„Und jetzt, was kommt denn jetzt?“

Interview David Wagner und Jochen Schmidt haben ein Buch über ihre Kindheit in der BRD und in der DDR geschrieben - so verschieden waren ihre Leben bis zum Mauerfall gar nicht

Der Freitag Herr Schmidt, wir sitzen hier in einem Café mitten in Prenzlauer Berg, ehemaliger Osten. Erinnern Sie sich an diese Gegend vor dem Mauerfall?

Jochen Schmidt: Ja, das war eine ganz andere Welt. Andere Menschen, seltsame, pittoreske Gestalten. Es gab wenig Autos und kaum Cafés, nur dieses komische Eiscafé gegenüber vom besetzten Haus. Zur Wendezeit, als man dachte, man müsse jetzt ganz schnell ein Haus hier besetzen, bin ich immer in irgendwelche Hinterhöfe rein und hab mich umgeschaut. Es stand ja alles leer, man musste sich nur was aussuchen, aber ich habe mich nicht entscheiden können, und dann waren schon die Westler da. Ich bin ja erst mit 18 hier in diese Gegend gezogen. Von einem Verwandten habe ich dann seine Dienst-Einraum-Wohnung geborgt bekommen, mit Küche, ohne Bad, Außenklo. Egal, für mich war das traumhaft.

David Wagner: In meinen ersten Jahren in Berlin habe ich auch hier gewohnt. Ich hatte zwar Zentralheizung, aber das war's dann an Luxus. Wenn ich Besuch aus dem ehemaligen Westen bekam, waren die schockiert, wie ich so wohnen konnte.

S: Ja, so praktische Dinge in Wohnungen musste ich auch erstmal lernen. Ich wohnte mit meinen Eltern ja in einem Neubau, in Berlin-Buch, und plötzlich musste ich erstmal verstehen, dass man das Wasser erst warm machen musste, mit einem Boiler in der Küche.

W: So was wurde uns schon früh beigebracht, bei uns kostete der Strom schließlich. Wozu Atomkraftwerke? Der Strom kam doch aus der Steckdose …

Über diese unterschiedlichen Erfahrungen haben Sie beide ein Buch geschrieben: „Drüben und Drüben“. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung erstaunt nicht. Aber wie ist die Idee zu einem gemeinsamen Buch entstanden?

W: Jochen hat im Rahmen von „Schmidt liest Proust“ viele Kindheitserinnerungen aufgeschrieben und ich habe vor einiger Zeit das Buch „Spricht das Kind“ geschrieben. Ein Buch über das eigene Kind, durch das man dann wiederum selbst zum Kind wird. Und irgendwie ist dann die Idee entstanden, etwas Ähnliches gemeinsam zu machen. Vor allem, weil unsere Kinder in letzter Zeit öfter nachgefragt haben: „Papa, wie war das denn eigentlich damals? Warum sind die denn nicht einfach rübergegangen, über diese Mauer?“

Gab es Aufzeichnungen, die Sie beim Schreiben verwenden konnten?

S: Ich bin ja jung, ich erinnere mich an alles. Ich habe früher nie Tagebuch geschrieben. Ich habe einige Brief und Postkarten von früher rausgekramt, aber eher, um mich einzustimmen.

W: Die Frage wurde mir ganz oft bei meinem Roman „Leben“ gestellt, einem Buch über meine Krankheit. „Hast du das denn alles schon im Krankenhaus aufgeschrieben?“ Ja, habe ich, aber das Buch habe ich dann aus meinen Erinnerungen heraus geschrieben, man muss sich doch erinnern können. Bei „Drüben und Drüben“ war es ähnlich. Das Tolle war: Jochen ist was eingefallen, dann hat er mir eine Nachricht geschickt, und daraufhin ist mir was eingefallen, wir haben uns gegenseitig infiziert. Er schrieb zum Beispiel über sein Fahrrad, und dann fielen mir meine Erlebnisse mit dem Fahrrad wieder ein.

„Kinderzimmer“, „Küche“, „Bei den Nachbarn“ - wie kamen diese Kapitel zustande?

S: Es hat tatsächlich eine Weile gedauert, bis wir uns darauf geeinigt haben. Denn zu Beginn eines solchen Werkes weiß man gar nicht, an wen sich das Buch nun wirklich richten soll.

W: Es war wichtig, eine Auswahl zu treffen, ich glaube, jeder von uns hätte noch so viel mehr erzählen können, und dann haben wir eben versucht, so eine Art repräsentativen Spaziergang mit dem Leser zu machen.

S: Unser Buch sollte nicht so essayistisch, sondern eher spielerisch sein. Immer schwankend zwischen dem Blick mit der Lupe und dem analytischen Blick von außen. Man wurde dann immer gefragt: „Ja, ist das denn nicht schon alles erzählt?“ Ich denke, die Geschichte wird immer wieder neu erzählt. Wenn es Einen gibt, der sie erzählen will, dann ist sie eben noch nicht erzählt.

Und für wen ist es nun geschrieben, das Buch?

W: Ich hoffe für Alle! Das ist ja das Interessante an der Literatur, sie kann einem Zeiten, Leben oder sogar Welten näher bringen, die mit dem eigenen Leben vielleicht nicht so viel zu tun haben. Das Interessante ist ja dann, dass man die Differenz sieht und einem die eigene Kindheit einfällt und genau das möchte ich erreichen. Ich möchte, dass die Leser parallel schreiben, wenn auch nur im Kopf. Man hat zwei Versionen einer Kindheit, die man liest, und schreibt sich dann seine eigene, eine dritte Version also.

Unterscheiden sich die beiden Versionen stark?

W: Die Erkenntnis, die wir durch Drüben und Drüben gewonnen haben: Wir hatten gar nicht so unterschiedliche Kindheiten. Ich wurde in der Bundesrepublik genauso ideologisiert wie Jochen in der DDR. Wir haben ja auch einfach alles geglaubt, so gut war das verpackt. Und es ist nunmal so, dass man aus der Kinderperspektive alles mit diesem staunenden Blick erzählen kann.

S: Ich denke, dass diese Geschichten noch nicht so oft aus der Sicht eines Kindes erzählt wurden. Das Naive kann sehr reizvoll sein. Außerdem kommt da eine gewisse Melancholie hinzu, denn die Kindheit ist etwas, was man nur einmal erleben kann.

Das Fernsehen spielt in beiden Kindheiten eine sehr große Rolle...

W: Oh ja! Das Fernsehen war damals einfach noch viel wichtiger. Heutzutage leben wir ja schon im Post-Fernsehen-Zeitalter. Damals war ein Fernseher viel gemeinschaftsstiftender. Kurios dabei ist nur, dass Jochen den Westen aus dem Fernsehen kannte und ich den Osten so gut wie gar nicht. Ich wusste ja nichtmal, dass es Ost-Fernsehen gab.

(Die beiden Autoren vergessen die Frage und das Aufnahmegerät. Stattdessen diskutieren und lachen sie über Formel Eins, eine Kult-Musiksendung auf ARD. Wagner schmunzelt in sich hinein, Schmidt verliert sich in einem Selbstgespräch über Platten und „neuen Stoff“.)

S: Naja.

W: Wie haben Sie denn das Buch gelesen? Die jeweiligen Kapitel immer abwechselnd?

Nein, ich habe erst Ihre Geschichte und dann die von Jochen Schmidt gelesen.

W: Wir sind ganz gespannt, wie die Leser damit umgehen. Wir haben auch kurzzeitig darüber nachgedacht, ob wir jeweils abwechselnd zu den gleichen Themen schreiben. Aber dann konnten wir uns nicht entscheiden, wer anfängt und wer das letzte Wort haben darf...

Gab es denn Geschichten oder Anekdoten vom Anderen, die noch überrascht haben?

S: Mich hat in Davids Geschichte diese Anti-Strauß-Bewegung überrascht. Dass man eben diese Phase hatte, wo man sich so positioniert hat und mit den Eltern aneinander geraten ist.

W: Richtig aneinander geraten bin ich nicht. Die Vaterfigur ist ja eigentlich ein Linker.

Mich hat bei Jochen die eine Abenteuergeschichte, das Trampen nach Polen sehr interessiert.

S: Obwohl das ganze Vorhaben ja gescheitert ist.

W: Ja, aber genau dieses Scheitern finde ich so großartig. Dieses Rumlaufen und Rumirren, das kannte ich auch in dem Alter. Das Gefühl zu haben, ab jetzt entscheidet jeder Schritt was passiert. Auf in ein neues Leben! Ich hatte diesen Wunsch zeitweise sehr stark, weil ich aus der Kleinstadt ausbrechen wollte.

S: Für mich war das der Prenzlauer-Berg, die Hinterhöfe, wo die interessanten Künstler lebten. Ich wollte dort sein, wo etwas passierte, weg aus dem Neubau am Rand von Berlin. Ich hab dann natürlich trotzdem niemanden gekannt und bin auf keine illegale Wohnungslesung gekommen.

W: Ich bin erst 1991 nach Berlin gekommen, irgendwie hatte ich da schon verpasst, was Jochen anspricht. Aber die Wahrheit ist, dass ich immer im Café M in Schöneberg saß, und dachte: Scheiße, wo sind die 80er denn hin? David Bowie und alles, die Mauer ist weg...Christiane F. Und Nick Cave sehen...Ja, West-Berlin hatte seine Reize.

Herr Schmidt, haben sie viel von West-Berlin mitbekommen?

S: Wenig...Wir haben eben jeden Abend die Abendschau geguckt, weil die immer lief, und es gab darin diese eigenartige Mischung aus Piefigkeit und Berichte über die Jugendszene. Lustigerweise habe ich aber all das nie mit der Mauer und dem dahinter zusammengebracht. West-Berlin war für mich immer nur das, was man vom Brandenburger Tor aus sah, also weitestgehend nur Bäume. Dass das der viel größere Teil von Berlin war, war mir als Kind nicht bewusst.

W: Das interessante daran ist ja, dass West-Berlin selbst für uns Wessis eine Art Sehnsuchtsort war. Als Schüler war ich zwei oder drei Mal dort, und es war einfach so viel krasser und cooler als unsere öde Kleinstadt.

S: Wir jedenfalls haben uns den Westen so viel toller vorgestellt, als er dann tatsächlich war. Shopping Malls, Gewerbeparks, Fußgängerzonen, Bürogebäude, das fand ich alles furchtbar. Leider ist es dann sofort in den Osten exportiert worden, in seiner billigsten Version.

Als Sie noch dachten, dass der Westen das Paradies sein muss, haben Sie sich sehr über die Pakete von dort gefreut...

S: Ja, wir waren tatsächlich sehr materiell eingestellt und scharf auf alles, was von drüben kam. Es musste nicht mal ein gute Marke sein, es musste nur sichtbar sein, dass es nicht aus dem Osten war. Teilweise war das von drüben sogar viel schlechtere Qualität, aber das war uns egal. Da war man sehr arrogant und konnte Produkte aus dem Osten überhaupt nicht schätzen.

Herr Wagner, was dachten Sie damals über den Osten?

W: Ja, als West-Deutscher, links-vom-Rhein-Bewohner hat man sich kaum Gedanken um die DDR gemacht. Schon auf der anderen Rhein-Seite, das waren für mich Leute, die nicht mehr so richtig zu uns gehörten. Städtenamen wie Leipzig und Weimar, das war irgendwie keine Realität, das waren historische Orte. Man hat dann immer mal wieder so ältere Leute reden gehört, „das mit der Teilung tut so weh...“, so what? Das tut mir überhaupt nicht weh, die fehlen mir nicht. Da standen mir die Franzosen ja noch näher. Ich hatte aber auch keine Verwandtschaft im Osten, das kommt hinzu. In der Schule hatte die DDR eher eine Funktion: Zu verdeutlichen, wie gut es uns im Westen ging, so sollten dann Proteste erstickt werden.

S: Wenn ich Besuch von meinen Cousins aus dem Westen hatte, war ich immer ganz stolz, mit ihnen durchs Viertel zu gehen. Mit ihnen fühlte ich mich immer unverwundbar. Denen konnte keiner was, und mir auch nicht.
Auch so ein Phänomen, wenn Besuch aus dem Westen kam und meine Eltern alles eingekauft und aufgetischt hatten, haben unsere Verwandten beim Abschied immer so was gesagt wie: „Na ihr habt doch alles.“ Dabei haben die nicht gesehen, wie lange meine Eltern für alles rumgerannt sind.

Wann war sie am meisten zu spüren, diese Sehnsucht nach Drüben?

S: Als Pink Floyd und David Bowie im Westen spielten und alle Leute zur Mauer gegangen sind, um wenigstens ein bisschen was von der Musik mitzubekommen. Oder wenn man bei RIAS hörte, was abends im Westen in den Clubs alles los sein würde, während man selbst in der Wohnung hockte. Da war man schon neidisch, klar. Aber da war ich schon älter. Als Kind spürte ich keine Sehnsucht, die Welt um mich herum, die ich entdecken sollte und wollte, war ja groß genug.

Das letzte Kapitel trägt den Titel „9.November 1989“. Da waren Sie beide schon erwachsen, und dennoch ist auch dieses Kapitel bewusst naiv geschrieben, man erfährt nicht wirklich, was in Ihnen vorgegangen ist, als Sie vom Mauerfall erfahren haben.

S: Das ist ja auch schwer zu rekonstruieren. So wie ich es beschreibe, so war das in dem Moment auch für mich. Ich hab diesen Tag irgendwie verpasst, weil wir so früh ins Bett mußten und nicht Fernsehen geguckt haben. Ich war zu der Zeit schon bei der Armee. Das Gefühl war so ein bisschen: „Und jetzt, was kommt denn jetzt?“ Da war keine große Euphorie, denn ich wusste, ich konnte ja eh erstmal nicht rüber. Und ich hatte Angst vor Drogen, Neppern, Schleppern und Bauernfängern.

W: Ich glaube, wir sollten diesen Tag im Nachhinein nicht so aufblasen. So nach dem Motto: Oh wow, ein historischer Moment. Ich habe mich eben zu der Zeit mehr für Independent Musik interessiert, das war mir wichtiger.

S: Ich gehörte zu denen, die das System zwar reformieren, aber nicht abschaffen wollten. So naiv war man ja damals. Auf gar keinen Fall den gleichen Kapitalismus wie im Westen, bitte. Und ich dachte natürlich, dass die Mehrheit der Leute im Osten so dachte. Ich war zu der Zeit noch zu jung, um mich eingesperrt zu fühlen und das Gefühl zu haben, es geht nicht vorwärts. Meine Eltern waren sehr euphorisch, als die Mauer fiel, ja. Aber ich?

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