Mit den Regeln des Staatsapparats kennen sich am besten diejenigen Beamten aus, die den Wechsel der politischen Kräfte überleben. Je weiter sie vom repräsentativen Bereich des Staates entfernt arbeiten, desto genauer garantieren sie ein reines Funktionswissen. Sie sind auch für solche politischen Parteien unverzichtbar, die alles anders und neu machen wollen. Weil sie kein Anliegen haben, das sich den wechselnden Themen des kleinen Mannes auf der Straße stellen muss, können sie allein in den Kategorien des Apparats denken, auf den Politiker immer erst dann aufmerksam werden, wenn sie feststellen müssen, wie klein ihr Entscheidungsspielraum ist. Die darauf folgende Rede vom Sachzwang meint nicht nur die Rücksicht auf andere Interessengruppen, sondern das Gedächtnis des staatlichen Apparats, das sich von einem Volksvotum nicht so leicht beeindrucken lässt. Verändern sich die Stile und die Akteure der repräsentativen Politik auch noch so sehr, so sorgt dieses Gedächtnis doch für eine Funktionskontinuität, die selten öffentlich anschaulich wird.
Diesen Beamten steht auf gleicher Höhe der Saboteur gegenüber. Auch er kümmert sich nicht so sehr um die Botschaft, die einen Absender und ein Anliegen in die Öffentlichkeit trägt. Ähnlich wie dem Beamten geht es ihm um die Seite des Funktionierens, von dem er ein möglichst genaues Wissen haben muss, um es zu stören. Nicht selten ist das Wissen dieser beiden um die Regeln und die Schwachstellen des Apparats gleichrangig: Ein Saboteur kann zum Sicherheitschef werden und umgekehrt. Politiker werden sie eher selten. Und wenn doch, dann lernen sie es meistens nicht, von der apparativen Seite auf die repräsentative zu wechseln, sondern wirken als Politiker immer noch wie verkleidete Militärs, Geheimdienstler, Guerillaführer oder einfach Banditen. Aber viel eher kommt es vor, dass Teile des Apparats schlichtweg nicht mehr gebraucht werden. Nicht aus politischen Gründen, sondern einfach, weil sie ihre Funktionen verloren haben. Mit den Beamten dieses Apparats gehen auch die Saboteure unter, deren Störungswissen nun obsolet geworden ist. Der Apparat ist nach seinem Funktionsverlust kein Arkanum mehr.
Franz-Maria Sonners Roman Die Bibliothek des Attentäters erzählt vier Biographien der Bundesrepublik Deutschland, die durch eine solche Zäsur bestimmt sind. Zwei dieser Biographien gehören dem "Damals" an, als die Bundesrepublik ihre erste innere Auseinandersetzung erlebte, weil auch bei ihrer Gründung ein apparatives Gedächtnis für die Kontinuierung von faschistischem Personal sorgte. Die eine Biographie zeichnet die Motive eines Attentäters nach, der einen ehemaligen Faschisten bei einem Anschlag mehr oder weniger aus Versehen tötet. Die andere Biographie zeichnet die Motive eines Terroristenfahnders nach, der nach Karriere und Ausscheiden aus dem Amt trotzdem nicht fähig ist, die Struktur, die er einmal für den Apparat aufgebaut hat, zu verlassen. Beide sind durch ihre Taten im "Damals" bis in die Gegenwart hinein gebannt, obwohl die Koordinaten ihres Denkens verlorengegangen sind. Die beiden anderen Biographien gehören dem "Heute" an, das nach der Wiedervereinigung, nach der öffentlichen Auflösung der RAF, nach dem Ende der Ideologien spielt. Diese Biographien stellen die nächste Generation dar: die politischen Erben und die ehemaligen Assistenten, die ihren Vorbildern und Helden nacheifern wollen, denen sich dazu aber keine rechte Gelegenheit mehr bietet. Im Grunde ist im "Heute" die Normalität wieder hergestellt, wären da nicht die Verhaltensweisen der alten Kämpfer, die in ihren Nachfolgern weiterleben und sie zu grotesken Erfüllungsgehilfen machen.
Sonner hat seinen Roman um diese vier Biographien wie einen Krimi angelegt. Der Fall ist das Attentat. Die Auflösung des Falles besteht aber nicht in der Frage nach dem Täter. Denn der steht von Anfang an fest. Jakob Amon, der auch einmal von der RAF vergeblich angeworben werden soll, ist ein Einzeltäter. Er kämpft nicht wie die revolutionäre Volksarmeefraktion im Bereich des Repräsentativen. Sein Attentat ist nicht von Erklärungen und rechtfertigenden Analysen begleitet, die das terroristische Ansinnen vermitteln sollen. Er zieht einsam und ohne Absender eine Konsequenz aus der nicht erfolgten Strafverfolgung eines ehemaligen Faschisten. Sein Handeln hat nicht den Sinn, andere zu politisieren oder gar politische Mehrheiten zu organisieren. Er versteht sich nicht als Stellvertreter der politisch Stimmlosen und agiert nicht in deren imaginärem Auftrag. Sein Ziel ist es, dem Apparat, dem Funktionieren eine Wunde zuzufügen, die Indifferenz, in deren Schutz der ehemalige Faschist unbehelligt leben kann, zu stören. Aus dieser intendierten Strafaktion aber wird ein Mord. Das Opfer stirbt an der beigebrachten Schussverletzung, die ihn eigentlich nur daran erinnern sollte, dass er nicht unbeobachtet ist.
Amons Gegenspieler, Konrad Bärloch, ist zu dieser Zeit schon politisch kaltgestellt. Seine Behörde zur Terroristenbekämpfung ist gerade aufgelöst worden, er selbst frühpensioniert. Aus Angst aber vor Anschlägen seitens derer, die er bekämpft hat, lebt der, erkennbar der Figur des ehemaligen BKA-Chefs Horst Herold Nachempfundene, auf einem Kasernengelände, befindet sich letztlich genauso interniert wie die verurteilten Terroristen. Dank seines computerisierten Informationssystems kann er das Muster des Attentats relativ schnell rastern und auch aufklären. Während die Polizei im terroristischen Umfeld nach dem Täter fahndet, weiß Bärloch, dass es sich um einen Einzeltäter handelt. Sein Wissen um die Struktur des Attentats gibt er jedoch nicht weiter, denn auf eine merkwürdige Weise fühlt er sich diesem Einzelgänger nahe. Amon und Bärloch, die sich nie kennen gelernt haben, verbindet ein Wissen um das Arkanum des Apparats. Für die Öffentlichkeit bleibt der Fall unaufgeklärt. Soviel zum "Damals".
Die Kriminalhandlung der Bibliothek des Attentäters symbolisiert die Frage, was mit diesem Wissen geschieht, das Bärloch widerrechtlich in seinem Informationssystem hütet und Amon in einem geheimen Manuskript aufgeschrieben hat, wenn es der Generation der Erben in die Hände fällt. Während sich der Attentäter und der Terroristenfahnder indirekt signalisiert haben, das "Damals" sein zu lassen, beginnt der eigentliche Fall mit der Suche nach diesem Wissen im "Heute". Als Horst Brill, der ehemalige Assistent von Bärloch in der Wiederaufnahme des Falls seine große Chance wittert, zeichnet sich ein Kriminalstück ab, in dessen Zentrum ein sinnloser Mord stehen wird, der noch einmal die alten Strukturen des Apparats bis zur Groteske verzerrt wiederholt. Der Ich-Erzähler, der Amon das Geheimnis seines Attentats entlocken will, findet sich unversehens als Detektiv wieder. Ihm fällt das geheime Manuskript und damit ein Wissen zu, das ihn zum Gegenspieler des ehrgeizigen Beamten werden lässt. Natürlich haben diese Figuren ihre historischen Vorbilder, aber auf deren Nachzeichnung kommt es in diesem Roman nicht an. Es geht um den Verlauf von Biographien, die aufgrund ihrer Positionierung im politischen System eine Nähe aufweisen, die nicht öffentlich werden darf. Sonner gelingt es, seine Figuren zu einer Sprache zu bringen, die nicht die Sprache des nachträglichen Moralisten ist, sondern die des technischen Akteurs.
Franz Maria Sonner: Die Bibliothek des Attentäters. Roman, Kunstmann-Verlag, München 2001, 240 S., 37,- DM
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