU als ein neu geschaffenes Imperium ist für mich Teil eines solchen Prozesses. "Das historische Gedächtnis ist nur ein Instrument, das sowohl hehren als auch niederen Zielen dienen kann", gestatte ich mir Vita Matisa zu zitieren, Doktorin des Instituts für internationale Beziehungen der Universität Genf. Und ich nehme mir ein wenig Fatalismus heraus. Ich habe keine Angst vor einem Verschwinden der lettischen Sprache, nur weil wir jetzt in der EU sind. Lettisch ist ein lebendiges Wesen, das immer Veränderungen unterworfen war. Gestatten Sie mir, dem chinesischen Sprichwort nicht zuzustimmen. Es gibt nichts Besseres als eine Zeit der Veränderungen. Denn diese mobilisieren unsere Fähigkeit zur Anpassung.
Trotzdem haben die Menschen in Lettland Angst vor der EU, Angst vor dem Verlust ihrer Lebensgrundlagen, so fragil diese auch sein mögen. Die Bauern haben Angst, die Rentner, die Hüter der lettischen Sprache, die Kleinunternehmer, die Fischverarbeiter und sogar die Kommunalbeamten, sobald das Gerücht von einer Gebietsreform die Runde macht. Und auch in den alten EU-Staaten herrscht Unzufriedenheit. Ich habe keine Angst, denn ich sehe mich als Teil der Natur, und ich möchte auf gar keinen Fall, dass man über uns noch später in Chroniken schreibt, dass die Letten ein kleines zänkisches Völkchen sind, das auf den Bäumen hockt und sich von Pilzen ernährt.
Die Plus- und Minusliste ließe sich lange fortsetzen, aber die Jungen, die nichts zu verlieren haben und flexibel sind, werden sich an das Leben in der EU anpassen. Ich glaube nicht, dass sie ihre lettische Identität verlieren werden, auch wenn dies die Hauptsorge der "Bewahrer des lettischen Erbes" ist. Bei denen komme ich nie ohne einen Schuss Ironie aus, denn diese Leute haben sich meistens in ihrer Nationalromantik einzementiert und verschließen sich wie Autisten einem zivilisierten Bewusstseinswandel. Misstrauisch machen mich aber auch die lettischen Politiker, für die mit dem Eintritt zur EU und zur NATO alles absolut klar zu sein scheint.
Erinnern wir uns allein daran, wie in Lettland vor der Volksabstimmung über den EU-Beitritt eine Arbeitsgruppe gebildet wurde, die die Informationskampagne organisieren sollte. Geleitet wurde die Gruppe von der Kunsthistorikerin Ramona Umblija. Hauptaufgabe sollte sein, die Menschen neugierig auf die Fragen der Chancen und Risiken einer EU-Mitgliedschaft Lettlands zu machen. Nach Ansicht von Frau Umblija war es wichtig, dass den Menschen diese Informationen möglichst verständlich dargeboten würden. Das war eine alles andere als lächerliche Forderung, denn damals schien es, als gebe es nichts Dringlicheres, als einen Vertragstext zu erstellen, der juristisch möglichst hieb- und stichfest formuliert sei. Wie es der lettische EU-Vertreter Andris Piebalgs damals ausdrückte, war dies jedoch nicht ohne Probleme möglich, weil in manchen Fragen "Lettland und die EU unterschiedliche Auffassungen und Formulierungen haben." So was aber auch! Wir sollten also nicht nur unsere Texte anpassen, sondern nach unserem Beitritt auch noch lernen, in dieser "verdammten Hundesprache"** zu reden.
Eins jedenfalls ist klar: Ein Leben in der EU bedeutet Veränderung.
* Lettischer Dialekt, der auch als eigene Schriftsprache gebraucht wird, außerdem der Heimatdialekt der Autorin
** Begriff, den die Russen abfällig über das Lettische gebrauchten, wenn sie die Letten aufforderten, gefälligst mit ihnen Russisch zu sprechen.
Übersetzung aus dem Lettischen von Berthold Forssman. Die Übersetzung des Textes geschah mit freundlicher Unterstützung des Lettischen Literaturzentrums in Riga.
Laima Muktupavela wurde 1962 im ostlettischen Rezekne geboren. Sie studierte Kunsthandwerk und später Geschichte in Riga und arbeitet unter anderem als Journalistin. Ihr literarisches Debüt feierte sie 1993 unter dem Pseudonym Felikss Baranovskis. Auf Deutsch sind von ihr bislang die Radiogeschichte Aus einem lettischen Hausbuch und die Erzählung Der schwarze Tag erschienen. Im Frühjahr 2008 soll der in Lettland hochgelobte Roman Das Champignon-Vermächtnis - Schwarzarbeit auf der Grünen Insel auf Deutsch erscheinen.
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