Von Porto Alegre um die Welt

Beispiele Armut bekämpfen, Wohnungen finanzieren, Bilanzen erklären – was Bürgerhaushalte weltweit so schaffen

Im Jahr 1988 war es im brasilianischen Porto Alegre höchste Zeit für einen Neustart. Die Militärdiktatur war erst seit drei Jahren Geschichte, ihre Nachwehen bestimmten noch immer die junge Republik – und die Millionenstadt im Süden des Landes: Die alten korrupten Eliten und Seilschaften verpulverten mit ihrer Klientelpolitik das öffentliche Geld und teilten die Privilegien unter sich auf – während die armen Favelas rund um die Stadt in rasender Geschwindigkeit wuchsen. Die frisch an die Stadtspitze gewählte Arbeiterpartei – hervorgegangen aus Gewerkschafts- und anderen sozialen Bewegungen – wollte Schluss damit machen.

Der Bürgerhaushalt wurde zum Herzstück dieses Neuanfangs. Er sollte soziale Gerechtigkeit und Basisdemokratie, die b­eiden Hauptanliegen der neuen Stadtregierung, zusammenbringen. In den 16 ­Regionen der Stadt werden seitdem auf Bürgerversammlungen Vorschläge gesammelt und von den Einwohnern mit Prioritäten versehen. Es geht dabei hauptsächlich um Investitionen in den Ausbau der Infrastruktur. Gewählte Vertreter dieser Bürgerversammlungen sortieren dann die Vorschläge aus allen Regionen. Das Wichtige hierbei: Ein Vorhaben wird umso besser bewertet, je ärmer der jeweilige Stadtteil ist. Wollen beispielsweise zwei Stadtteile Straßen asphaltiert bekommen, erhält im Zweifelsfall der den Zuschlag, in dem die Straßen bislang schlechter ausgebaut sind.

In Porto Alegre ging es von Anfang an auch darum, der Unterschicht, den Armen, mehr Macht zu geben, ihren Interessen zu mehr Einfluss zu verhelfen. Der Bürgerhaushalt wollte nicht nur mehr Mitsprache, er war auch ein Umverteilungsprogramm von oben nach unten. Das machte Porto Alegre schnell zum Vorzeigeprojekt der globalen Linken. Die Brasilianer suchten einen dritten Weg zwischen marxistischer Utopie und Sozialdemokratie.

Von Anfang an schwang in Porto Alegre ein revolutionärer Gestus mit. In vielen Stadtteilen schlossen sich politische Initiativen und Gruppen an, die noch aus Zeiten des Kampfes gegen die Diktatur bestanden und deren Energie jetzt in den Bürgerhaushalts-Prozess floss. Politisches Engagement war für sie kein Luxus, sondern notwendiger Kampf für die eigenen Rechte.

Hohe Alphabetisierungsrate

Trotzdem brauchte der Bürgerhaushalt einige Jahre, bis er zu einem breiten Erfolg wurde. Anfangs beteiligten sich nur einige hundert Einwohner, und erst, als man neben den Stadtteil-Foren auch gesamtstädtische thematische Treffen zu Verkehrs-, Gesundheits- oder Steuerpolitik einführte, konnte die Mittelschicht für den Bürgerhaushalt gewonnen werden. Mittlerweile beteiligen sich jedes Jahr mehrere zehntausend Bürger an dem aufwändigen Verfahren, entscheiden über Millionensummen. An ihrer Spitze steht der „Rat des Bürgerhaushalts“, der den Ablauf überwacht. Er ist unabhängig von der Stadtverwaltung und kontrolliert, was aus den Ergebnissen des Beteiligungsverfahrens wird. Die Mitglieder des Rates dürfen nur einmal wiedergewählt werden, damit sie nicht selbst Teil des Ämterproporzes werden können.

Auch dank des Bürgerhaushaltes sind in Porto Alegre heute doppelt so viele Haushalte an das Abwassersystem angeschlossen wie vor 30 Jahren, die Alphabetisierungsrate ist eine der höchsten in ganz Brasilien. Die Zahl der Schulen hat sich vervierfacht, Porto Alegre wurde zum Vorbild zahlreicher Kommunen in Südamerika und auf der ganzen Welt, 1996 ernannte es die UNO zur „Welthauptstadt der Demokratie“.

Porto Alegre war zwar der Auslöser für einen beinahe weltweiten Bürgerhaushalts-Boom, eins zu eins kopiert wurde das Modell aber nirgends. Vielmehr hat jede der Nachfolge-Kommunen, mehrere tausend sind es mittlerweile, die Grundidee mehr oder weniger gut an die eigenen Probleme und Ziele angepasst. So entstand ein ganzer Strauß von Modellen, die mit Porto Alegre oft nur noch wenig zu tun haben.


In England zum Beispiel werden Bürgerhaushalte vor allem zur Stadtentwicklung genutzt. Vorreiter sind hier die Kommunen Bradford und Salford. Dort können Stadtteil-Komitees lokale Projekte vorschlagen, über die dann abgestimmt wird. Eine ausführliche Diskussion der Vorschläge mit der breiten Bevölkerung gibt es nicht, und zur Debatte steht zu keinem Zeitpunkt der Gesamthaushalt, sondern nur zusätzliches Geld, das oft aus Strukturförderungsprogrammen kommt. Kritiker bezeichnen das so vergebene Geld deshalb auch als „funny money“.

Noch weiter weg von Porto Alegre ist der Bürgerhaushalt im polnischen Plock. Dort werfen ein großer Ölkonzern, lokale Unternehmen und die Stadtverwaltung Geld in einen Topf, aus dem der Bau von Wohnungen, aber auch die lokale Wirtschaft und soziale Projekte von Vereinen gefördert werden. Kommunalpolitische Grundsatzfragen oder große Projekte werden hier gar nicht erst diskutiert.

Die spanische Stadt Sevilla kommt in Europa dem Beispiel Porto Alegres noch am nächsten, ihr Bürgerhaushalt entstand mit ähnlich idealistischen Ansprüchen: Es gehe darum, die Macht den Bürgern zurückzugeben, „den Staat zu überfallen“, erklärte die linke Politikerin Paula Garvin zum Start des Verfahrens. Heute entscheiden die Bürger-Gremien jährlich über zweistellige Millionenbeträge, ähnlich wie in Porto Alegre werden die einzelnen Projekte auch nach sozialen und ökologischen Kriterien bewertet.

Verständlicher Haushalt

Vorbild vieler Bürgerhaushalte in Deutschland wurde die Stadt Christchurch in Neuseeland. Hier geht es nicht darum, ein Gegengewicht zur Verwaltung aufzubauen oder Gelder umzuverteilen, sondern darum, die Verwaltung durch Bürgerbeteiligung zu verbessern. Der Staat soll kein Gegenspieler sein, sondern ein Anbieter, dem der Bürgerhaushalt hilft, seine Leistungen zu optimieren. Die Einwohner haben in mehreren Runden die Möglichkeit, ihrer Stadtführung vorzuschlagen, was sie wo besser machen kann.

Der Stadtrat erklärt dann, was er davon hält, ob und warum er die Vorschläge umsetzt oder nicht. Die Politik behält also die Entscheidungsmacht, legt den engagierten Bürgern aber immerhin Rechenschaft ab. Am Ende veröffentlicht die Stadtverwaltung den Haushalt, und zwar nicht als unverständlichen Bilanzwust, sondern als leicht verständliche Übersicht über ihre Leistungen, mit Bildern und kurzen Beschreibungen. Um über die Stadtfinanzen mitreden zu können, müssen die Einwohner erst einmal verstehen, wie diese funktionieren – diese Idee hat es vielen deutschen Kommunen besonders angetan. In der hessischen Gemeinde Groß-Umstadt zum Beispiel hat man den Haushalt mittlerweile auf eine 30-seitige Broschüre reduziert, die an alle Haushalte verteilt wird.

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