Ich bin 1969 geboren. Das heißt, ich gehöre einer Generation an, die keinen Krieg erlebt hat und die zudem nicht einmal mehr mit den Folgen des letzten Kriegs konfrontiert war. Eine Generation also, die rundum in Friedenszeiten aufwachsen konnte, was bislang in der europäischen Geschichte und vermutlich nicht nur im zwanzigsten Jahrhundert selten der Fall gewesen sein dürfte. Ohne die Erfahrung der Nachkriegszeit gemacht zu haben, konnte man den Eindruck bekommen, der letzte Krieg sei genauso weit weg wie die letzte Eiszeit. Spuren davon lassen sich natürlich immer noch finden, aber warum sollte man ernsthaft danach suchen, wenn die historische Dimension der Ereignisse den Anschein von Vor- und Frühgeschichte trägt. Das ist etwas für Spezialisten oder für die Allgemeinbildung, die man immer schon einmal haben wollte und nie für nötig erachtete, wirklich zu besitzen.
Außerdem, und das ist vielleicht noch wichtiger, gehöre ich einer Generation an, die das vollkommen zufällige Glück hatte, inmitten eines ebenso historisch einmaligen Wohlstands geboren zu sein. Wahrscheinlich lassen sich Kriege, und selbst die schlimmsten, wesentlich besser vergessen, wenn es einem anschließend gut geht, zumindest in wirtschaftlicher Hinsicht. Ich jedenfalls konnte mir als Kind oder als Jugendlicher nicht vorstellen - und genau genommen kann ich es auch heute noch nicht -, dass vor gar nicht so langer Zeit ganz Europa ein einziges großes Schlachtfeld war, entweder als tatsächlicher Frontabschnitt oder aber als Heimatfront. Selbstverständlich war auch mein Geschichtsunterricht von den Nachrichten aus der Zeit des Nationalsozialismus bestimmt, aber alles in allem ist genau diese Zeit für mich immer eine vollständig irreale geblieben. Ich erinnere mich, dass ich beileibe nicht der einzige war, der bei der obligatorischen Vorführung der Hitler-Reden in der Schule lachen musste, über die comicartigen Bewegungen dieses Diktators mit der Brüllstimme, aber genauso über den didaktischen Kommentar aus dem Off. Diese gestreckte Form von Reeducation konnte einfach nicht mehr uns meinen. Vielleicht funktionierte die BRD auch bloß viel zu gut.
Schon damals, vor der Wiedervereinigung und trotz des letztlich etwas eingeschränkten Status dieses Landes hinsichtlich seiner beschädigten Souveränität, war aber auch nicht der geringste plausible Grund in Sicht, warum die politische Gestalt dieser absolut vorzeigbaren Bundesrepublik jemals untergehen sollte. Unendlichkeit also, wo man auch hinschaute, oder möglicher Weise auch nur ein Mangel an Horizont, selbst wenn man sich die Mutter aller Veränderungen, die Revolution, aus der Zukunft borgen wollte. Mal abgesehen von diesem merkwürdigsten aller Kriege, dem Atomkrieg, mit dem alles gleich und auf einmal zu Ende gewesen wäre und der einen deshalb schlussendlich doch nicht betraf. Selbst wenn er stattgefunden hätte. Irgendwie stellte ich mir vor, dass dann von einem Moment auf den nächsten alles tief schwarz würde. Ein Suizid im ganz großen Stil. Und der lässt sich wie der eigene am besten immer noch aufschieben. Worin übrigens diese Revolution, die endgültige Umwälzung der Verhältnisse bestehen sollte, das konnte keiner so genau sagen.
Da mein Vater aus der Zone stammt, wie man so sagt, und rechtzeitig rübergemacht hat, kenne ich die untergegangene politische Gestalt der DDR nur mit Kinderaugen. Zum Zweck der Stärkung des allgemeinen Familienzusammenhalts und insbesondere unserer zerrütteten sind wir jeden Herbst brav mit Kaffee und Nutella im Gepäck nach drüben zu den Verwandten gefahren. Um es gleich zu sagen: ich fand die DDR immer putzig. Selbst die Polizisten sahen einfach nicht aus wie ordentliche Polizisten auszusehen haben. Als hätte nicht nur die Landesbezeichnung in manchen westdeutschen Zeitungen in Anführungszeichen gestanden, sondern das ganze tatsächliche Land. Aus irgendeinem Grund empfand ich diese Gänsefüßchen meinem Lebensgefühl wesentlich angemessener - vielleicht weil ich mich selber immer nur wie uneigentlich gemeint fühlte oder weil Anführungszeichen einen Bruch markieren, dessen Anderes man zurzeit und bis auf weiteres leider nur mit einem schon gebrauchten Wort ausdrücken kann. Irgendwann, das ist meine feste Überzeugung, wird man alles in Anführungszeichen setzen müssen. Selbst die allereinfachsten Worte. Die "Deutsche Demokratische Republik" jedenfalls kam mir vor wie eine schon ziemlich verblasste Andeutung dieses Anderen in unübersehbar fetten Anführungszeichen, selbst wenn es sich im Grunde um ein lächerliches Land mit einigermaßen lächerlichen Symbolen handelte. Aber wie gesagt, diese Lächerlichkeit rührte mich an, auch dort noch, wo sie in der schönsten Borniertheit erschien, die selbstverständlich ungerecht und blind gegenüber den simpelsten Bedürfnissen der Landesbewohner war. Aber immerhin, ein tapferer Versuch, sich der unaufhörlichen Dialektik der Weltgeschichte zu entziehen, auch wenn er letztlich darin bestand, geradlinig und konsequent das Denken einzustellen. Das imponierte mir. Diese Sturheit hatte schon was. Das kann man nicht leugnen.
Nur die so genannten einfachen Leute dort kamen mir manchmal ein bisschen blöd vor, oder um es etwas netter auszudrücken, sie schienen sich permanent naiv zu stellen. Denn sie wollten hartnäckig daran glauben, dass es jenseits der Grenze ein besseres Leben gab. Auch wenn man ihnen tausendmal versicherte, dass es im Westen genauso beschissen ist, wenn nicht sogar noch beschissener. Als man diesem anderen Deutschland dann endgültig den Strom abstellte, sollte der überwiegende Teil der Bevölkerung noch Gelegenheit bekommen, sich selbst davon zu überzeugen. Das dürfte inzwischen die meisten angemessen frustriert haben. Aber ich fühlte mich keineswegs als Sieger irgendeiner streberhaften Geschichte, obwohl ich eindeutig auf der besseren Seite stand. Dass Pink Floyd dann auch noch dem scheinheiligen Fall der deutsch-deutschen Mauer das unendliche Lied meiner Pubertät zu fressen gab, machte mich einfach nur traurig. Seit der Wende habe ich meine Verwandten aus der jetzigen ehemaligen DDR nur noch selten gesehen. Warum auch. Die aus dem Westen sehe ich schließlich auch nicht öfter. Die Dinge normalisieren sich eben. Man gewöhnt sich an erstaunlich viel.
In den letzten beiden Jahren hatte ich häufig die Gelegenheit, mit Angehörigen der einzigen permanenten Generation zu sprechen, mit den 68ern nämlich. Bei allen möglichen Differenzen über historische Bedeutsamkeiten dieser oder jener Errungenschaft mochte ich ihnen in einem Punkt nie widersprechen. Jede dieser Diskussionen erreichte ihren Höhepunkt, wenn ich wenigstens zugeben sollte, "dass wir" (also die 68er) "für euch", also auch für mich, "gekämpft und so einiges erreicht haben". Sonst, und das ist gewissermaßen ein transzendentales Argument, könnte ich gar nicht so frei reden, wie ich es Zeit meines Lebens gewohnt bin. Wie schon erwähnt, fiel es mir schwer, in diesem Punkt zu widersprechen. Zustimmen allerdings konnte ich diesem Argument auch nicht. Also Dankeschön sagen, nein, das erschien mir dann doch ein bisschen zu einfach. Denn meistens hieß das nichts anderes als: wir haben die Fackel ein Stück getragen, jetzt seid ihr damit dran. Ein ideeller Generationenvertrag gewissermaßen mit ideellem Rentenanspruch, der nur deshalb nicht funktioniert, weil im Grunde genommen alle postachtundsechziger Generationen, egal wie man sie nun gerade mal nennen mag, konsumistisch, hedonistisch und scheißegozentrisch sind. Dabei tragen wir doch die Fackel, ob wir nun wollen oder nicht. Und vielleicht liegt hier schon das ganze vertrackte Problem.
Unsereins hat das Widersprechen schon in der Schule gelernt und tausend Tricks und Tipps für die ureigene Subjektivität mit auf den Weg bekommen. Seitdem die Repression in allen möglichen Formen freundlicher Weise abgeschafft wurde und selbst die Arbeit, ob nun die tagtägliche oder die der höchsteigenen Reproduktion, richtig Spaß machen durfte und zukünftig Selbstverwirklichung heißen sollte, verwirklicht sich ausschließlich dieses Selbst. Und das noch in der übelsten Knechtschaft, deren Herren abwesend sind oder jederzeit bereit, uns freundlich die Hand zu reichen, als lächerliche Phantome aus Entenhausen, in denen wir niemand anderen als uns selbst wieder erkennen. Diesem Imperativ gehorchen wir allesamt: Sei subjektiv! Ob ich nun morgens die Nachricht vom spektakulärsten Tod in der derzeitigen weltweiten Welt lese, mich über den neuesten Stand der gewalttätigen Auseinandersetzungen in irgendeinem peripheren Gebiet informiere oder meine Meinung zu dieser oder jener noch nie gehörten Perversität abgeben soll, all dies sind im Grunde genommen nichts als Nachrichten aus dem Sumpfland der Subjektivität, das nun mal meins ist und das ich genötigt bin, unendlich abzuschreiten. Es sind immer Nachrichten an mich selbst, auch wenn der Inhalt je nach Gesinnung wechselt, die Form ändert sich nie. Und ihr einziger Zweck besteht darin, zusätzliche und noch mehr Subjektivität zu generieren, deren unabsehbare Tiefe schier unersättlich scheint. In diesem Punkt sind wir alle im besten Sinne des Wortes Monster. Aber was das Schlimmste ist, die eigene Verwahrlosung geht beileibe nicht uns allein an.
Es sieht so aus, als stünden wir kurz davor, die erste Philosophie dieser unerschöpflichen Subjektivität, der gemäß alles Private politisch sein soll, endlich einzulösen. Entgegen dem Anschein, alles löse sich in privatem Wohlgefallen auf, sind wir mit Haut und Haaren politisch. Ob wir nun wollen oder nicht. Ja, selbst die Art und Weise Angst zu haben, die subtilen Höhlungen der Individualität, sind eine Frage der großen Politik geworden. Nicht einmal die Gesundheit gehört einem mehr selbst, auch die Verrottung des eigenen Gehirns geht jeden an, schlechte Gedanken können ordentlich reale Unternehmen mit Produkten selbst aus der ersten industriellen Revolution noch in den Konkurs treiben. Nie war die Volksgesundheit so entscheidend wie heute. Nur mit dem wesentlichen Unterschied, dass man sich selbst dazu erzählen muss zum Volk. Wer Volk ist und wer nicht, das entscheidet am Ende jeder selbst. Und da reden manche vom Niedergang der Literatur. Wo doch inzwischen der Roman der eigenen Subjektivität nicht bloß die einstmals so genannten Untertanen erfasst hat, sondern alles, was arbeitet, gehorcht und produziert, auch eine eigene Geschichte haben muss, ob es sich nun um einen Turnschuh, einen Politiker, ein Programm oder was weiß ich für einen Ersatz-Untertanen handelt. Einzig die Esoteriker haben es kapiert. Wir leben im mythischen Zeitalter oder im absoluten Idealismus. Am Ende lebt man nur noch, wenn man denkt, dass man lebt. Die Möglichkeit der Existenz geht lange der Existenz selbst voraus.
Das politische Gespenst, das die RAF uns hinterlassen hat, ist die Komplizenschaft mit unserem Feind. Der Umstand, dass man immer Teil dessen ist, was man bekämpft. Auf welche Weise und wo immer sich unser Feind zu erkennen gibt, ist er zugleich ein Feind im Inneren. Natürlich hat die RAF hier und da ein paar Repräsentanten ausgeschaltet, allesamt mächtige Männer, aber die wachsen nach, das war ja klar. Das war ja auch überhaupt nicht der Punkt. Der alles entscheidende Punkt war herauszufinden, ab wann man Teil der Lösung und nicht mehr Teil des Problems ist. Das nannte sich dann: Primat der Praxis. Und das hieß: der Komplizenschaft entkommen. Einen Trennstrich ziehen. Um das hinzubekommen, muss man sich radikalisieren, sich jenseits stellen, Verbrecher werden oder Terrorist, ganz im Stile der letzten paar Avantgarden, und noch eins draufsetzen, den Trennstrich noch mal enger ziehen, viel, viel radikaler sein, bis man sich zuletzt von sich selbst isoliert, purifiziert und tot in der toten Zelle sitzt. So viel zum neuen Menschen, der jenseits der Schwelle nicht ist. Und das System schaut gelassen zu und sagt: auch davon lässt sich bestimmt noch ein bisschen profitieren. So sei es. So war es. So wird es auch sein. Die Verantwortlichen derzeit, oder die sich dafür halten, wollen einfach nicht verstehen, warum sich jetzt jemand so ein T-Shirt mit dem bekannten Maschinengewehr überzieht und das cool findet, was natürlich ein trauriger und alberner Gestus ist, aber alles in allem sehr genau und trefflich die eigene Situation beschreibt. Da sagt man lieber, die wissen nicht, was sie tun, das ist halt Pop, alles wird verpoppt, schimpft ein bisschen auf die Jugend, die dumm ist und seit eh und je verführt und lediglich aufgeklärt gehört. Dabei weiß diese Jugend Bescheid und lässt sich nicht so leicht veräppeln. Es hat sich herumgesprochen, dass man beschissen wird, wenn man nicht zu denen gehört, die bescheißen. Der Kampf beginnt halt nur etwas früher, so mit zwölf bis 13 Jahren. Und was soll man da noch ernst und heilig reden über Dinge, die längst gegessen sind. Der Krieg innerhalb dessen, was die Soziologen so hübsch Gesellschaft nennen, erfordert nun mal Kombattanten. Über deren Ausbildungslager liest man viel zu wenig, braucht man vielleicht auch nicht, weil sowieso alle wissen, wie es geht, und nur die Feuilletons meinen, man müsste noch wichtige Diskussionen führen.
In den letzten Jahrzehnten, ich kann das Wort nicht mehr hören, hat man sich künstlerisch darauf geeinigt, subversiv zu sein. Das heißt, den Trennstrich auf vielfältigste Weise nicht zu ziehen. Ob feministisch, pop- oder multikulturell, ob dekonstruktiv oder sonst wie hochelaboriert, man ist theoretisch und theoretisch auf der anderen Seite, weil die Falle der Praxis so umfassend geworden ist, dass man überhaupt nicht mehr denken kann, ohne schon mitten drin in dieser Praxis zu stehen. Man ist vor allem vorsichtig geworden. Man hat nicht mehr nur einfach eine Meinung, die man mehr oder weniger gekonnt verteidigt, sondern diese Meinung könnte am Ende das ganze Kapital sein, mit dem man sich durchschlagen muss. Man darf es sich vor allem nicht verderben. Und so weiß niemand, wo wir hinlaufen. Aber mitlaufen muss man, mittendrin sein, ohne den blassesten Schimmer zu haben, wo dieser breite Fluss, dieser mainstream, eigentlich liegt. Das ist doch mal etwas Neues. Vor lauter Freaks gibt es den Normalbürger ja überhaupt nicht mehr. Vielmehr gibt es nur noch die umfassende Sehnsucht danach, völlig normal zu sein. In jüngster Zeit kann man sogar schon damit reüssieren, Bildungsmotten zu recyceln. Keiner will mehr am Rande stehen, weil man dort jederzeit stehen könnte, gerade wenn man sich mittendrin wähnt. Am besten, man hält sich diffus und nach allen Seiten hin offen und lächelt und findet vielleicht etwas so oder auch so, das ist alle mal besser, als sich vorzeitig festzulegen. Aber am Ende sind wir alle nur so nett zueinander, weil jeder, gerade dieser Nächste da, derjenige sein könnte, der einem das zukünftige Licht ausschaltet. Der überraschende Konsens, der dieses Land umklammert hält, ist also nichts anderes, als die Übersetzung des allerältesten Gesellschaftsvertrags, dem gemäß jeder jeden töten kann. Nur dass der Leib längst nicht mehr die einzige Möglichkeit dazu bietet.
Soviel zu den Friedenszeiten. Eine einmalige Epoche, wie gesagt. Wie kommt es also, muss man sich fragen, dass wir trotz alledem nicht im Krieg leben? Dass sogar eine neue und zuweilen wenig sichtbare Gestalt der Souveränität entsteht, im Namen eines Europas, dessen Geschichte eine einzige Kriegsgeschichte ist. Das hat es bisher noch nie gegeben. Eine Supernation, die langsam und stetig immer mächtiger wird, ohne dazu überhaupt noch einen Bürgerkrieg nötig zu haben. Einfach so. Ohne eine Gewalt, die der rechtsetzenden Gewalt voraus geht. Das muss man sich mal klar machen. Wozu die neuen Zeiten alles fähig sind. Da haben sich Völker und Länder Jahrhunderte lang bekämpft, und jetzt konkurrieren sie in einem einzigen Binnenmarkt. Und sie konkurrieren nicht nur um Produkte und Produktionsstandorte, sondern mit ihrer gesamten Mentalität, mit ihrer Art, das Leben zu bewältigen, mit ihren erprobten Techniken, dem eigenen Elend den Kampf anzusagen und sich glücklich zu machen. Das ist in der Tat, um einen berühmten Kollegen zu zitieren, eine mächtige Ausweitung der Kampfzone. Und für diese Form der Politik, fehlt bislang jede Sprache. Fehlen die Worte, um zu beschreiben, wie weit die berühmten Friedenszeiten das Erbe noch des letzten europäischen Krieges angetreten haben. Auch und gerade dort, wo die viel gescholtene neue Subjektivität das Schlachtfeld der Auseinandersetzungen bestens ersetzt hat.
Leander Scholz, geboren 1969 in Aachen, lebt als Schriftsteller und Medienwissenschaftler in Bonn. Zuletzt erschien von ihm 2002 der Roman Windbraut.
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