Wäre es möglich, dass ich in Eurem Garten 'mal Jürgen Trittin beim Grillen fotografieren kann?" - Das war wahrscheinlich meine letzte nachbarschaftliche Begegnung mit einem Bundespolitiker. Als ich Ende der Achtziger nach Bonn gezogen bin, um an der Rheinischen Friedrich Wilhelms-Universität Philosophie zu studieren, wohnte ich zunächst - und das war eher eine schlechte Wohngegend - im Regierungsviertel südlich der Südstadt. Niemand wollte dort leben, weil es mit Sicherheit der aufgeräumteste und langweiligste Stadtteil von Bonn war. Aber, wenn man das Glück hatte, eine bundeseigene Wohnung beziehen zu können, dann konnte man dort zu geringen Mieten sehr komfortabel wohnen. Man war so etwas wie ein subventionierter Normalbürger, der in
innerhalb eines kleinen beamtenbürgerlichen Staates das Volk repräsentierte. Heute sind die Wohnungen alle privatisiert, das Regierungsviertel in die städtische Gesamtplanung eingegliedert, und bald wird es dort so sein wie in einem mischgewerblichen Randbezirk, wo mehr leerstehende Büros sind, als Menschen leben. An den Deutschen Supermarkt im Bonner Regierungsviertel, den DeSuma, kann ich mich noch gut erinnern. Was Gewürze und italienische Spezialitäten anging, war er der bestsortierteste Supermarkt, den ich je gesehen habe. Zur späteren Einkaufszeit konnte man dort in der Warteschlange hinter Volker Rühe oder Norbert Blüm stehen, die beim hektischen Auflesen der gekauften Waren vom Kassenfließband natürlich allen televisionären Charme oder Anti-Charme verloren. Merkwürdiger Weise waren es immer nur CDU-Politiker, die man dort treffen konnte. Und merkwürdiger Weise hatte man nie wirklich Lust, sie anzusprechen, obwohl man doch vielen von ihnen immer schon einmal die Meinung sagen wollte. Merkwürdig auch, dass sie nie Personenschutz hatten. Wahrscheinlich aber war das der Grund, warum man sie nicht ansprach: sie wirkten einfach nicht mächtig genug, um den Sprechaufwand zu rechtfertigen. Man nahm sie hin. Die Esso-Tankstelle gleich nebenan, die wahrscheinlich mehr an Lebensmitteln, alkoholhaltigen Getränken und Zigaretten als an Treibstoff verdiente, bot neben dem DeSuma die zweite Anlaufstelle zu einem Politikergespräch. Denn im ganzen Regierungsviertel gab es keinen nächtlich geöffneten Kiosk. Aber auch hier wunderte man sich eher über das Auftauchen von prominenten Gesichtern als dass man die Gelegenheit ergriff. Am ehesten noch hätte ich manchmal die Frage stellen können, ob ich bei einer Reifenpanne helfen könne. Denn dass die angetroffenen Bundespolitiker ebenfalls hier lebten und nicht im Fernsehen oder an einem anderen prominenten Ort waren, hätte ich nur mit Desinteresse hinnehmen können, was die meisten Mitbürger schließlich auch taten.Später bin ich dann vom Regierungsviertel in die Altstadt umgezogen, was ein echter Aufstieg war, zumal ein paar Häuser weiter Guido Westerwelle mit seinen zwei Doggen wohnte. Da erwartete einen natürlich eine ganze Reihe von sexistischen Witzen über den Mittelklasse-Yuppie. Auch Jürgen Trittin wohnte in Bonn. Aber in der Südstadt, deshalb hatte er keinen Garten. So kam es, dass das alljährliche Politikergrillen in unserem Garten stattfand. Jürgen Trittin kam mit einem Fahrer und einer Presserefentin. Ein Freund hatte den Grill schon angefeuert, damit die Fotos mit ein bisschen Grilltext für das SZ-Magazin schnell gemacht werden konnten. Als ich von der Arbeit nach Hause kam, war der nördlich-karge Minister schon ein wenig angetrunken, und wir unterhielten uns entspannt über neue Grillplätze in Berlin. Nicht über Politik. Kein Wort. Aber dennoch, wenn ich scheltende Nachrichten über seine Umweltpolitik höre, tut mir der Minister seitdem Leid. Aber vielleicht war diese latente Ignoranz genau das Produktive. Politiker hatten in Bonn nichts Nationales, Führendes, Großartiges oder Visionäres, sie waren im besten Sinne Technokraten, die eine selbstverständliche Arbeit zu leisten hatten.Man hat Bonn vorgeworfen, so etwas wie eine Heile-Welt-Stadt zu sein: mit seiner Hofgarten-Romantik, seinen großzügigen Museen, dem beschaulichen Literaturhaus, der teuren Oper, der gepflegten U-Bahn - tatsächlich ist es die modernste Stadt, alles simuliert das perfekte Leben. Selbst mit den Pennern und Junkies geht man hier anders um als an sogenannten Großstadtbahnhöfen, die inzwischen alle von Kaufhausinnenausstattern verniedlicht worden sind. In Bonn drängt man die Ausgegrenzten nicht aus der Fußgängerzone. Im Gegenteil, man leistet es sich, ihnen einen Ort direkt in der Innenstadt zu geben. Bei allen politischen Demonstrationen, die ich in Bonn miterlebt habe, ist die Polizeistrategie der Deeskalation immer intelligent und pragmatisch angewandt worden. Bonn ist kein Schauplatz für Ideologien. Vielleicht liegt das daran, dass die Stadt nicht zerbombt worden ist, dass sie sich nicht wie andere Städte aus dem Bild des kaputten oder betonverwüsteten Daseins herausarbeiten musste. Dass die Stadt Zeit hatte, über die Zukunft der kommunalen Gemeinschaft nachzudenken, während andere Städte verzweifelt versuchen, an die Metropolenentwürfe aus den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Anschluss zu finden.Hinter dem langen Eugen, dem bisherigen Wahrzeichen von Bonn, wird bald ein noch höherer Turm, das Telekom-Haus, entstehen. Das hat natürlich zunächst für Gelächter gesorgt. Dass Bonn jetzt eine Technologie-, Wissenschafts- und Kulturstadt werden soll, kann keiner so recht glauben. Aber die antiindustriellen und dienstleistungsorientierten Strukturen - das Organisationsgedächtnis der Stadt - lassen gar nichts anderes zu, als die bundesbehördlichen Ruinen jetzt von Informatikern, Kommunikationsmanagern, Technologen, Künstlern, Autoren, Tagungs- und Ausstellungsmachern besetzen zu lassen. Bonn wird eine Wissensstadt - was immer das auch heißt. Ich stelle mir vor, alles, was mit Geist und Geistern zu tun hat, findet sich in einer neuen Gelehrtenrepublik des Informationszeitalters hier zusammen. Ein großes Experiment, ein think tank der Zukunftsgestaltung, das gerade aufgrund seiner Abgeschiedenheit und Beschaulichkeit funktionieren kann. Denn was in Bonn möglich war und bei den verkrampften Rückgewinnungsversuchen einer deutschen Metropole zuweilen verlorengeht, ist so etwas wie Phantasie. Man hat gegen Bonn als Regierungsstandort argumentiert, Politiker müssten die rauhe Wirklichkeit einer zerrissenen Großstadt vor Augen haben. Merkwürdiger Weise hat das nur dazu geführt, dass das Berliner Regierungsviertel einem Hochsicherheitstrakt gleicht. Die Idee, Kreativität und Handlungsenergie entstehe durch eine Teilhabe am vitalen, Druck ausübenden, mitunter schmutzigen Leben ist noch einer expressionistischen Stadtidee geschuldet. Vielleicht kann man dagegen an Bonn loben, was der konservative Goethe an Weimar als Kleinfürstentum hervorgehoben hat: seine überschaubare Naivität.Einmal bin ich mit einem Freund am Rhein entlanggegangen, vorbei an dem europaweit demokratischsten Parlamentsgebäude von Günter Behnisch. Der Freund deutete auf den mit Maschinengewehren patrouillierenden Bundesgrenzschutz: "So etwas ist doch lächerlich im 20. Jahrhundert." Erst viel später ist mir aufgefallen, daß ein solcher Satz wahrscheinlich nur in Bonn fallen konnte.20. Jahrhundert klang so ungeheuer modern. Dabei ist sehr fraglich, was vom 20. Jahrhundert in den Geschichtsbüchern übrig bleiben wird. Sicherlich nicht sein Pazifismus, den es nur für ein paar Jahrzehnte und nur für einen sehr begrenzten geografischen Raum gab. Ein solcher Satz aber in Berlin wäre noch viel abstruser, denn dort würde sich niemand über eine solche Sicherheitsmaßnahme wundern. Im Gegenteil, der neuerliche Kampf zwischen rechts und links wird dort wieder mit Handgranaten geführt. Vielleicht ist das Gedächtnis des Ortes doch oder möglicherweise absichtlich unterschätzt worden. In Berlin kann man auf jeden Fall bald die apokalyptische science fiction spielen lassen, die sonst nur in New York imaginiert wird. Während man in Bonn vielleicht ein Denken etablieren kann, das zukunftsorientierte Modelle über Arbeitsverständnis, Gesellschaftsreproduktion und Erziehung entwickelt, die wirklich science fiction wären. n
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