Integration macht Pause

Coronakrise Volkshochschulkurse dürfen seit Mai wieder stattfinden. Doch die Hygieneschutzmaßnahmen stellen die Kursträger vielerorts vor unlösbare Herausforderungen
Volkshochschulgruppe in Kreuzberg. So nah dürfen die Kursteilnehmer vorerst nicht mehr beieinander sitzen
Volkshochschulgruppe in Kreuzberg. So nah dürfen die Kursteilnehmer vorerst nicht mehr beieinander sitzen

Foto: Imago Images/Photothek

Zamzam Mohammed ist Warten gewohnt: Als die 34-jährige vor vier Jahren ohne Sprachkenntnisse mit ihrem Mann und drei Kindern nach Deutschland kam, dauerte es sechs Monate, bis sie ihren ersten Sprachkurs machen konnte. „In der Zeit habe ich mit YouTube-Videos Deutsch gelernt.“ Mit Erfolg. Nach dem Einstufungstest wurde sie direkt dem B1-Kurs zugeordnet.“ Sie bestand B1. Dann wurde sie schwanger, blieb zwei Jahre zu Hause. Nun sitzt sie endlich im B2-Kurs, der sprachlichen Voraussetzung, um in Deutschland einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Dann kam Corona, neun Wochen Pause. „Ich habe schon wieder richtig viel Zeit verloren.“

Und schließlich hatte Zamzam noch Unglück im Unglück, sozusagen. Während der Corona-Pause stellte sich heraus, dass ihr somalisches Abitur in Deutschland nicht anerkannt wird. Das bedeutet für sie, die in Somalia als Bürokauffrau gearbeitet hat, dass sie ihren Schulabschluss nachholen muss. Es erwartet sie nach den Sommerferien die Schulbank, 9. und 10. Klasse an einer Abendrealschule in Minden. Da kommt es auf den wie ein Kaugummi in die Länge gezogenen B2-Kurs gerade auch nicht mehr an.

Mit ihrer Sprachschule in der nordrhein-westfälischen Stadt Löhne hat sie diesmal immerhin einen kleinen Vorteil: Seit dem 20. Mai finden in der Volkshochschule Löhne ihr Berufssprachkurs sowie ein Integrationskurs wieder als Präsenzunterricht statt. „Wir haben das Glück, einige große Räume zu haben, in denen Kurse wieder anlaufen konnten“, sagt die Leiterin der VHS Löhne, Stefanie Voß. Doch das Kursangebot bleibe eingeschränkt: „In Räumen, wo vorher 20 TeilnehmerInnen Platz fanden, passen jetzt nur noch acht.“ In der Konsequenz hieße das, das doppelte bis dreifache an Räumen bereitzustellen oder Kurse in zwei Gruppen aufzuteilen, die getrennt voneinander, zum Beispiel vor- und nachmittags, unterrichtet werden. Dieses Modell, auf das viele Träger aufgrund von Platzmangel zurückgreifen müssten, um überhaupt wieder an den Start zu gehen bedeutet allerdings zusätzliche Honorarkosten.

„Diese Mehrkosten gehen zu Lasten der Träger“, sagt Stefanie Voß. Denn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wird – so der jetzige Stand – an der Abrechnungsweise der Integrationskurse auch zu Corona-Zeiten nichts ändern. Gezahlt wird pro Kurs, auch wenn dieser aufgrund von Abstandsregeln in zwei Gruppen geteilt und zu unterschiedlichen Zeiten unterrichtet werden muss. Die verdoppelte Stundenzahl der Lehrkraft ist in diesen Fällen durch die Finanzierung des BAMF nicht berücksichtigt. Diese Differenz auszugleichen, könne von vielen Trägern nicht geleistet werden und, so Stefanie Voß, langfristig Anpassungen zur Folge haben, etwa eine deutliche Erhöhung der Kursgebühren für die vergleichsweise wenigen Selbstzahler, die nicht durch das Jobcenter unterstützt werden. Auch Tobias Pischel de Ascensao, Geschäftsführer der VHS Osnabrück, sieht das problematisch: „Wir werden an den Punkt kommen, an dem wir überlegen müssen, ob sich diese Kurse noch wirtschaftlich durchführen lassen.“

Ein Drucker – eine Seltenheit

Bei Zamzam Mohammed und ihren MitschülerInnen im Veranstaltungssaal 1, wo sonst Ü50-Partys oder ACDC-Cover-Konzerte gefeiert werden, wirkt die Stimmung etwas träge: Weiträumig verteilt sitzen die knapp zwanzig TeilnehmerInnen und richten den Blick auf ihre Lehrkraft. Die Sitzplätze sind nummeriert, auf eine Person kommen fünf Quadratmeter, ein Mindestabstand von 1,50 Metern muss immer möglich sein. Stifte dürfen nicht ausgetauscht werden und wer vom Tisch aufsteht, muss einen Mund-Nasenschutz aufsetzen.

Frontalunterricht, die altmodischste unter den Lehrvarianten, scheint nun wieder am praktikabelsten. Doch gerade der Fremdsprachenunterricht lebt von Gruppen- und Partnerarbeit, interaktiven Spielen und Bewegungsübungen. All das ist im Moment im Unterricht kaum umzusetzen. Der B2-Kurs hat Ende Juni Prüfung, zwei Monate später als geplant. Dass der Sprachstand der TeilnehmerInnen durch die wochenlange Pause gelitten hat, geben Lernende wie Lehrkraft ganz offen zu. „Es gibt Anlaufschwierigkeiten, das merkt man schon“, sagt die Kursleiterin Annette Bökamp. Und für viele entscheidet ein Bestehen der Prüfung, ob sie ab August die Chance auf einen Ausbildungsplatz bekommen oder nicht.

Zwar hatte Zamzam Mohammed die Möglichkeit, online im VHS-Lernportal – und das heißt in ihrem Fall: auf dem Smartphone – selbstständig Übungen zu absolvieren, die von der Kursleitung kontrolliert wurden. Doch ohne Unterricht und mit vier Kindern zwischen zwei und elf Jahren zu Hause blieb das wenig effektiv. „Ich habe einige Übungen gemacht, aber es fehlten die Erklärungen dazu. Außerdem hat das Online-Portal überhaupt nichts mit unserem Kursbuch zu tun“, sagt sie. Das Online-Angebot wurde vor Corona von den KursleiterInnen und TeilnehmerInnen nur sehr zurückhaltend angenommen, so Stefanie Voß. Online-Unterricht sei eine gute Ergänzung und müsse weiter ausgebaut werden, aber gerade nach der Corona-Pause habe sich nochmal gezeigt, wie wichtig den Teilnehmenden der persönliche Kontakt sei.

Die zweite Möglichkeit für einen Unterricht während der Coronapause sind Einheiten per Videokonferenz im virtuellen Klassenzimmer unter Weiterarbeit mit dem klassischen Lehrbuch. Die Leiterin der BAMF-Abteilung „Integration und gesellschaftlicher Zusammenhalt“, Uta Saumweber-Meyer, sagte laut FAZ den Zeitungen der Funke Mediengruppe, das BAMF habe 40 Milionen Euro aus dem aktuellen Haushalt genommen, um die fest angestellten Lehrkräfte und die Honorarkräfte der Kursträger weiter zu beschäftigen. Rund 7.000 Online-Tutorien und virtuelle Klassenzimmer seien genehmigt worden.

Doch diese Option konnte mangels Vorbereitung nur als Provisorium enden. Die Mehrheit der TeilnehmerInnen hat keinen Computer und muss die bis zu fünf Unterrichtseinheiten am Tag per Smartphone verfolgen. Um die Internetverbindung zu schonen, schalten viele TeilnehmerInnen ihre Kameras aus, sodass kein visueller Kontakt zwischen TeilnehmerInnen und KursleiterIn möglich ist. Die Kommunikation wird zäh. Zudem reicht bei vielen die Internetverbindung für stundenlange Videokonferenzen nicht aus. Ein Drucker um zusätzliches Material zum analogen Lehrbuch auszudrucken – eine Seltenheit. Darüber hinaus sind viele Eltern wegen fehlender Kinderbetreuung komplett vom Angebot ausgeschlossen.

„Sonst muss ich in die Grundversorgung gehen“

„Für die Träger war die Umstellung von Präsenz- auf Online-Unterricht besonders in der Verwaltung sehr aufwändig“, sagt Christiane Carstensen vom BVIB, „und dafür wurde vom BAMF zu wenig finanziert.“ So blieb vielen Kursträgern nur die Unterbrechung der Kurse. Eine Erhöhung des regulären Stundenvolumens, um die lange Pause auszugleichen, oder die Finanzierung der Neueinstufung des Sprachniveaus, wie es zum Beispiel der BVIB fordert, sind vom BAMF für die Integrationskurse bisher nicht vorgesehen. In den Berufssprachkursen gibt es die Möglichkeit, 100 zusätzliche Stunden zu beantragen. Zamzam wir das nicht helfen, ihr Prüfungstermin steht fest, ohne Zusatzvorbereitung.

Nicht zuletzt stellte der Online-Unterricht die Kursleiter vor die Herausforderung, ihren Unterricht von heute auf morgen online-kompatibel zu gestalten. Lioba Geier vom Bündnis DaF/DaZ Lehrkräfte hat sich mit einem kostenlosen VHS-Webinar fortgebildet, auch wenn sie keine Befürworterin des Online-Unterrichts ist. „Grundsätzlich ist das eine Möglichkeit, aber nur nach ausreichender Schulung der Kursleiter. Und alles, was wir jetzt an extra Vorbereitung und Weiterbildung gemacht haben, wird natürlich nicht bezahlt.“

Lioba Geier arbeitet für die VHS Mannheim als Integrationskursleiterin. Durch den Unterrichtsausfall hatte sie eine wochenlange Arbeitspause, online unterrichten musste sie nicht. Um den Ausfall der Einnahmen abzufedern hat sie, wie viele andere Kollegen, die Soforthilfe für Selbstständige beantragt. „Ich muss von meiner Arbeit leben, ich bin verwitwet und habe auch kein Eigentum“, sagt sie. Darum hat sie gleich in den ersten zwei Wochen nach Einführung der Soforthilfe, als von der ausschließlichen Verwendung für Betriebskosten noch keine Rede war, den Antrag gestellt. „Fünf Tage später war das Geld auf meinem Konto.“ Sie mache sich keine Sorgen, dass sie das Geld zurückzahlen muss. „In Hessen, wo ich wohne, wird diese Diskussion gar nicht so geführt wie anderswo.“ In NRW zum Beispiel dürfen maximal 2.000 Euro für den Lebensunterhalt verwendet werden, der Rest ist für Betriebskosten bestimmt, die Integrationskurslehrkräfte in der Regel nicht haben.

Einen Teil ihrer Soforthilfe in Höhe von 6.400 Euro hat Lioba Geier für die Nachzahlung der Renten- und Krankenversicherung zurückgelegt, die sie während des Unterrichtsausfalls pausiert beziehungsweise reduziert hatte. Von dem anderen Teil bestreitet sie ihren Lebensunterhalt. „Die Krisensituation zeigt erst recht, wie prekär unsere Arbeitsbedingungen sind“, sagt sie. Als aktives Mitglied des Bündnis DaF/DaZ (Deutsch als Fremdsprache, Deutsch als Zweitsprache) streitet sie schon lange für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Lehrkräfte in den BAMF-Kursen. Die Soforthilfe reicht bei ihr gerade noch bis Ende des Monats. Sie hofft, dass bis dahin die fehlende Finanzierung für die Teilung der Kurse vom Innenministerium gestellt wurde. „Sonst muss ich in die Grundversorgung gehen, und das wird auch der Schritt für viele andere Kollegen sein.“

„Fangt hier gar nicht erst an“

Die finanzielle Notlage der Kursleiter sehen auch die Träger. Die große Mehrheit der KursleiterInnen arbeiten als Honorarkräfte und sind nicht ausreichend abgesichert. „Es ist für uns sehr belastend zu sehen, dass unsere Honorarkräfte zur Zeit kein Geld bekommen,“ sagt Stefanie Voß. Tobias Pischel de Ascensao sieht das ähnlich. „Das sind gut qualifizierte Leute, die mit hohem Engagement arbeiten. Deren Notlage in der Corona-Krise ist für uns als Träger nicht schön anzusehen.“

Von rund 51.000 zugelassenen Lehrkräften in Integrationskursen, von denen Stand Mai 2019 41.000 weiblich sind, arbeiten nur etwas mehr als 15.000 aktiv in diesem Bereich. Schuld seien die schlechten Bedingungen: „Wer kann, wandert irgendwann in andere Bereiche ab“, sagt Lioba Geier. Bei 35 Euro pro Unterrichtseinheit und 25 Unterrichtsstunden pro Woche verdiene eine Integrationskurslehrkraft nach Abzug von Steuern, Sozialversicherungen und Urlaub ungefähr 1.500 Euro netto im Monat. Jeder Fehltag durch Krankheit mindere dieses Einkommen zusätzlich.

Um einigermaßen auszukommen, arbeiten daher viele mehr als 40 Stunden in der Woche oder haben Ehepartner, die gut verdienen. Ein klassischer Frauenjob vielleicht? Oder einer dieser Jobs, für den die Menschen so brennen, dass sie einiges in Kauf nehmen? Vielleicht gehört Lioba Geier zu letzterer Gruppe. Sie ist 65 Jahre alt, theoretisch im Rentenalter. „Aber da denke ich noch lange nicht dran. Ich möchte noch arbeiten, aber ich muss auch. Für die Rente reicht es hinten und vorne nicht. Meine älteste Kollegin ist übrigens 80 Jahre alt.“ Trotzdem gebe sie ihren Hospitanten gerne folgenden Rat: „Wenn du irgendwann aus deiner WG raus und ein eigenes Auto fahren willst, dann fang hier gar nicht erst an.“

Neben der Soforthilfe gibt es noch zwei weitere potentielle Rettungsschirme für die Honorarlehrkräfte. Das Sozialdienstleister-Einsatzgesetz (SodEG) muss allerdings vom Kursträger beantragt werden. Von der Ausschüttung werden 75 Prozent an die Lehrkräfte weitergeleitet. Die Bedingungen seien leider zum Teil „nicht besonders durchsichtig“, so Tobias Pischel de Ascensao. Nach wochenlanger Prüfung befinde man sich aber nun in der Phase der Antragstellung. Stefanie Voß kann noch nicht sagen, ob man das SodEG für die VHS Löhne beantragen werde, da die rechtlichen Bestimmungen noch einige Fragen offen lassen. Für die Lehrkräfte kommt das Geld so oder so einige Monate zu spät.

Während also auf Seite der KursträgerInnen Hygienemaßnahmen und Antragsverfahren geprüft werden, bleibt vielen KursleiterInnen, die nicht auf die Soforthilfe zurückgreifen konnten oder wollten, nur die Beantragung des Arbeitslosengeld II. Lioba Geier hatte vor Corona Hoffnung auf eine Honorarerhöhung für Integrationskurslehrer. Gemeinsam mit der GEW kämpft das Bündnis DaF/DaZ seit Langem für tariflich geregelte Anstellungsverhältnisse der Integrationskurslehrkräfte oder ein freiberufliches Mindesthonorar von 58 bis 60 Euro pro Unterrichtseinheit. „Dann kämen wir auf das Niveau der Berufsschullehrer. Wir haben mit der Integration schließlich auch einen staatlichen Bildungsauftrag.“ Nun fürchtet sie, dass Forderungen künftig mit Argumenten zu Sparzwängen wegen Corona abgewiesen würden.

Für Zamzam Mohammed ist das Arbeitslosengeld II ohnehin seit ihrer Ankunft in Deutschland die Lebensgrundlage. Doch das soll nicht so bleiben. Sie möchte Kranken- oder Altenpflegerin werden. „Ich will endlich etwas schaffen im Leben. Und meine Kinder sollen das auch.“ Sie weiß, dass die Sprache dazu der Schlüssel ist. In Somalia gebe es ein Sprichwort: „Eine Sprache ist wie ein Brot.“ Je mehr Sprachen, desto mehr Arbeit bedeutet das. Deswegen werde sie ihren langen Bildungsweg in Deutschland zu Ende bringen.

Von Linda Schnepel erschien im Freitag (18/2020) zuletzt ein Interview mit der Doula Inana Hölscher

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