Elfter September Tektonik

Mit moralischem Rigorismus gegen die Postmoderne Kommt nach dem Anschlag auf New York wirklich das Ende der Spaßgesellschaft?

Endlich hat das 21. Jahrhundert sein Ereignis. Es wollte aber auch gar nicht richtig beginnen. Alle katastrophische Lust zum Jahrhundertwechsel sah sich für länger ersatzlos getäuscht. Nichts geschah, kein größter digitaler Unfall. Fast zehn Jahre nach dem Ende der Geschichte sah es so aus, als würde es immer so weitergehen. Als würde der Spaß und der Ernst so unversöhnlich neben einander her existieren, dass die Antinomien der Weltgeschichte im Ungefähren verschwinden. Denn das Beruhigende an jenem Ende war nicht, dass nach der Ordnung der Weltmachtblöcke das Reich der Freiheit angebrochen war. Das glaubte doch eigentlich niemand. Das Beruhigende war, dass es im Nachhinein so schien, als hätte es bis dahin eine Geschichte und mit ihr auch eine Vernunft in dieser gegeben. Jetzt erscheint auf einmal die Sicherheitspolitik der atomaren Abschreckung als eine ganz ordentliche Angelegenheit, die einem im Verhältnis zu den Irrationalismen der mit dem 11. September verbundenen Konflikte fast wünschenswert überschaubar vorkam. Die These vom Ende der Geschichte war also nicht deshalb falsch, weil die Geschichte sich nun mit einem neuen Ereignis wieder zurückgemeldet hat, sondern weil sie nahe legte, dass es zumindest bis dahin eine Geschichte im singulären Sinne gab. Aber eine solche, in der alles seine Zeit hatte, ist schon lange mit dem 19. Jahrhundert zu Ende gegangen, das nun nicht mehr als nationalstaatliches Mittelalter von der Modernisierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus betrachtet werden kann. Die Vernunft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, womit man immer nur einen sehr kleinen Teil dieses historischen Zeitraums meint, hat es genauso wenig gegeben wie deren geschichtliche Realisierung zum Ende dieses Jahrhunderts, von allen das grausamste.

Programmatische Zäsuren, neue Zeitrechnungen, Epochenmarkierungen noch vor der Epoche selbst haben nicht nur den Sinn, zukünftiges Handeln zu legitimieren. Sie verschieben auch die rückwärtige Sicht erheblich. Die BRD, in der Zeit vor der Wiedervereinigung geistig und ökonomisch selbst herab gewirtschaftet, konnte diesen Umstand erfolgreich vergessen machen angesichts der neuen Herausforderungen der deutschen Zukunft. Ihr Erfolg war der Misserfolg der ehemaligen DDR. Auch wenn es im Nachhinein nicht so aussehen mag, sie hat sich am Elend ihrer ostdeutschen Brüder und Schwestern erfrischt. So wie hier 1989 die Nationalgeschichte und mit ihr die Weltgeschichte selbst zu sprechen schienen, konnten ganze Diskurse verschwinden, von den kritischen Stimmen der Friedensbewegung bis hin zu den politisch motivierten Verbraucherbewegungen. Ein historisches Ereignis, ob es in Formen der Überraschung oder des Schocks auftritt, scheint für seine Historisierung die negative Funktion eines schwarzen Loches zu erfüllen. So stark, wie es da plötzlich auftritt, scheint man nicht unmittelbar darüber sprechen zu können. Dafür wirkt es als ein den Diskurs ordnendes Zentrum im Hintergrund um so stärker. Und das ist das zusätzlich Erschreckende an den Terroranschlägen vom 11. September. Man hat nicht nur den Eindruck, dass es einen politischen, sondern auch einen diskursiven Ausnahmezustand gibt. Ganz in dem Sinne, dass, wer im Ausnahmezustand die Macht der Rede hat, sie auch im Normalzustand besitzt. Und in diesem Ausnahmezustand wurde gehandelt, so dass es schon jetzt Kriegsgewinnler gibt auf dem schwer umkämpften Zukunftsmarkt der Meinungen. Sinn ist vielleicht die knappste Ressource geworden und eines der wichtigsten Exportgüter der sogenannten westlichen Welt, das zuletzt in eine heftige Krise geraten war, die mitunter sogar melancholische Erinnerungen an die gute alte Ost-West-Konfrontation aufrief, als sich die Agenten der Geheimdienste in den Interhotels noch Gute Nacht sagten.

Manchmal hat man den Eindruck, dass der Spaß in der mitteleuropäischen Spaßgesellschaft der neunziger Jahre des Zwanzigsten Jahrhunderts, der nicht nur die Unterhaltungsprogramme sondern auch viele seriöse Meinungs- und Kulturproduzenten durchdrungen hat, gar kein Humor war, der etwa den schuldbetriebenen Druck der Geschichte verarbeitet hätte, sondern eine grundsätzliche Abspaltung von historischen Korrespondenzen zugunsten einer Fixierung auf die Gegenwart, die auf Dauer in frustrierte Langeweile umzuschlagen drohte. Nur deshalb kann man heute in manchen Feuilletons lesen, jetzt sei Schluss mit lustig und Zeit für Ernst. Fast so als hätte man vor lauter Überdruss und bisher nur insgeheim auf ein solches Ereignis gewartet, um die Gelegenheit zu nutzen und sich neu zu positionieren. Selbst die verspäteten Affirmierer des Zeitgeistes und der Oberfläche müssen jetzt zugeben, dass ihre Affirmation ein ästhetizistisches Projekt war, dessen andere Seite immer schon der Wunsch nach dem Ernstfall ist, bei dem man mit dem Griff zu den Waffen endlich auch das Gefühl der eigenen Unwirklichkeit zu überwinden hofft. Offenbar wird nach politischer Kunst immer nur in Zeiten der Krise gerufen, nicht aber im nur scheinbar friedlichen "Normalzustand". Jenseits davon kann man reden, was man will. Dabei war das einzige, was nach den Terroranschlägen in New York wirklich hervorragend funktioniert hat, die allgegenwärtige Meinungsproduktion mit dem Gefühlsergebnis, dass über die Nachrichtenkanäle endlich mal wieder etwas wichtiges lief, das uns sogar zu ernstzunehmenden Informationsjunkies werden ließ. Wie ein Vampir fielen die Meinungen über das Ereignis her, und zwar gerade die, die sowieso schon am Ende ihrer Puste waren, um sich, und das ist widerlich, daran zu erfrischen.

Noch nie gab es so viele klare Worte wie in den zwei Wochen des politischen und diskursiven Ausnahmezustands nach den Terroranschlägen vom 11. September. Noch nie wurde dem Herrschaftswissen des Pentagons und einer ganzen politischen Klasse soviel zugetraut. Noch nie war es so wichtig, über deren Handlungsfähigkeit eine eindeutige Meinung zu haben. Seit langem nicht mehr konnte man so ordentlich Position beziehen. Ob es für die einen die Gelegenheit war, die endgültige Bündnisfähigkeit Deutschlands unter Beweis zu stellen oder für die anderen ihre linkstraditionelle Amerikakritik hervorzukramen, um letztlich den schlichten Satz sagen zu können, man habe es immer schon gewusst, dass es mit dem Patienten ein schlechtes Ende nehmen würde. Nur in einem waren sich alle Meinungsproduzenten sicher: mit dem "anything goes" der Postmoderne ist es jetzt endgültig vorbei. Als könne Solidarität ihren Ort nicht jenseits eines Für oder Wider die USA haben. Das komplette Vergessen, dass der politische Einsatz des postmodernen Wissens in einem Bemühen bestand, einer zunehmend komplexeren Welt auch ein komplexeres Denken anheim zu geben, vielleicht sogar zu lernen von künstlerischen Weltwahrnehmungen, hat den Raum für die Rhetorik eines moralischen und handlungsermächtigenden Rigorismus geöffnet, der sich selbst zwar als neu beschreibt, aber oft nur das getarnte Recycling von alten Positionen vorführt, die in postideologischen Zeiten keine Chance mehr hatten. Im Nachhinein wird man viele Probleme dem Terroranschlag zurechnen, die schon lange vor diesem Ereignis da waren, und sie infolgedessen an der falschen Stelle bekämpfen. Man wird dieses Ereignis ganz linear erzählen. Es wird dazu dienen, dass man später wieder eine Geschichte und eine Vernunft behaupten kann, zumindest rückblickend, die dann wie der vermeintliche Erfolg der atomaren Abschreckung in die nächste unsichere Zukunft hochgerechnet werden können. Und wieder wird man darauf pochen müssen, dass bei einer solchen Geschichte ein großer Teil der Menschen auf der Welt nicht narrationsfähig sein wird. Erst spät wird man dann feststellen, dass die fixierte Bekämpfung des Fundamentalismus meist zu einer Fundamentalisierung der Bekämpfenden führt. Vor fünfzehn Jahren noch dachte ich, mit spätestens dreißig Jahren in einer atomaren, biologischen oder ökologischen Katastrophe zu sterben. In den neunziger Jahren kam mir das kindisch vor, und ich glaubte, erwachsen geworden zu sein, so wie die westliche Welt sich an die ständigen Katastrophen des letzten Jahrzehnts gewöhnt hat. Jetzt, da alle an einem grausamen Ereignis erwachsen werden, ist es vielleicht angebracht, den phantasielosen Ernst dieses Erwachsenseins wieder in Frage zu stellen.

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