Sie nennen es nicht Arbeit

Grundsatzfrage Mit der Care-Revolution soll die Sorge um andere Menschen aufgewertet werden – in allen Bereichen
Ausgabe 50/2013

In keinem anderen Land werden derzeit mehr Krankenhäuser privatisiert als in Deutschland. Lange Zeit waren Krankenhäuser Orte, an denen Menschen je nach Leiden behandelt wurden und die dafür aus öffentlicher Hand finanziert wurden. Seit 2004 – mit der Einführung der „Fallpauschalen“– sind Krankenhäuser zu Unternehmen geworden. Sie machen Gewinn, wenn sie die Kosten dieser Pauschale unterschreiten, also möglichst viele rentable Diagnosen zu möglichst geringen Kosten durch die Klinik schleusen. Und seit 2000 ist die Zahl der Patienten um 5,8 Prozent gestiegen, im selben Zeitraum wurde aber zehn Prozent des Personals eingespart. Laut der Gewerkschaft Verdi fehlen in Deutschland derzeit 162.000 Stellen in den Kliniken.

Schon seit Monaten streiten die Beschäftigten in der Berliner Charité daher für eine Mindestbesetzung im Pflegedienst und begleiten jede Verhandlungsrunde mit Flashmobs, bei denen sie sich vor Erschöpfung auf die Wiese des Klinikinnenhofs fallen lassen. „Ich bin krank, weil ich zu viele Kranke pflegen muss“, steht auf ihren Schildern. Es sind die gleichen Botschaften, die man im Mai in Frankfurt bei den Blockupy-Aktionstagen lesen konnte. Dort wagte sich zum ersten Mal ein neuer Begriff auf die Straße, der die vernachlässigte Pflege- und Sorgearbeit ins Zentrum einer sozialen Bewegung stellen will – die „Care-Revolution“, durch die Straßen getragen auf einem lila Banner. Dazu Botschaften wie: „Wann hattest du das letzte Mal eine Stunde Zeit für dich?“ Oder: „Ohne Care geht gar nix mehr“. Denn die Eingriffe in die Daseinsvorsorge gehen weiter, als es Personalkürzungen in den Kliniken nahelegen.

Diskriminierendes System

Das zeigt auch ein Blick in die Familien. Um die Daseinsvorsorge der Menschen abseits von Kranken- und Pflegeheimen hat sich der Kapitalismus noch nie richtig gekümmert, sondern sie durch eine geschlechtliche Arbeitsteilung sichergestellt. Während im Fordismus die Männer die Maschinen am Laufen hielten, waren die Frauen für das Private zuständig: kochen, putzen, Kinder großziehen, Alte pflegen. Diese Care-Arbeiten bringen keinen Profit. Deswegen sind sie in der Systemlogik nichts wert – ebenso wie jene, die sie erledigen.

Die Diskriminierung der Frauen ist durch diese Arbeitsteilung tief in unser Wirtschaftssystem eingeschrieben. Und an der Geringschätzung hat sich über die Jahrzehnte nicht viel geändert: Den letzten Zahlen des statistischen Bundesamts zufolge wird hierzulande 1,7 Mal mehr nicht-entlohnte „Reproduktionsarbeit“ geleistet als Lohnarbeit. Im Schnitt kommt eine Frau auf 31 Wochenstunden unbezahlter Arbeit. Zwar kommen Männer mit Rasenmähen und Autowaschen auch auf 19 unbezahlte Stunden, aber die zwischenmenschliche Sorgearbeit leisten zu 80 Prozent Frauen.

Auf die Bedeutung der Care-Arbeit hinzuweisen, war bereits das Anliegen der zweiten Frauenbewegung. „Sie nennen es Liebe. Wir nennen es unbezahlte Arbeit“, schrieb die italienische Feministin Silvia Federici 1975. Sie tourt seit einigen Jahren wieder durch die Welt und fordert von einer neuen Generation erneut den „Aufstand aus der Küche“ – so der Titel eines Buches, in dem ihre wichtigsten Aufsätze in Deutsch wiederveröffentlicht wurden. Mittlerweile greifen immer mehr Zeitschriften und Tagungen die Fragen der zweiten Frauenbewegung wieder auf, fragen nach den Grundlagen unserer Ökonomie. Schließlich ist es die Care-Arbeit, die den Markt erst mit Arbeitskraft versorgt, die Menschen in Schuss hält. Unterstützt von einer Ideologie, die die Familie stets als Hort der Geborgenheit gegenüber den Kräften des Marktes glorifiziert.

Zwar machen heute immer mehr Frauen Karriere, man spricht von 15 bis 20 Prozent, die weitgehend gleiche Chancen haben wie ihre männlichen Kollegen: die gleichen Jobs, das gleiche Gehalt. Doch den meisten Frauen brachte der Weg in die Lohnarbeit nicht automatisch mehr Unabhängigkeit, sondern einen längeren Arbeitstag. Sie machen über 60 Prozent der Beschäftigten im Niedriglohnsektor aus. Und wenn sie nach Hause kommen, wartet da neben Haushalt und Kindern womöglich auch noch die pflegebedürftige Schwiegermutter. Burnout ist nicht die Krankheit überambitionierter Manager, sie trifft dreimal so häufig Einkommensschwache – und unter ihnen doppelt so viele Frauen wie Männer.

Trennung: Arbeit – Familie

Dass CDU und SPD das Problem nicht erkennen wollen, kann man in der Präambel des Koalitionsvertrags nachlesen, in der die „Leistungen der Menschen“ weiterhin säuberlich zwischen „in der Arbeit“ und „für die Familie“ getrennt werden. Gerade in Krisenzeiten ist die Familie gefragt, da sie ausgleichen muss, wofür die Gemeinschaft keine Ressourcen bereitstellt. Da ist es fast schon konsequent, ihre Sichtbarkeit im Koalitionsvertrag weiter zu verringern. Sie ist dort nur ein Unterpunkt unter dem Punkt „Zusammenhalt der Gesellschaft“. Unter „Pflege“ wird hingegen blumig umrissen, man wolle sich für Personalmindeststandards in den Krankenhäusern einsetzen und die Pflegeberufe aufwerten – doch wie konkret, davon ist keine Rede.

Da die Parteien nicht über Care-Arbeit reden wollen, passiert das auf anderen Wegen. Den Begriff „Care-Revolution“ erfand die Arbeitswissenschaftlerin Gabriele Winker, inspiriert von einem Zeitungsartikel des Politikwissenschaftlers Georg Fülberth. In diesem forderte er neben steigenden Löhnen hohe Investitionen in die „jüngsten Menschen“ und „kahlköpfigen Alten“.

Winker freute sich, dass die Reproduktionsfrage nun auch von linken Männern offener diskutiert wird. Ihr fehlte aber erneut die Thematisierung jener „unbezahlten Arbeit“, die nicht in Kitas oder Altenheimen anfällt. Deshalb machte sie daraus die Care-Revolution, um zu zeigen, dass es mit steigenden Löhnen und Investitionen in Bildung und Betreuung nicht getan ist. Sie fordert eine existenzielle Absicherung für die Einzelnen. Die kann etwa in Richtung eines Grundeinkommens gehen, um den ökonomischen Druck aus der privaten Care-Arbeit zu nehmen. Zeitgleich müssten aber soziale Berufe aufgewertet werden. Warum sollte eine Erzieherin, die Verantwortung für Kinder trägt, nur den Bruchteil eines Ingenieurgehalts bekommen?

Vorschläge, die schnell an der Logik des Systems kratzen. Und die auf immer mehr Gleichgesinnte treffen. Zur Care-Revolution-Aktionskonferenz im März in Berlin haben sich 50 Gruppen angemeldet: Attac, Verdi, Pflegenetzwerke, Frauenzentren, sogar die „Großmütterrevolution Schweiz“. Bezahlte und unbezahlte Care-Arbeiter wollen damit endlich ein Thema sichtbar machen, dessen Unterdrückung bisher stets die Voraussetzung für das Funktionieren der Gesellschaft gewesen ist.

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