Christentum und Marxismus sollten auf derselben Seite der Barrikade gegen die Welle neuer Spiritualismen kämpfen." So lautet die schlichte Zusammenfassung des Versuchs des slowenischen Philosophen Slavoj Zizek, die politische Seite des Christentums in den Zeiten der Neuen Ökonomie zu denken. Der Untertitel seines letzten Buches: Warum es sich lohnt, das christliche Erbe zu verteidigen, lässt dann auch keinen Zweifel mehr übrig, dass es sich um eine Apologie der spezifisch christlichen Transzendenz aus der Perspektive ihrer politischen Funktion handelt. Christentum und Marxismus dabei in einem Atemzug zu nennen, ist natürlich eine Provokation, die auf den alten Vorwurf abzielt, Marxismus sei selbst nichts anderes als säkularisierte Religion. Aber Zizek geht es darum, genau diesen Vorwurf zu bejahen und nicht mehr nur von einer Analogie des Urchristentums und des authentischen Marxismus zu sprechen, sondern auch bei ihren jeweiligen Institutionalisierungen in Kirche und Partei Gemeinsamkeiten anzuerkennen. Als das Kommunistische Manifest vor drei Jahren seinen hundertundfünfzigsten Geburtstag erlebte, war in den Feuilletons nicht selten der Vergleich mit dem christlichen Dekalog zu lesen. Vielleicht, und das ist das bemerkenswert Gegenwärtige an Zizeks dreizehn analytischen Essays, widerfährt dem Marxismus tatsächlich nach seinem realexistierenden Ende eine religiös geläuterte Renaissance.
Hintergrund für diese historische Neubestimmung des Verhältnisses von Marxismus und Christentum ist die Zunahme an spirtuellen Bewegungen, die sich seit den späten siebziger Jahren beobachten lässt. Es sind vor allem kosmologische Versatzstücke aus den unterschiedlichsten Religionen, die sich in den letzten Jahrzehnten großer Beliebtheit erfreuen und eine Art Privatreligion begründen. Häufig gehen diese eine praktische Synthese mit der Religion des Geldes ein - politisch wirksam werden sie eher selten. Auch Niklas Luhmann hat in seinem letzten Buch Die Religion der Gesellschaft seine Schwierigkeiten mit diesen Formen religiöser Kommunikation gehabt. Denn was sich da scheinbar als postmoderne Weltreligion herausbildet, leistet genau das nicht, was doch der Kernpunkt von religiöser Weltwahrnehmung ist: nämlich der Unbeantwortbarkeit der Frage, warum die Welt so und nicht anders ist, einen konkreten lebensweltlichen Ort zu geben. Religionen, könnte man sagen, umkreisen den blinden Fleck einer jeden Gesamtbeobachtung und halten damit die Möglichkeit einer Gegenwelt offen. Luhmann empfahl deshalb den klassischen Religionen, sich auf ihre religiöse Seite zu verlassen, was zumindest die katholische Kirche in jüngster Zeit auch entgegen dem Zeitgeist ausgiebig tut. Zizek hingegen betont aus den gleichen Gründen die religiöse Seite des Politischen. In jedem Fall hat Religion derzeit Konjunktur.
Ausgangspunkt von Zizeks Argumentation, es sei an der Zeit, dass das Politische das Religiöse als eigene Vergangenheit beerbt, ist das Denken des Absoluten. Dazu muss er weit ausgreifen und stellt den faschistischen, stalinistischen und kapitalistischen Totalitarismus und deren jeweilige Figurationen des Opfers neben die christliche Tradition der Transzendenz. Geleitet ist seine Analyse von der Frage, auf welche Weise eine ethische Dimension von politischen Opfern ausgehen kann. Selbst in den gewaltexzessiven Perversionen der stalinistischen Säuberungswellen, so seine These, sei noch ein utopisches Moment vorhanden gewesen. Der Satz, "sie sind nicht umsonst gestorben", konnte deshalb konstitutiv werden für das Fortleben der Opfer in der Totalität des opfernden Systems. Diese Form des Utopischen anästhesiert aber die Möglichkeit, dass das Opfer den Rahmen seiner Legitimation sprengt. Es ist immer schon gerechtfertigt. Die Opfer der faschistischen Konzentrationslager hingegen bleiben nach Zizek bis heute rein passive Opfer und lassen sich deshalb so gut in die Viktimisierungsstrategie des globalen Kapitalismus einfügen. Sie lassen sich immer dann aufrufen, wenn es eines politischen Fürsprechens bedarf, was Zizek einleuchtend an den Legitimationen des militärischen Einsatzes im Kosovo veranschaulicht. Solange die Bevölkerung im Kosovo der Opferlogik entsprach, konnte daraus eine nichtssagende humanitäre Haltung gewonnen werden. Sobald sie sich aber selbst wehren wollten, wurden aus den Opfern "Terroristen" und "Drogenhändler". Das Perfide des Kapitalismus besteht demnach darin, dass er Opfer erzeugt, von deren Tod keine eigene ethische Dimension ausgeht, sondern nur eine zu besetzende Leerstelle. Das Opfer ist wie bei dem alltäglichen Fall des "Verkehrsopfers" immer schon ein gegebenes Opfer.
Die historische Leistung des Christentums wird zumeist darin gesehen, dass mit dem Selbstopfer Christi die Notwendigkeit von weiteren Opfern für die religiöse Gemeinschaft abgeschafft wurde. Diese Überwindung des exzessiven und zugleich restaurativen Verhältnisses von Gesetz, Überschreitung und Bestrafung durch die christliche Liebe interpretiert Zizek nun aber radikal politisch. Er versteht die Paulinische Nächstenliebe nicht als moralischen Appell, sich um seine Mitmenschen zu kümmern, sondern als Möglichkeit, die gesellschaftliche Ordnung zu suspendieren. Die Liebe überschreitet nicht die Gesetzesnorm, um sie zu verletzen und damit auch zu bestätigen, sondern um die vorausgehenden Prämissen des Handelns zu verändern. Im Moment der Überschreitung wird damit zugleich das Bestehende als Rahmen der Beurteilung verlassen. Denn im Unterschied zum kosmischen Gleichgewicht etwa der heidnischen Religion, die immer auch die faktische Ordnung der Gesellschaft legitimiert, wird in der christlichen Liebe der Bruch des gesellschaftlichen Bandes und die Zuwendung zum zufällig Nächsten geradezu vorausgesetzt, um eine Begegnung von Angesicht zu Angesicht zu eröffnen. Die frohe Botschaft des Christentums, so Zizek, lautet somit eigentlich: ein Neuanfang ist möglich. Und das deshalb, weil der Zugang zum Absoluten im Christentum nicht über den Platz des Einzelnen in der Gemeinschaft gedacht wird, sondern gerade über die Möglichkeit des Ausgestoßenwerdens aus dieser Gemeinschaft. Die Partizipation am Opfer Christi ermöglicht es, den Feind aus dem Grund zu lieben, weil er zu jeder Zeit auch derjenige ist, der nicht seine gesellschaftliche Stellung repräsentiert. Damit plädiert Zizek für eine Wiederaufnahme der utopischen Strukturen des Christentums, deren Ethik sich nicht durch eine gesellschaftliche Zielprojektion auszeichnet, sondern durch die Konkretion der sozialen Begegnung.
Im Unterschied aber zur alltäglichen und allgemeinen humanistischen Idee, die realen Menschen hinter ihren gesellschaftlichen Rollen sehen zu wollen, sieht Zizek das Christentum in einer antihumanistischen Struktur begründet. Gerade der liberale Humanismus verstellt sogar dieses radikal Politische der christlichen Haltung, die sich der sozialen Wirklichkeit zuwendet, indem sie sich von dem kollektiv Imaginären einer Gesellschaft abkoppelt, das uns im Gesetz und dessen Überschreitung an sie bindet: "Wenn ich von einem anderen Leben träume, kette ich mich an das Gefängnis, während die uneingeschränkte Akzeptanz der Tatsache, dass ich mich wirklich dort befinde und mich den dort herrschenden Regeln unterwerfen muss, einen Raum wirklicher Hoffnung eröffnet." Ob man dem zustimmt oder nicht: Selten findet sich die Tatsache so dringlich ausgedrückt, dass es ohne eine neue politische Sprache keine Wiederaneignung der politischen Fragen gibt.
Slavoj Zizek: Das fragile Absolute. Warum es sich lohnt, das christliche Erbe zu verteidigen. Verlag Volk und Welt, Berlin-München 2000, 221 S., 38,- DM
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