Man fand Juan Francisco Sicilia Ortega mit sechs seiner Freunde am Stadtrand von Cuernavaca. Er hatte Klebestreifen über dem Mund und Spuren brutaler Misshandlung am Körper. Der 24-jährige Medizinstudent wurde ermordet, weil er die gestohlene Kamera eines Freundes einforderte und dabei in die Fänge von Mitgliedern eines Drogenkartells geriet.
Es ist vielleicht die grausamste Szene, die sich ein Vater je vorstellen kann. Für den mexikanischen Schriftsteller Javier Sicilia war sie Ende und Anfang zugleich. Aus dem katholischen Dichter wurde über Nacht ein Polit-Aktivist und Gründer der „Friedensbewegung für Gerechtigkeit und Würde“. Mit rund 100 Mitstreitern durchquert er derzeit das nördliche Nachbarland in einem Buskonvoi von Kal
oi von Kalifornien bis Washington D.C., um die USA im Wahlkampf aufzurütteln. Als er vor einigen Tagen im kalifornischen San Diego ankam, fragte ihn die amerikanische Journalistin Amy Goodman: „Was wollen Sie in den USA?“ – „Die Verantwortung teilen“, sagte Sicilia.Nicht nur die Trauer um seinen Sohn treibt den einstigen Schriftsteller. Er wolle „vielen anderen Eltern in Mexiko die Qualen des Verlusts ersparen“, sagt der 56-Jährige. Mehr als 50.000 Opfer hat der Drogenkrieg in seiner Heimat gefordert, seit der damalige Präsident Felipe Calderón 2006 erstmals die Armee gegen die Kartelle einsetzte. Diese Politik hält Sicilia für gescheitert. Und seine Alternative ist klar: „Ich setze mich unter anderem für die Legalisierung und damit eine Regulierung des Drogenmarktes ein, insbesondere für Marihuana.“Unstillbarer Drogenbedarf in den USARund 60 Prozent der vermuteten Gewinne der mexikanischen Drogenkartelle stammen aus dem illegalen Cannabishandel. Zusammen sollen die Kartelle Mexikos und Kolumbiens einen Jahresumsatz von 15 bis 31 Milliarden Euro erwirtschaften, wie die New York Times im Juni berichtete. Und nur ein kleiner Teil der Rauschgifte ist für den heimischen Markt bestimmt. Das meiste wird über die Grenze in die USA geschleust. US-Außenministerin Hillary Clinton räumte schon vor Jahren ein, dass der „unstillbare Bedarf an illegalen Drogen in den USA“ das kriminelle Gewerbe begünstige.Bisher unterstützen die USA den Nachbarn vor allem militärisch. So werden mexikanische Marinesoldaten von US-Militärs trainiert. Zudem liefern die USA Kriegsgerät wie Black-Hawk-Hubschrauber und modernste Überwachungsdrohnen. Sicilia aber wünscht sich eine Zusammenarbeit ganz anderer Art. „Die Gewalt in Mexiko eskaliert, der Krieg hat großes Leid über mein Land gebracht, deshalb fordern wir die Aufhebung der militärischen Unterstützung Mexikos durch die Vereinigten Staaten“, erklärt Sicilia leise, monoton, immer bescheiden, fast entschuldigend. Die zweite Forderung: „Der illegale Handel in den Grenzgebieten der USA und Mexiko, insbesondere in Texas und Arizona, muss gestoppt werden.“ Einem mexikanischen Regierungsbericht zufolge kommen bis zu 90 Prozent der Schusswaffen und Munition, die von den Kartellen gegen ihre eigenen Landsleute eingesetzt werden, illegal aus den USA.Da die Profite der Kartelle gewaschen werden, verlangt Sicilia zudem: „Internationale Banken müssen für die Geldwäsche von Drogengeldern in die Verantwortung genommen werden, und die mexikanischen Flüchtlinge, die aufgrund der andauernden Gewalt in unserem Land in die USA fliehen, benötigen einen sicheren Aufenthaltsstatus.“Glaubwürdiger Anführer Der Poet hofft, dass das Medieninteresse an seiner Buskarawane seinen Forderungen im Präsidentschaftswahlkampf Gehör verschafft. Dass einige US-Politiker und -Politologen Mexiko als mögliches Sicherheitsproblem für die USA sehen, könnte Sicilia zum Vorteil gereichen. Der Aktivist hat zudem Rückendeckung von mehreren südamerikanischen Staatsoberhäuptern. Bei einem regionalen Treffen in Kolumbien im April, zu dem auch US-Präsident Barack Obama geladen war, kritisierten die Präsidenten von Guatemala, Kolumbien, Costa Rica, Argentinien, Brasilien und Ecuador zum ersten Mal sehr offen den von den USA initiierten, mittlerweile 40 Jahre andauernden Drogenkrieg.Sicilias Schicksal macht ihn zum glaubwürdigen Anführer der neuen Bewegung. 2011 kürte ihn das Time Magazine zur „Person des Jahres“. „Ein Kind zu verlieren ist etwas sehr Unnatürliches“, sagt der graubärtige Katholik. Nach der Ermordung seines Sohnes im April 2011 führte er einen ersten Protestzug von Cuernavaca in die Hauptstadt, 150.000 Menschen versammelten sich im Zentrum von Mexiko City. Der Demonstration folgte ein Treffen mit dem mexikanischen Präsidenten. „Im Schloss Chapúltepec beobachtete ich eine anrührende Szene“, erzählt Sicilia. „Präsident Calderón traf auf eine Frau mit dem Namen María Elena Herrera, deren vier Söhne von Gangstern entführt worden waren. Der Präsident umarmte sie und ich konnte sehen, dass er zutiefst erschüttert war. Ich konnte erkennen, dass er versteht, dass diese Menschen Opfer sind, keine Statistiken. Ich sah den Schmerz in seinem Gesicht und in dieser Situation erschien mir der Präsident menschlicher.“Die spirituelle Poesie hat Sicilia nach der Ermordung seines Sohnes zugunsten von politischen Artikeln aufgegeben. Zuletzt schrieb er in der Huffington Post: „Wartet nicht, bis der Schmerz euer Leben erreicht, wartet nicht, bis die sinnlosen Tode euer Leben erreichen. Wir müssen jetzt zusammen aus der Politik des Krieges die für den Frieden, das Leben und die Demokratie schaffen.“