Nachts ist es der rote Sand, der in Toubab Dialaw tanzt. Die Füße liegen still in den Betten, jetzt macht der Wind die Musik. Wir sind am Rand eines kleinen Dorfes an der Küste Senegals. Tagsüber hören die Fischer hier Trommeln, so weit weht ihr Klang hinaus aufs Meer. Die meisten Dinge brauchen nicht viel zum Leben, denkt man hier. Und der Tanz ist auch so ein Ding.
Die École des Sables ist in die Natur gebaut, als wäre sie ein Teil von ihr. Zwei offene Tanzsäle geben den Blick auf den Atlantik frei. Kleine Bungalows mischen sich unter die Vegetation, die hier sehr spärlich ist. Sie sind rot und gelb bemalt, erinnern an den Sand, auf dem sie stehen. Am Himmel schweben Milane. Einfach gesagt: Es ist schön hier. Aber wie kommt bloß eine Tanzschule nach Toubab Dialaw?
Germaine Acogny sitzt aufrecht im Schatten eines Baumes. Sie ist groß gewachsen, hat wache Augen. Der schlanke Hals trägt den kahlen Kopf wie ein König seine Krone. So wird sie gern genannt: die Königin des afrikanischen Tanzes. Dabei ist sie seine Visionärin. Sie lacht ihr heiseres Lachen, schickt ihren Blick über alles, was sie in den letzten 16 Jahren hier aufgebaut haben, und sagt: „Das hier ist nicht Afrika. Das ist Afrop.“ So nennt sie die Verschmelzung von Afrika und Europa. Das klingt nach Demut, Disziplin und Dankbarkeit. Denn Afrop ist aus einer Liebesgeschichte entstanden. Der Verschmelzung von Germaine Acogny, der Afrikanerin, und Helmut Vogt, dem Europäer.
Sie begann, wie viele Geschichten, mit einem Ende. Schon einmal hatte jemand den Plan, eine Tanzschule im Senegal zu errichten. In der Hauptstadt Dakar gründete Maurice Béjart gemeinsam mit dem damaligen Präsidenten und Dichter Leopold Sedar Senghor im Jahr 1977 einen Ableger seiner Brüsseler Schule: „Mudra Afrique“. Der französische Choreograf setzte damals seine Schülerin Germaine Acogny als Leiterin ein. Beide teilten die Überzeugung, dass der zeitgenössische Tanz nicht den Kontakt zu seinen Wurzeln verlieren darf.
Doch dann passierte etwas, das der Königin die Hoffnung nahm: Als es nach dem Regierungswechsel drei Jahre später keine finanzielle Unterstützung mehr gab, musste „Mudra Afrique“ schließen. Das fühlte sich so an, als wäre der Glaube an ihr Land plötzlich nicht mehr von Interesse. Ob sie diese Demut von heute damals auch schon hatte? Sie schüttelt den Kopf und verdreht die Augen. „Bei Mudra war ich die Hydra!“, sagt sie und lacht laut.
Der Senegal gilt als afrikanische Vorzeigedemokratie. Doch die politischen Interessen verschieben sich hier schnell. Heute ist in dem Gebäude der ehemaligen Tanzschule der oberste Gerichtshof untergebracht. An eine Mauer gegenüber hat jemand „Injustice“ gesprayt: Ungerechtigkeit.
Schüler von überall her
In Toubab Dialaw werden heute über 40 Tänzerinnen und Tänzer aus ganz Afrika ausgebildet. Drei Jahre lang kommen sie immer wieder für siebenwöchige Workshops hierher. Die Schüler, alle professionelle Tänzer, arbeiten hier auf sehr hohem Niveau. Ihr Wissen werden sie in ihren Heimatländern an ihre Schüler weitergeben. Von Togo aus reisen einige vier Tage hierher. Die Schule übernimmt die Kosten für Ausbildung, Unterkunft und Verpflegung, doch teure Flüge kann sie sich nicht leisten. Jährlich bewerben sich über hundert Frauen und Männer; viele würden auch zu Fuß hierherkommen.
Als die Politik dem Tanz den Rücken kehrte, beschloss auch Helmut Vogt, sich von seinem bisherigen Leben zu verabschieden. Ein sanfter, herzlicher Mensch. Sein Gesicht umrahmen graue Locken. Der Blick senkt sich hinter den runden Brillengläsern, und seine ruhige Stimme wird noch etwas leiser. Helmut Vogt spricht lieber über das, was er tut, als über sich selbst. Der gelernte Bankkaufmann hatte bis Anfang der achtziger Jahre in Frankfurt viel Geld verdient: als Werber, bei einer Filmproduktion, bei einem Verlag. Irgendwann kam die Sinnkrise. Er wurde depressiv. Tanz hatte ihm schon immer etwas bedeutet. Mit einer Bekannten eröffnete er in Frankfurt eine Tanzschule. Später wird er über seine heutige Frau sagen: „Wenn du nicht weißt, wo du hingehen sollst, dann schau, wo du herkommst.“
Nach dem Ende von „Mudra Afrique“ kehrte Acogny Afrika den Rücken und ging zurück nach Frankreich. In Dakar hatte sie ihre Acogny-Technik entwickelt und das Buch Afrikanischer Tanz geschrieben. Als Helmut Vogt auf der Frankfurter Buchmesse dieses Buch in den Händen hielt, wusste er: „Diese Frau will ich treffen.“ 1982 lernten sie sich in Frankreich kennen. Drei Jahre später heirateten sie. Beide hatten sie ein Leben hinter sich und eine Menge vor.
Als sie Béjart von ihrem Plan erzählten, die Idee einer Tanzschule im Senegal wieder aufleben zu lassen, sagte er: „Das ist mutig!“ Der Deutsche in der Sinnkrise und die gestürzte schwarze Königin hatten erst einander und dann etwas Gemeinsames gefunden, das über sie hinauswies. Das machte ihnen Mut. Als Acogny Mitte der neunziger Jahre bei einem Künstler in Toubab Dialaw einen Workshop gab, kam etwas Drittes hinzu: Sie stand auf der Anhöhe über dem Meer und wusste: „Hier möchte ich alt werden.“
Der Senegal ist eines der ärmsten Länder der Welt. Die Hälfte der Bevölkerung kann weder lesen noch schreiben. Auf dem Human Development Index, einem Parameter, um die Ärmsten unter den Armen zu bestimmen, belegt der Senegal den 154. Platz von 187 Ländern. Die Weltbank bescheinigt den guten Willen der Regierung. Doch es fehlt an allem.
In Toubab Dialaw gibt es keine befestigten Straßen. Überall liegt Abfall. Am Strand sieht man bunt bemalte Fischerboote, nur fangen die Fischer kaum noch etwas. Am Meer hält sich ein wenig Tourismus, und auch der Reiseführer rät: Auf Safari geht man besser in Kenia, und auch die Strände sind in der Karibik eigentlich schöner. Das Land ist abgewirtschaftet, die Böden von Monokulturen ausgelaugt. Und seit es im südlichsten Teil des Landes immer wieder zu politischen Unruhen kommt, gibt das Auswärtige Amt eine Reisewarnung aus.
Jede senegalesische Frau bringt im Schnitt fünf Kinder zur Welt. Doch die Landjugend will fort. Nach Dakar, dem westlichsten Punkt Afrikas, oder noch weiter. Acogny und Vogt haben die Dorfkinder zum Tanzen in die Schule geladen. Jetzt kommen zweimal die Woche 70 von ihnen. „Die Menschen hier prüfen einen genau,“ sagt die Tänzerin. Sie nennen sie „La Maman“. Wer an die Menschen glaubt, bekommt viel zurück.
Helmut Vogt geht über diesen Boden wie ein Pilger, der sein Ziel erreicht hat. Sechs Jahre haben sie gebaut, bis die École des Sables im Jahr 2004 endlich offiziell eröffnet wurde. Immer wieder ging das Geld aus. Finanzieren können sie die Schule nur über Stiftungen und Fördergelder aus dem Ausland. Wenn der Staat hilft, dann mit symbolischen Beträgen.
Viele neue Leben
Ndeye Toutty Daffé ist eine der Tänzerinnen von Jant-Bi, der Kompanie der École des Sables. Sie lebt im Dorf und unterrichtet in der Schule. „Das ist wie ein Traum für mich,“ sagt sie über ihre Arbeit. Auf die Frage, warum sie Germaine Acogny immer „la Maman“ nennt, strahlt sie und macht eine umarmende Geste, als hielte sie ein Kind. Sie hat ihr ein neues Leben geschenkt. Der Tanz ernährt sie nicht, doch sie hat Schüler, gibt Tanzunterricht. La Maman hat ihr eine Aufgabe gegeben, hat ihr Respekt verschafft. Ihr Wissen kann sie weitergeben.
Wenn die Schule leer steht, kann man sie mieten. Für Firmen, die etwas Außergewöhnliches für ihre Führungskräftetrainings suchen, ist es der ideale Ort – Tanzstunden und Erholung am Strand inklusive. Auch so kommen Afrika und Europa zusammen. Mit Helmut Vogt, dem Manager, der alles organisiert und Respekt hat, vor den Senegalesen und ihrem Land. Mit Germaine Acogny, die alle beseelt und mit Hingabe ihr Wissen vermittelt. Sie ist jetzt 68 Jahre alt und hat noch viel zu tun.
Am Abend breitet sich Afrika in all seinen Klischees am Rand der Straßen aus. Mädchen tanzen in den Dörfern. Kinder spielen barfuß. Junge Männer fahren auf Pferdepritschen. Stolze Frauen tragen vollbeladene Körbe auf dem Kopf, die Hüften schwingen sie so, wie sie das nur hier können. Sie haben nicht viel mehr als ihren Körper und den Boden, der sie trägt.
Am 11. April hatte das Stück „Afro-Dites/Kaddu Jigeen!“ in der Choreografie von Germaine und Patrick Acogny auf dem Movimentos-Festival in Wolfsburg Deutschlandpremiere. Unsere Autorin reiste auf Einladung des Festivals in den Senegal
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