Die Netzkinder

Abiturienten Die jetzigen Abiturienten, geboren nach 1988, sind nicht nur einfach "fitter" im Netz, das Internet und seine sozialen Netzwerke sind ihr natürlicher Lebensraum

Buch der Woche: Das Leben ist kein Ponyhof. Die unbekannte Welt der Abiturienten von Lara Fritzsche

gebunden, 224 Seiten
17,95 €
Kiepenheuer Witsch
ISBN: 978-3-462-04128-6


Der Verlag zum Buch:

Nie zuvor ist mehr von Abiturienten erwartet worden: Sie sollen zügig und fleißig studieren, zugleich ihre Träume verwirklichen, fürs Alter vorsorgen und dabei bloß keine Spießer werden. Viele Kinder sollen sie auch noch bekommen – aber was wollen sie selbst?

Abiturfeier in einem Kölner Gymnasium. Der Moment, auf den alle so lange gewartet haben, ist endlich da. Stolz und Euphorie liegen auf den Gesichtern von Alexa, Tim und Rike – und ein Hauch Wehmut. Denn jetzt gilt es! Zu keiner Zeit hatten Deutschlands Abiturienten so viele Optionen wie heute: In Australien einen Bachelor machen? In London ein Praktikum? Einen deutsch-französischen Doppelstudiengang? Alles ist möglich, nur Scheitern nicht erlaubt.

Ein Jahr lang hat die 25-jährige Journalistin Lara Fritzsche eine Abschlussklasse begleitet. Die Zeit reicht von Silvester, als alle miteinander noch einmal unbeschwert feiern wollen, über die Prüfungen, Abschlussfeiern, Bewerbungen, Auslandsreisen bis zum Umzug und Studienbeginn. Weihnachten treffen sie sich wieder und ziehen Bilanz. Ein Jahr der großen Entscheidungen. Und keine darf vermasselt werden, denn der Druck ist riesig.

Lara Fritzsche schildert anschaulich, was heute im Abitur verlangt wird und wie sich Abiturienten darauf vorbereiten. Und warum ein ordentlicher Vollrausch dabei manchmal durchaus zuträglich ist. Was den 18-/19-Jährigen Familie und Freundschaft, Liebe und Sex bedeuten – und was das Internet damit zu tun hat, dass sie reifer und zynischer sind, als es Abiturienten noch vor zehn Jahren waren.

Feinfühlig und äußerst unterhaltsam zeichnet sie das Bild einer Generation, die keine Illusionen mehr hat und trotzdem das Gute will, für die Welt und für sich selbst.


Leseprobe:

Eine Luftblase steigt aus dem Wasser auf und zerplatzt an der Oberfläche. So klingt es, wenn der Computer den Eingang einer neuen Nachricht meldet. Es ist Dienstagabend, 22.34 Uhr. Ein kleines Chatfenster öffnet sich unten rechts auf dem Bildschirm: „Alter, mach mal Pro Sieben“, schreibt Tim über Skype. Michael lacht, greift die Fernbedienung, die neben ihm auf dem gläsernen Schreibtisch liegt, und schaltet um. Den Fernseher hat er so gedreht, dass er vom Computer aus darauf sehen kann – nicht vom Bett. „Ich sitze immer vor dem PC und schaue von hier meine Sendungen“, sagt er. Im Fernsehen flirtet Simon Gosejohann als schwuler Bauarbeiter gerade mit den Kollegen von der Baugrube nebenan. „Der Typ is so geil“, tippt Michael. „Dem ist nichts zu peinlich“, antwortet Tim. Und dann schreibt er: „Guck mal die Fresse von dem Typ im Bagger ha ha ha.“ Die ganze Folge werden sie auf diese Weise zusammen anschauen und die Sketche kommentieren. Später noch über eine anstehende Klausur beraten, über ein paar Lehrer lästern und die Bundesligatabelle analysieren. Als sie sich um kurz nach eins verabschieden, haben sie fast drei Stunden gechattet. Nebenbei hat Michael sich aber auch noch mit einem Kumpel vom Debattierclub unterhalten und mit einer Mitschülerin, mit der er sich zum Chat verabredet hat, um ein gemeinsames Referat fertig zu machen. Zudem hat er noch die Nachrichten beantwortet, die er über studivz und Facebook bekommen hat. Und wo er gerade bei den Sozialen-Netzwerk-Seiten angemeldet war, hat er auch mal nach der jungen Frau gesucht, die er ein paar Abende zuvor kennengelernt hat. Den Link zu ihrem Foto hat er Tim natürlich sofort via Skype zugeschickt. Genauso wie einen Link zu dem Song, über den sie heute in der Pause gesprochen hatten. Außerdem hat er die neuen Einträge auf Janas Profilseite gelesen und ein paar Mädels aus der Stufe „gegruschelt“. Das Referat hat er fertig bekommen, und „TV Total“ hat er auch verfolgt. Ein ganz normaler Abend.

Erst wird der Rechner hochgefahren, dann die Jacke ausgezogen

Bei den jungen Frauen aus der Stufe läuft das genauso. Wenn man zu Hause ist, ist man auch online – egal, was man sonst so macht. Ob man kocht oder isst, fernsieht oder Musik hört, duscht oder sich anzieht, telefoniert oder aufräumt. Egal, ob Freunde da sind oder man alleine ist. Für 84 Prozent der jungen Menschen ist ein Leben ohne Internet schlichtweg undenkbar, so das Ergebnis einer Studie der ARIS Umfrageforschung. „Ich bin quasi immer online“, sagt Isabell und lacht, als sei das eine Übertreibung. Die Abiturientin erklärt: „Wenn ich nach Hause komme, mache ich als Allererstes den Computer an. Bevor ich die Schuhe ausziehe und die Jacke aufhänge, gebe ich noch schnell das Passwort ein, damit der Rechner schon mal hochfahren kann. Isabell ist länger online, als sie schläft oder in der Schule ist.

Das Leben mit Internet und Handy – das hat sie alle geprägt. Soziologen sprechen schon von einer eigenen Generation, den Digital Natives. Jenen, die mit dem gelebten Gefühl der Globalität aufgewachsen sind und sich im Internet frei und sicher bewegen. Die unbekannte Webseiten anwählen, als schlügen sie ein Buch auf, die dort intuitiv richtig navigieren, die neue Programme runterladen und so selbstverständlich nutzen, als hätten sie sie selbst geschrieben. Die ohne hinzusehen SMS tippen, die auf fremden Handys beim ersten Versuch die Tastensperre aktivieren können und die die Konditionen sämtlicher Mobilfunkverträge runterbeten wie das Vaterunser. Sie sind Eingeborene dieser virtuellen Welt. Geboren nach 1988, saßen sie schon im Sachkundeunterricht in der Grundschule vor einem Bildschirm, haben die Tastatur gleich nach dem Alphabet kennengelernt und statt Tagebüchern Blogs geschrieben. Das Internet ist ihr natürlicher Lebensraum, sämtliche Fragen versuchen sie vom Computer aus zu beantworten, bevor sie sich vor die Haustür begeben.

„Mein Tag bräuchte doppelt so viele Stunden, wenn ich wie meine Mama immer überall hinrennen würde“, sagt Max und erzählt eine Anekdote, die ihm mal wieder verdeutlicht habe, wie anders er denkt. Seine Mutter habe ihm neulich erzählt, sie wolle noch beim Fotogeschäft vorbeigehen, um zu fragen, ob ihre Bilder fertig seien, sagt Max und lacht los. Für ihn undenkbar. Erstens: Er besitzt Bilder ausschließlich digital. Zweitens: Bräuchte er einen Abzug, dann würde er den online bestellen, per Kreditkarte bezahlen und sich die Fotos nach Hause schicken lassen. Drittens: Wenn er denn Filme in einen Fotoladen gebracht hätte, aber nicht wüsste, ob die Bilder bereits abgeholt werden könnten, würde er den Laden googeln und dort anrufen, bevor er sich auf den Weg machte. Die Vorgehensweise seiner Mutter ist ihm völlig unbegreiflich. Manchmal, erzählt er und lacht wieder, schreibe sich seine Mutter an der Bahnhaltestelle auch Abfahrtszeiten in einen kleinen Block, ebenso wie Veranstaltungshinweise oder Öffnungszeiten. Er macht das ganz anders. Er merke sich ein Schlagwort und google die Details. Oder er merke sich eine Liedzeile und google dann später Interpret und Titel. Hauptsache, man habe ein Stichwort. Dieses Denken teilt er mit fast allen Gleichaltrigen. Ob man etwas weiß oder bloß weiß, wo man es schnell findet, scheint auf dasselbe rauszulaufen. Und wessen Handy sich ins Internet einwählen kann, der braucht sich gar nichts mehr zu merken, hat er doch das Wissen der Welt immer verfügbar in der Hosentasche. Längst ist das Internet das ausgelagerte Zweithirn einer ganzen Generation geworden.

Auch Freundschaften pflegen sie online bei studivz, Facebook oder MySpace. Dort hält man Kontakt mit den Leuten aus der Grundschulklasse, den Freunden aus dem Highschool-Jahr in Michigan, mit denen vom Sport, mit Bekanntschaften vom letzten Clubbesuch, mit Nachbarn und den Teilnehmern der Jugendfreizeit 2003. Da ist es nicht ungewöhnlich, dass man in all den Communitys, in denen man angemeldet ist, insgesamt über dreihundert Freunde angesammelt hat. Ein Profil bei studivz oder einem seiner Ableger ist für deutschsprachige Jugendliche beinahe Standard, über 14 Millionen Nutzer sind hier registriert. Die Hälfte davon loggt sich täglich ein. Studivz ist so selbstverständlich, dass sich junge Menschen in einer Bar nicht mehr notwendigerweise nach ihrer Nummer fragen, sondern nach ihrem Profilnamen. Facebook, das internationale Pendant, zählt sogar über 250 Millionen aktive Nutzer. Auch hier haben viele deutsche Jugendliche ein Profil. Wo man sich anmeldet, ist regional verschieden, aber auch andere Online-Gemeinschaften wie Bepo, My-Space, und-du.de, wer-kennt-wen.de oder Lokalisten.de funktionieren nach demselben Prinzip.

Ein Wochenende Urlaub vom Netz ist eine kleine Ewigkeit

Die persönliche Seite im Netzwerk dient der Vorstellung und Inszenierung der eigenen Person. Gefragt sind immer dieselben Angaben: Name, Abschluss, Beziehungsstatus. Und die jungen Kunden geben bereitwillig all ihre persönlichen Daten preis. Laut einer Erhebung der Carnegie Mellon University unter viertausend Studenten enthalten über neunzig Prozent der Profile bei Facebook ein Foto, über achtzig Prozent ein Geburtsdatum, über sechzig Prozent der User geben an, einen Partner zu haben, und nennen dessen Namen, über fünfzig Prozent verraten ihren Wohnort und knapp vierzig geben sogar ihre Telefonnummer preis. Das sind eine Menge Informationen, die der ganzen Welt zur Verfügung gestellt werden. Denn der private Eindruck der Netzwerke täuscht. Jeder kann sich in wenigen Minuten mit falschen Angaben dort anmelden und die Profile fremder Menschen durchsehen.

Aber bei keinem sozialen Netzwerk angemeldet sein, ist auch keine Lösung. Das wäre wie alle Partys der Schulzeit verpassen. Das ist fast so, als hätte man gar keine Freunde. Was früher am Rande des Fußballplatzes stattfand oder hinter der Dorftanke, das spielt sich heute im Internet ab. Treffpunkt ist nicht mehr der Trainerunterstand oder die Laterne, sondern eine Internetplattform. Wer hier nicht dabei ist, der kann nicht mitreden. Der Schultag wird hier bequatscht, hier wird gelästert und gelacht, hier wird gelernt und die Zukunft geplant. Wer nach einem Urlaub oder nur nach einem Wochenende bei den Großeltern das erste Mal wieder online geht, der fühlt sich wie jemand, der fünf Sonntage nicht auf dem Fußballplatz war. Die beste Freundin tuschelt mit einer anderen, der Schwarm schaut überhaupt nicht mehr zu einem rüber und die Spieler haben neue Trikots. Was für eine Horrorvorstellung.

© 2009 by Verlag Kiepenheuer Witsch, Köln

Hier finden Sie ein Interview mit der Autorin...


Lara Fritzsche, geboren 1984, absolvierte nach dem Abitur ein Volontariat beim Kölner Stadt-Anzeiger und arbeitete anschließend dort als Redakteurin im Ressort Bildung. Seither studiert sie Germanistik und Psychologie in Bonn und schreibt als freie Journalistin u.a. für Die Zeit, Neon, Neue Zürcher Zeitung, emotion, GEO, Süddeutsche Zeitung, Spiegel Online, Philadelphia Inquirer, Zeit Campus und Kölner Stadt-Anzeiger. Für ihre Arbeit wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Theodor-Wolff-Preis, dem Axel-Springer-Preis, dem Emma-Journalistinnen-Preis und dem Hanns-Seidel-Preis

Das Buch ist am 24. September 2009 erschienen

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