Schauplatz der Ideologie

Führersuche Gilles Kepels Analyse "Die neuen Kreuzzüge"

In den letzten Jahren ist ein Thema wiedergekehrt, das längst verabschiedet schien. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion verlor der ideologische Diskurs zunehmend an Bedeutung. Überall berief man sich auf einen Pragmatismus der Interessen, jenseits übergeordneter Visionen und ideologischer Konfrontationen. Dass das schon Anfang der neunziger Jahre ein Irrtum war, der die Funktion des Ideologischen fundamental verkannte und auf die Konfliktlinien der Blockmächte reduzierte, zeigt sich an dem Vakuum, das seitdem die amerikanische Außenpolitik mit einer neuen Ausrichtung zu füllen versucht.

Das von dem philosophierenden Politikberater Francis Fukuyama ausgerufene "Ende der Geschichte" sollte man deshalb nicht als historische These zur Befreiung und Emanzipation im Sinne Hegels verstehen, sondern als Problematisierung eben jenes ideologischen Vakuums, das sich mit dem Verschwinden der Ostwest-Konfrontation aufgetan hat. Offensichtlich erfüllt das Ideologische eine zentrale Funktion, auf die Politik nicht ohne weiteres verzichten kann.

Einen weiteren Baustein der ideologischen Ausrichtung auf ein neues amerikanisches Jahrhundert darf man in der These vom "Kampf der Kulturen" sehen. Samuel Huntington hatte damit die zukünftigen Konfliktlinien nach dem Ende der Blockkonfrontation schon einmal vorgezeichnet. Den Status, den solche theoretischen Diskurse haben, sollte man nicht in ihrer Angemessenheit oder Wahrheit suchen, sondern in der Schaffung von epistemologischen Räumen.

Der französische Philosoph Louis Althusser hat den Menschen einmal als das ideologische Tier bezeichnet. Nach Althusser bedarf es zur Reproduktion des Gemeinwesens eines eigenständigen Schauplatzes der Ideologie. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich die Karriere der Neokonservativen um den amerikanischen Präsidenten George Bush junior verstehen, wie sie der französische Politikwissenschaftler Gilles Kepel in seinem Buch über Die neuen Kreuzzüge nachzeichnet. Als Stichwortgeber für die Neuausrichtung der amerikanischen Außenpolitik sieht Kepel den aus Deutschland emigrierten Philosophen Leo Strauss, der in seinen Studien zu Platon, Hobbes, Spinoza und anderen der Frage nach den politischen Fundamenten des Gemeinwesens nachgegangen ist. Das Scheitern der Weimarer Republik stellte dabei den historischen Kontext dieser Studien dar.

Strauss hielt eine bloß liberalistisch ausgerichtete Demokratie nicht für überlebensfähig. Ein Gemeinwesen, das sich ausschließlich funktional versteht, ist in seinen Augen nicht wehrhaft, es kann die zukünftigen Gefahren nicht antizipieren. Zugespitzt gesagt, es muss ein politisches Projekt geben, das über die Gewährung von Bürgerrechten hinausgeht, um einen Staat auf die Zukunft hin handlungsfähig zu machen. Wie eine ganze Reihe anderer Theoretiker seiner Zeit betrachtete Strauss das Politische nicht wie die derzeit vorherrschenden soziologischen Gesellschaftstheorien als auf ein politisches Teilsystem beschränkt, sondern für das gesamte Gemeinwesen als solches konstitutiv.

Dass allerdings ausgerechnet George Bush eine Art Philosophenkönig im Sinne Platons sein soll, scheint auf den ersten Blick etwas merkwürdig. Während der Ostwest-Konfrontation konzentrierten sich die Konservativen auf ihren antikommunistischen Kampf, der nicht nur ökonomisch, sondern vor allem ideologisch geführt wurde und auch erfolgreich war. Erfolglos hingegen war die Frontstellung zur Gegenkultur, insbesondere an den amerikanischen Universitäten. Die Karriere der Bush-Berater verlief deshalb im wesentlichen über die sogenannten think tanks, in denen die Studien von Strauss in konkrete politische Strategien übersetzt wurden. Die Legitimation des Präventivangriffs ist eine davon. Die neue moralische Rhetorik des Präsidenten, die eben nicht bloß als Rhetorik verstanden werden darf, ist eine andere.

Will man ein neues amerikanisches Jahrhundert, so ließe sich die Philosophie der Bush-Berater interpretieren, dann braucht man einen Führer, der sich nicht lediglich als Manager eines Staatsunternehmens versteht, sondern im Besitz einer Wahrheit ist, die weltweite Gültigkeit beanspruchen kann. Sicherlich muss man die komplizierten Verflechtungen des Bush-Clans mit den saudischen Ölproduzenten in Rechnung stellen, aber dass George Bush mehr ist als eine Marionette ökonomischer Interessen, ist in Europa lange Zeit unterschätzt worden.

Gilles Kepel, der den provokativen Titel seines Buches mit Bedacht gewählt hat, verlässt sich bei seiner Konfliktanalyse ganz auf die Rekonstruktion der ideologischen Schauplätze, die sich ebenso im Nahen Osten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion grundsätzlich verändert haben. Im Zentrum steht hier neben dem zweiten Aufstand der Palästinenser gegen Israels Okkupationspolitik vor allem die saudische Monarchie, die sich hauptsächlich auf die muslimische Geistlichkeit stützt. Während die Saudis zu Zeiten der Stellvertreterkriege religiöse Revoluzzer vom Kampf gegen die Monarchie fernhalten konnten, indem diese nach Afghanistan exportiert wurden, ist in den letzten Jahren die Angst vor einer Revolution nach iranischem Vorbild immer größer geworden.

In der sogenannten islamischen Welt, die nur als kulturelle Konstruktion geschlossen erscheinen kann, tobt ein ideologischer Kampf, den nicht zuletzt die USA mit ihrer antisowjetischen Bündnispolitik angeheizt haben. Denn dass sich der "Heilige Krieg" internationalisiert hat und nun auf den fernen Feind Amerika richtet, ist vor allem dem Umstand geschuldet, dass die lokalen feudalen Strukturen immer wieder gegen soziale Bewegungen geschützt und mit amerikanischer Hilfe stabilisiert wurden. Die Entscheidung, das irakische Regime endgültig zu stürzen, kann man deswegen auch als Einsicht verstehen, dass die aus dem Kalten Krieg stammende Bündnispolitik an ihre Grenzen gestoßen ist. Dass sich seitdem die Lage allerdings eher verschärft als entspannt hat, liegt nicht etwa daran, dass die Völker des Nahen Ostens keiner Demokratie fähig sind, wie manche meinen, sondern dass die Konfliktlinien nicht zwischen Demokratien und sogenannten despotischen Regimes verlaufen.

Im letzten Teil seines Buches widmet sich Kepel den Auseinandersetzungen mit muslimischen Immigranten in Europa. Hierbei wird besonders deutlich, dass es ihm letztlich nicht gelingt, genau jenes kulturelle Paradigma zu überwinden, das er an der amerikanischen Außenpolitik kritisiert. Europa wird bei Kepel zum aufgeklärten Mittler zwischen einer zum Größenwahn tendierenden Weltmacht und einer zum islamischen Fundamentalismus neigenden arabischen Welt. Deswegen wird sich die Zukunft des Westens an der Fähigkeit Europas entscheiden, zumindest seine gemäßigten muslimischen Bürger zu integrieren, was unter anderem auch den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union betrifft. So sympathisch aufgeklärt diese Position auch erscheinen mag, so mogelt sie sich doch um eine Bestimmung dessen, was sie selbst unter dem Begriff der westlichen Welt versteht, die ja keineswegs mit demokratischen Werten gleichgesetzt werden darf.

Wenn es darauf ankommt, hat diese westliche Welt in despotischen Regimes ihre besten Freunde. So richtig Kepels Entscheidung ist, die Renaissance der Ideologien in der Weltpolitik zum Gegenstand einer Untersuchung zu machen, so sehr mangelt es ihm an einem Begriff des Ideologischen, dessen Funktion sich nicht auf eine Form der Propaganda reduzieren lässt. Nur wenn man das tut, kann man meinen, selbst außerhalb der Ideologie zu stehen. Genau das jedoch ist die Problematik, die in Zukunft auf Europa zukommen wird, das sich bisher als ein Europa der Nationen vor allem kulturell zu begründen versucht und die Ausformulierung eines explizit politischen Projekts scheut.

Gilles Kepel: Die neuen Kreuzzüge. Die arabische Welt und die Zukunft des Westens. Aus dem Französischen von Büro Mihr. Piper, München 2004, 368 S., 22,90 EUR


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