László F. Földényi, ungarischer Schriftsteller, außerdem Übersetzer und Herausgeber, darunter der gesammelten Werke Heinrich von Kleists in ungarischer Sprache. Sein Text wurde auf der Leipziger Buchmesse am 22. März als Rede gehalten.
Europa. Wer hat es je gesehen? Gab es je einen Menschen, der diesen Kontinent mit seinem Blick erfasst hätte? Von der Erde aus ist das unmöglich. Vom Flugzeug aus fängt der Blick zwar mehr ein, aber der Kontinent als Ganzes ist auch von dort nicht zu sehen. Vielleicht aus dem Weltall, könnte man meinen. Aber auf den Aufnahmen, die uns von dort erreicht haben, ist nicht mehr Europa zu sehen, sondern eine Kugel, die den Namen Erde trägt, und Europa ist nichts als ein wolkenverhangener Fleck darauf. Von der Erde aus betrachtet zu groß, von dort oben hingegen unverhältnismäßig klein. Eine seltsame Bildung; als existierte sie nur in den Gedanken oder in der Phantasie. Und alle deuten sie nach Belieben. Je mehr von ihr die Rede ist, umso weniger lässt sich präzisieren, was sie denn eigentlich bedeutet. Ein geographisch umrissenes Gebiet? Eine vermeintliche Mentalität? Eine geschichtliche Tradition? Oder ein Netz verschiedener Traditionen? Eine Kultur oder Kulturen? Womöglich einen Kreis bestimmter Menschentypen? Einen lockeren Bund von Ländern? Vorteile gegenüber anderen Kontinenten? Oder gerade Nachteile? Bestimmte Landschaften? Bauten? Literarische Kanons? Oder vielleicht die Sicherheitsmaßnahmen, mit denen sich die Europäische Union umgibt, als wäre sie eine Festung? Europa ist wie eine Fiktion: Niemand vermag genau zu sagen, was es ist, und jeder versteht darunter etwas anderes.
Indessen lässt sich in dieser Fiktion sehr gut leben. Man kann sogar ein ganzes Leben darin verbringen. Ich zum Beispiel habe den Kontinent noch nie verlassen. Hingegen habe ich viele seiner Länder bereist und kenne manche seiner Orte genauso gut wie meine engste Heimat. Ich kann mich also zu Recht einen Europäer nennen. Ich kenne aber auch Menschen, die Ungarn noch nie verlassen haben; ja ich bin auch solchen begegnet, die noch nicht einmal von ihrem Geburtsort weggegangen sind. Ob man auch sie als Europäer bezeichnen kann? Und wenn ja - denn wie sollte ich sie sonst nennen? -, gibt es für dieses Attribut eine Steigerung? Bin ich europäischer als sie? Oder ist einer, der noch mehr Länder als ich bereist hat, noch europäischer als ich? Und ist der, der alle europäischen Länder bereist hat, der europäischste von allen? Hat die Steigerung einen Sinn? Lassen Sie mich als Gegenprobe einige andere Steigerungen anführen: Ungarisch, ungarischer, am ungarischsten. Oder deutsch, deutscher, am deutschesten. Das klingt suspekt. Am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts sind solche grammatikalischen Experimente gründlich in Misskredit geraten.
Europa ist in vielerlei Hinsicht ein abstrakter Begriff. Fast so abstrakt wie eine europäische Banknote oder die mit Sternen bekränzte, blaue Fahne. Solche Phantasielosigkeiten gewinnen meist die Oberhand, wenn es "allgemein" um Europa geht. Lassen Sie mich also lieber konkret werden. Europa. Ich habe mir die Frage gestellt: Was fällt mir dazu als erstes ein? Und das erste Wort, das mir dazu eingefallen ist, lautete: Trujillo. Der Name einer Kleinstadt in Südspanien unweit von Merida, in der ich einmal auf dem Weg von Guadalupe nach Cordoba für einen Tag Halt gemacht habe. Ich sehe den kahlen Hang des Hügels, auf dessen Steinen ich gesessen bin und auf die ausgestorbene Stadt hinuntergeschaut habe, ich höre das laute Summen der Fliegen, das die Stille der sonntäglichen Siesta noch eindringender werden ließ, vor mir eine Zigeunerfamilie, stumm auf Stühlen sitzend, die man auf eine Straßenecke herausgestellt hatte, und das Café, aus dem Fetzen arabischer Musik nach außen drangen, ohne dass ich auch nur die Spur eines Gastes oder eines Kellners hätte entdecken können. Und ich sehe den verlassenen, von staubigen Palmen gesäumten Marktplatz, aus dessen verwitterten Palästen fünfhundert Jahre zuvor Cortez und Pizarro zu ihren Eroberungszügen aufgebrochen waren. Trujillo. Als ich einst einer Freundin gegenüber erwähnte, dass ich dort gewesen sei, blitzten ihre Augen auf. Sie war die einzige, die davon gehört hatte. Aber schon nach einigen Minuten stellte sich heraus, dass wir von zwei völlig verschiedenen Dingen sprachen. Sie hatte an Venezuela gedacht, an das dortige Trujillo, wo sie ihre Verwandten besucht hatte. Genauer gesagt an eines der dortigen Trujillos. Denn inmitten des Raubens und Mordens hatten es die Konquistadoren in Südamerika nicht versäumt, gleich mehrere Siedlungen nach ihren eigenen Geburtsstädten zu benennen. Europäische Flecken im südamerikanischen Urwald.
Trujillo. Warum fiel mir zu Europa gerade diese ausgestorbene, jeder Bedeutung beraubte Kleinstadt als erstes ein? Ich finde dafür nur eine Erklärung. Die Entfernung. Es ist der entfernteste Punkt Europas, den ich von Budapest aus je erreicht habe. Vielleicht liegt sogar Schottland näher. Wenn ich es in der Phantasie mit einem Lineal mit meiner Geburtsstadt, in der ich meine Kindheit verbracht habe, mit dem mitten in der ostungarischen Tiefebene liegenden Debrecen verbinde, habe ich das Gefühl, als wäre diese Linie eine Brücke, die den Kontinent überspannt. Eine Brücke, die vieles verbindet. Mittelosteuropa mit Südwesteuropa. Die Puszta, deren Winde direkt aus Sibirien kommen, mit der Provinz Cacares, von wo man zum atlantischen Ozean gelangt und von dort weiter nach Mittel- und Südamerika. Sie verbindet jene den asiatischen Geist noch immer bewahrende ostungarische Landschaft mit der fernen Stadt, zwischen deren Mauern noch heute der uralte Geist Iberiens zu spüren ist, den auch die Römer nicht haben austilgen können. Sie verbindet den ungarischen Typus mit seinen breiten Backenknochen, seiner niedrigen Stirn und seinem kumanischen und petschenegischen Einschlag mit dem andalusischen, für mich Europas schönsten Menschentyp, in dessen Zügen sich spanische, maurische, jüdische und römische Züge sowie jene der Berber und Tuareg miteinander vermischen. Sie verbindet den in Ostungarn auch heute noch vorhandenen Hang zum Übermut, der schon mal in eine tödliche Messerstecherei ausarten kann, mit den dortigen Stierkämpfen, jenen erschütternden Opferzeremonien des Todes. Und sie verbindet natürlich den in Ostungarn auch heute noch maßgebenden Kalvinismus mit der dortigen, überaus komplexen Form des Katholizismus, in der sich Spuren des Islam ebenso finden lassen wie Spuren jüdischer Riten.
Wenn ich also beim Gedanken an Europa Trujillo sage, dann denke ich an diese Brücke. Sie überspannt Tausende Kilometer. Sie verbindet aber auch Religionen, Sitten, Menschentypen. Phänomene, die Jahrtausende brauchen, um sich herauszubilden. Als ich mich Trujillo näherte, entfernte ich mich immer mehr von meiner Heimat. Zugleich stieg ich immer tiefer in die Zeit hinunter. Und seltsamerweise bedeutete die geographische Entfernung eine zeitliche Annäherung. Je tiefer ich in die Vergangenheit eingetaucht bin, umso mehr näherte ich mich einem Etwas - was ich mangels eines besseren Ausdrucks meine eigenen Wurzeln nenne. An diesem entferntesten Zipfel Europas hatte sich der Raum in Zeit verwandelt und mir das Erlebnis der Rückkehr beschert. Nur damit kann ich mir erklären, warum ich im fernen Trujillo das Gefühl hatte, heimgekehrt zu sein.
Europa. Aus dem Gesagten geht vielleicht schon hervor, dass für mich Europa etwas ist, was über Europa auch hinausweist. Als ich von Trujillo nach Cordoba weitergereist bin, fielen mir beim Betreten der dortigen, uralten Synagoge Nietzsches Worte ein: "in den dunkelsten Zeiten des Mittelalters, als sich die asiatische Wolkenschicht schwer über Europa gelagert hatte, waren es jüdische Freidenker, Gelehrte und Ärzte, welche das Banner der Aufklärung und der geistigen Unabhängigkeit unter dem härtesten persönlichen Zwang festhielten und Europa gegen Asien verteidigten ... Wenn das Christentum alles getan hat, um den Okzident zu orientalisieren, so hat das Judentum wesentlich mit dabei geholfen, ihn immer wieder zu okzidentalisieren". Die Juden wiederum erinnern mich an die Ungarn, die im 16. und 17. Jahrhundert Europa ebenfalls verteidigt, die Türken "unter dem härtesten persönlichen Zwang" aufgehalten und damit die ruhmreiche, wenn auch keineswegs dankbare Rolle eines Bollwerks des Christentums auf sich genommen haben. In der Osthälfte Europas waren es die im Lauf der Völkerwanderungen im Karpatenbecken hängengebliebenen Ungarn, die Europa gegen die asiatische Übermacht verteidigten; und an seinem westlichen Ende waren es die Ankömmlinge aus dem Nahen Osten, die den Geist des Griechentums aufrechterhielten und tradierten.
Und damit habe ich neben den Juden und der Völkerwanderung auch das dritte Zauberwort ausgesprochen, ohne dessen Erwähnung man über Europa nicht angemessen sprechen kann: Das Griechentum. Um einen Gedanken des ungarischen Historikers István Bibó zu zitieren: Die Griechen haben die Idee des Maßes begründet und ihr eine bis heute für ganz Europa gültige Verbindlichkeit verliehen. Die zweite große Tradition ist natürlich die der Juden, die den Begriff und die Praxis der universellen Moral eingebürgert haben. Die jüdisch-christliche Moral und das griechische Maß hätten für sich allein jedoch eine dürre und starre Welt zur Folge gehabt, wäre nicht als drittes Element der Dynamismus hinzugekommen, der im Lauf der viele Jahrhunderte währenden Geschichte der Völkerwanderungen zum nachhaltig bestimmenden Charakteristikum des Kontinents geworden ist und Europa stark von den anderen Kontinenten unterscheidet. Seither ist Europas Hauptcharakterzug seine unendliche Vielschichtigkeit.
Das, was wir heute als europäische Kultur bezeichnen, ist aus dem Konglomerat dieser Dreiheit entstanden. Wohin wir auch gehen, welche Himmelsrichtung wir auch einschlagen, überall stoßen wir auf diese Mischung. Unterschiede zeigen sich höchstens im Maß der Vermischung, im Verhältnis der Zusammensetzung. Ich selbst habe den Bogen zwischen Budapest und Trujillo erwähnt, der diese Zusammensetzung für mich zu einem persönlichen Erlebnis gemacht hat. Aber ein ähnliches Erlebnis wird gewiß auch jenem zuteil, der von Korsika, vom Turm Senecas, aufbricht und nach Norden, in das norwegische Bergen reist. Und eine ähnliche Erfahrung erwartet auch den, der mit dem Vermächtnis des Heiligen Patrick im Ranzen von Irland nach Bulgarien reist, in das Rodope Gebirge, auf den Spuren von Kyrillos und Methodios. Wie ich werden auch sie sich im Bann des Andersseins immer weiter von ihrer Heimat entfernen, bevor sich die geographische Ferne dann unvermittelt in spirituelle Nähe verwandeln wird. Ich muß an den holländischen Schriftsteller Cees Nooteboom denken, diesen, wenn ich so sagen darf, "europäischsten" Schriftsteller unserer Zeit, der diese sich entfernende Annäherung schon in mehreren Romanen als die typischste Eigenart Europas hervorgehoben hat. In den niederländischen Bergen schafft zwischen Holland und Spanien, Ein Lied von Schein und Sein zwischen dem Balkan und Westeuropa eine virtuelle Nachbarschaft.
Hunderte und Tausende solcher und ähnlicher Brücken spannen sich kreuz und quer über Europa. Aber während sie den Kontinent zerstückeln, sorgen sie auch für seine Einheit. Das ist so selbstverständlich, dass jedes Wort darüber überflüssig ist. Und dennoch ist noch nie soviel über die Einheit Europas geredet worden wie gerade jetzt. Und das ist ein Hinweis auf die außerordentliche Zerbrechlichkeit dieser Einheit. Die sich abzeichnende Einheit Europas, die schon seit geraumer Zeit auf der Tagesordnung steht und im Mai 2004 noch klarere Umrisse bekommt, wird das Ergebnis eines von Hunderten von Fachleuten erarbeiteten politischen, administrativen und wirtschaftlichen Programms sein. Aber ich habe keine Ahnung, ob dieses Programm die erwähnten inneren, subjektiven Brücken vermehren oder sie im Gegenteil niederreißen wird. Die zweieinhalbtausendjährige Geschichte des Kontinents zeigt, dass gleich welche politische oder wirtschaftliche Einheit in Europa früher auch entstanden ist, diese stets geistige Wurzeln hatte. Die auf politischer oder wirtschaftlicher Grundlage vollzogenen regionalen Zusammenschlüsse, aber auch Konflikte, standen stets in irgendeinem Zusammenhang mit diesem stets unterschiedlich auftretenden, im Grunde jedoch überall ähnlichen, europäischen Geist, dessen schon erwähnte Bestandteile das Maß, die Moral und der Dynamismus sind. Und jedesmal, wenn eines dieser drei die Überhand gewann (und dafür gab es immer wieder Beispiele), bestand die Möglichkeit, die beiden anderen Elemente zu mobilisieren, um die Dominanz des dritten zu bremsen. Meiner Meinung nach war das 20. Jahrhundert durch die verhängnisvolle Auflösung dieses Gleichgewichts gekennzeichnet, wird die europäische Kultur seit Jahrzehnten am meisten durch eine, der zunehmenden Vernachlässigung des Geistes entspringende Krise bedroht. Seit dem Zweiten Weltkrieg scheint in Europa eine gesunde und nachhaltige Pflege der Verbindung zu den eigenen geistigen Wurzeln für immer unmöglich geworden zu sein. Wir können uns alle nur noch auf unsere eigenen inneren Brücken berufen, und es scheint, als bestünde immer weniger die Möglichkeit, unsere Erfahrungen miteinander zu teilen.
Die bevorstehende Einigung Europas, das heißt die Erweiterung der Europäischen Union, will der seit Jahrzehnten bestehenden Zerrissenheit Europas ein Ende setzen. Manche sind der Meinung, dass sich der Kontinent nun mit seiner eigenen Geographie versöhnen wird: Europa als Idee wird eins mit Europa als klar umrissenem Kontinent auf der Landkarte. Dieser Gedanke entbehrt nicht der Grundlage. Aber es muß hinzugefügt werden, dass die geographische, wirtschaftliche und politische Einigung nur dann zu einer Einheit führen wird, die wirklich eine europäische genannt werden kann, wenn sie mit den spezifischen geistigen Wurzeln des Kontinents, die sich so auffallend von den diversen anderen geistigen Bestandteilen anderer Kontinente unterscheiden, in Einklang gebracht wird. Genauer gesagt: Wenn die bevorstehende Einigung diese halbverdorrten Wurzeln wieder zum Leben erwecken kann und sie nicht dem für sich allein verödenden Einfluss von Wirtschaft und Politik ausliefert. Mit anderen Worten: Wenn der Geist Europas ausgeprägt europäisch bleibt und sein eigenes Antlitz auch angesichts der unaufhaltsamen Expansion der Globalisierung beibehält.
Ich vermag nicht zu entscheiden, ob Europas verhängnisvolle Spaltung infolge des Zweiten Weltkriegs ein Ergebnis der Vernachlässigung des Geistes war oder ob umgekehrt der Krieg die Möglichkeit einer normalen Beziehung zum Geist für immer beendet hat. Jedenfalls lässt sich die seit langem bestehende Spaltung Europas in meinen Augen nicht nur auf politische oder wirtschaftliche Gründe zurückführen, sondern auch auf das schlechte Wirtschaften mit dem europäischen Geist. Auf unterschiedliche Weise, aber doch mit vergleichbarer Folgerichtigkeit haben sich Ost- und Westeuropa von den eigenen Wurzeln abgekehrt, und auf je eigene Weise haben beide Teile des Kontinents das Gleichgewicht von Maß, Moral und Dynamismus gestört, wenn nicht sogar vernichtet. Lassen Sie mich ein einziges Beispiel anführen. In den vergangenen Jahrzehnten haben unabhängig voneinander zahlreiche Schriftsteller Mitteleuropas den Gedanken geäußert, dass eines der Hauptmerkmale der westlichen Zivilisation von heute darin liege, dass der wirtschaftliche Dynamismus uferlos, das heißt maßlos geworden ist. Und was war die Folge davon? Der Bruch mit der Tradition der europäischen Kultur, die Verdrängung des Maßes und der Moral, das Streben nach Ausblendung des Leidens, selbst zu dem Preis, dass damit grundlegende menschliche Bedürfnisse ausgeklammert und als überholte, "irrationale", "metaphysische" Phänomene abgestempelt werden.
Diesen Standpunkt vertreten die Polen Czeslaw Milosz und Gombrowicz, die Ungarn János Pilinszky und Miklós Mészöly, der Tscheche Hrabal, aber auch Kundera bekannte sich dazu, solange er in Tschechien gelebt hat. Sie alle sind der Meinung, dass der Westen, auf den Ost- und Mitteleuropa die Augen seit langem wie auf eine Ikone heftet, unter Missachtung der tausendjährigen Tradition des europäischen Geistes, nichts mehr von jenem spezifischen, im Leid sich entfaltenden Wissen und Erlebnis hören will und damit die Idee des griechischen Maßes und der jüdisch-christlichen Moral in ihren Grundfesten erschüttert. Andererseits werfen die Westeuropäer den Ost- und Mitteleuropäern zu Recht ihre wohl romantisch zu nennenden Spekulationen, ihren Mangel an politischer Klarsicht, ihre fehlende Sensibilität für den demokratischen Konsens und ihre Hingabe an das Selbstmitleid vor - von ihrer der europäischen Geistestradition vollends zuwiderlaufenden Anfälligkeit für das fundamentale Denken gar nicht zu reden. Infolge ihrer sackgassenartigen geschichtlichen Entwicklung haben Ost- und Mitteleuropa den Dynamismus verloren, was unter anderem dazu geführt hat, dass das Maß der byzantinischen Strenge und die Moral der hierarchischen Sklavenmoral gewichen ist.
Das Nichtverstehen zwischen beiden Seiten des Kontinents ist gegenseitig. Für den Durchschnittswesteuropäer stellt Osteuropa noch immer eine Art Terra incognita dar; der Mitteleuropäer hingegen sehnt sich nach Westeuropa als wäre es ein anderer Kontinent. Beide möchten sich von ihrer eigenen Spaltung und ihren eigenen Schranken befreien, glauben jedoch, dies nur auf Kosten einer anderen Art Spaltung erreichen zu können. Und bisher hat es den Anschein, als könnte auch die bevorstehende Einigung Europas nicht verhindern, dass beide Seiten des Kontinents auch weiterhin im Wettlauf miteinander stehen. Und dessen Einsatz scheint darin zu bestehen, sich am weitesten vom Geist des Kontinents zu entfernen.
Zweifellos ist das schlechte Wirtschaften mit den geistigen Traditionen zum Teil auf äußere, nicht-europäische Gründe zurückzuführen. Seit dem Zweiten Weltkrieg sieht sich Europa vor außereuropäische Herausforderungen gestellt, die der Geistestradition des Kontinents ausgesprochen zuwiderlaufen. Denn infolge des Krieges war der Kontinent gezwungen, sich einem weltpolitischen Gleichgewicht anzupassen, in dem die Rolle Europas immer mehr dahinschwand. Schon seit der zweiten Hälfte der vierziger Jahre sah sich Europa mit dem Versuch konfrontiert, in der einen Hälfte nicht nur Deutschlands, sondern des ganzen Kontinents den amerikanischen Geist und die amerikanische Mentalität zu verwurzeln und in der anderen die asiatisch-byzantinische. Im November 1947 dachte der englische Historiker Arnold Toynbee in einer Studie über die Möglichkeit eines dritten Weges zwischen Kapitalismus und Kommunismus nach, in der Annahme, dass Europa nur so seinen spezifisch europäischen Charakter würde bewahren können. Sein Gedanke reimt sich gleichsam auf einen im Jahr zuvor formulierten Standpunkt Churchills, der am 19. September 1946 an der Universität Zürich eine Rede über die europäische Versöhnung gehalten und als deren Voraussetzungen den Ausgleich und das Gleichgewicht genannt hat. Die Tragödie Europas, so Churchill, sei nur dadurch zu überwinden, dass eine "Familie europäischer Staaten" geschaffen werde, für die er auch schon einen neuen Namen vorschlug: "United States of Europe". Wie Toynbee wollte auch Churchill Europa vor der amerikanischen und sowjetischen Hegemonie bewahren: Ihrer Meinung nach sollte sich Europa gleichermaßen gegen den amerikanischen wie gegen den sowjetischen Einfluss schützen. Der sowjetische Einfluss endete 1989; der Einfluss der Vereinigten Staaten hingegen bekam in einer Welt, die immer einpoliger wurde, logischerweise immer mehr Übergewicht.
Vor diesem Übergewicht des amerikanischen Einflusses auf die für die Einheit des Kontinents verantwortliche Europäische Union warnen viele. Nach Ansicht maßgebender Denker werden immer mehr die Vereinigten Staaten zum wirklichen Gegner Europas. Was mich betrifft, ich halte diese Annahme eher für eine, die in einen Science-Fiction-Film gehört. Mich als einen an der Schwelle zur europäischen Einheit wartenden Mitteleuropäer regt weniger der Einfluss der Vereinigten Staaten als der unaufhaltsame Prozess der Globalisierung zum Nachdenken an; dabei spielen die Vereinigten Staaten eine enorme Rolle, dennoch würde ich mich davor hüten, die Globalisierung mit dem Amerikanismus gleichzusetzen und Europa gerade vor den Vereinigten Staaten schützen zu wollen. Im Zusammenhang mit dem in manchen europäischen Ländern wie etwa in Frankreich mächtigen Antiamerikanismus kann man zu Recht die Frage stellen: Sollte wirklich Amerika die Quelle allen Übels sein? Geht es nicht vielmehr darum, dass viele in Europa mit ihrer Amerikafeindlichkeit davon ablenken wollen, dass Europa auch selbst dafür verantwortlich ist, dass es sein Ansehen verloren hat und seine Rolle in der Weltpolitik zum Ende des zweiten Jahrtausends immer geringer geworden ist? Aktueller als die Frage nach Amerika erscheint mir die nach der Globalisierung, zumal in Ost- und Mitteleuropa, wo die Länder ihrem Einfluss fast so wehrlos ausgeliefert sind wie die Länder Afrikas und Asiens. Lassen Sie mich einen Exkurs machen, um zu veranschaulichen, in welch eigenartiger Lage wir Ungarn - und die Mitteleuropäer im Allgemeinen - sind. 1989, beim Zusammenbruch des kommunistischen Systems, ergab sich eine eigenartige Situation. Vier Jahrzehnte hatten westliche Demokratie und westlicher Liberalismus für Ungarn die Hoffnung bedeutet; als Gegenpol zur verworfenen kommunistischen Utopie war sie jene andere Utopie, die das Land am Leben erhielt. Aber der Eiserne Vorhang fiel, wenn man das so sagen darf, nicht zum besten Zeitpunkt. Denn als Ungarn in die freie Welt der Demokratie und des Liberalismus eintreten durfte, wehten dort bereits radikal neue Winde: Die Ideologie des Neoliberalismus, die das Kapital freisetzte, aus den Fesseln jedes Maßes befreite und auch der Aufsicht der demokratischen Institutionen der Politik zu entziehen trachtete, war immer bestimmender geworden. Die über Ungarn eingebrochene Freiheit war in gewisser Hinsicht nicht mehr die eines von der Demokratie und vom Liberalismus beaufsichtigten freien Marktes, sondern die Freiheit eines von allen Schranken befreiten Kapitals. Nach Sozialdemokratie hatten wir uns gesehnt und fanden uns statt dessen im Wilden Westen wieder. Und das hat viele von uns dazu verleitet, mit der neoliberalen Ideologie auch die Idee des Liberalismus selbst abzulehnen, mit anderen Worten: Das Kind mit dem Bade auszuschütten. Nach 1989 entstand eine paradoxe Situation: Die den Fesseln des Marxismus entkommenen Osteuropäer fanden sich plötzlich in einer Welt wieder, die gerade nach den von Marx beschriebenen Gesetzen funktionierte. In seinem neusten Buch Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch? schreibt Rüdiger Safranski treffend: der Neoliberalismus "ist Legitimationsideologie für die ungehemmte Bewegung des Kapitals auf der Suche nach günstigen Verwertungsbedingungen ... Staat und Kultur haben der Ökonomie zu dienen. Der Neoliberalismus ist ebenso ökonomistisch wie es der Vulgärmarxismus einst war, er ist deshalb im gewissen Sinne die Wiederauferstehung des Marxismus als Management-Ideologie." Deswegen fühlten sich viele in Ost- und Mitteleuropa vom Westen enttäuscht; sie hatten das Gefühl, vom Regen in die Traufe gekommen zu sein. Was natürlich überhaupt nicht wahr ist, im Gegenteil. Und doch entbehrt die Enttäuschung nicht jeder Grundlage. Denn nach 1989 geriet Mitteleuropa in eine anachronistische Situation: Die Intellektuellen und alle jene, die 1989 eine führende Rolle spielten, vertraten das 68er Ethos der westlichen Linken zu einem Zeitpunkt, als dieses Ethos im Westen endgültig überholt war.
Maßlosigkeit gebiert weitere Maßlosigkeiten. Das scheint sich auch jetzt abzuzeichnen. Wenn den östlichen Ländern 2004 die Aufnahme in die Europäische Union gewährt wird, werden sie in ein Europa eintreten, das in einem noch nie dagewesenen Ausmaß von der Globalisierung bedroht wird, die gerade die europäische Tradition des Maßes, der Moral und des Dynamismus unterminiert. Und ich habe die Sorge, dass wir beim Eintritt in die Europäische Union vielleicht gar nicht mehr in Europa eintreten, sondern zu einem weiteren Knotenpunkt jenes Globalisierungsnetzes werden, dem auch Europa in vielerlei Hinsicht ausgeliefert ist. In Mitteleuropa schürt die politische Rechte die Angst der Bevölkerung vor den Gefahren der Globalisierung und lehnt, sich darauf berufend, auch Europa selbst ab. Wir wissen, welche Gefahren ein Rückzug in den Nationalismus in sich birgt. Es ist aber auch klar, dass die Angst vor einem sich globalisierenden Europa nicht unbegründet ist. Deshalb glaube ich, dass die einzige Möglichkeit, die wahren Absichten der Rechten nicht zur Geltung kommen zu lassen, darin besteht, die Gefahren der Globalisierung ernst zu nehmen und zugleich zu erkennen: Es gibt keinen anderen Weg als den der Globalisierung. Wir müssen uns bewusst werden, dass die Globalisierung kein Verhängnis und kein Schicksal ist, sondern ein vielschichtiger Prozess mit unterschiedlichen, guten und schlechten, schädlichen und nützlichen, anregenden und lebensfeindlichen Aspekten. Der Eintritt in die Europäische Union wird den neuen Mitgliedern dann keine Enttäuschung bereiten, wenn gerade über diese Vielgesichtigkeit der Globalisierung ein effektiver Dialog zwischen den Intellektuellen Mittel- und Westeuropas entsteht.
Das könnte nicht nur dazu beitragen, dass die Bürger der neuen Mitgliedsländer keine unnötigen Enttäuschungen erleben, sondern auch dazu, dass der schon erwähnte Geist Europas, die Dreiheit von Maß, Moral und Dynamismus wieder zu Kräften kommt. Das allein würde die Autonomie sichern, die durch die globale Bewegung des Kapitals immer illusorischer wird, das wäre aber auch die Garantie für gegenseitige Solidarität, für die es in der Welt immer weniger Anzeichen gibt. Vor der Globalisierung gibt es keinen Rückzug, keine Umkehr; eine Flucht ist nur nach vorn möglich. Europas Geistestradition, Geschichte und zweieinhalb Jahrtausende alte Kultur - sie sind alle nicht zugrunde gegangen. Sie wirken vielmehr so, als wären sie seit längerem tiefgekühlt. Aus dieser Hibernation müssen sie befreit werden, damit die Europäische Union nicht nur zu einer wirtschaftlichen, juristischen und politischen Einheit werde, sondern auch die Selbstfindung Europas ermögliche. Und dazu bedarf es beider Seiten Europas. Schließlich ist der Westen eine Himmelsrichtung, von der nur dann sinnvoll gesprochen werden kann, wenn wir uns auch das Vorhandensein des Ostens vergegenwärtigen, und umgekehrt. Die Einigung hängt nicht nur von einer Seite ab. So wie auch eine Brücke nur dann eine Brücke genannt werden kann, wenn sie in beide Richtungen befahrbar ist. So wie ich bei meiner Reise nach Trujillo nicht dort geblieben bin, so reizvoll ich es auch fand. Ich bin nach Budapest zurückgekehrt, erfüllt von etwas, worin ich auch in dreitausend Kilometern Entfernung mein eigenes Erbe wiedererkannt habe.
Aus dem Ungarischen von Akos Doma
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