Gefesselt sitzt ein junger Mann auf einem Stuhl. Sein Gesicht ist von einem Stofftuch verdeckt. Ein zweiter Mann steht hinter ihm und hält seinen Kopf fest, während ein dritter ihm Wasser aus einer Karaffe über das Gesicht gießt. Das nasse Tuch wölbt sich in Mund und Nase. Wasser läuft hinein, es dringt kaum Luft durch. Der junge Mann windet sich unter dem Waterboarding, lehnt sich gegen seine Fesseln, hustet, röchelt, kämpft gegen den Brechreiz. „Aufhören!“, ruft es aus dem Publikum. Wäre das hier Fernsehen, einige hätten längst ins Arte-Kulturprogramm weggeschaltet. Aber das hier ist Theater, da kommt man nicht so leicht raus.
Balkan macht frei heißt das Stück, das Oliver Frljić im Marstall des Münchner Residenztheaters inszeniert hat. Franz Pätzold spielt darin das Alter Ego des Regisseurs. Frljić ist mit seinen wütenden Inszenierungen ein beliebter Festival-Gast. Im Ex-Bürgerkriegsland Kroatien leitet der Bosnier zudem das Nationaltheater in Rijeka, wofür er von kroatischen Nationalisten auch schon mal Morddrohungen erhält.
Daraus muss ja Theater entstehen, das nicht nur lustig und unterhaltsam ist, denkt man. Schlau ist, dass Frljić genau diese Erwartungshaltung, die an seine Biografie gerichtet wird, in Balkan macht frei vorführt. Ihr wollt von mir den wütenden Krawall-Balkankriegsflüchtling sehen? Nehmt das: Unter einer Deutschlandflagge führt er erst die Leitungsebene des Residenztheaters vor, um dann die deutsche Kultur zu exekutieren und anschließend das bildungsbürgerliche Publikum zu sezieren, das, in die eigene Bildungsbürgerlichkeit verliebt, doch nur bequem zusehen möchte. Diese Bequemlichkeit macht Frljic erst richtig wütend. Spielen muss die Wut allerdings ein anderer. Und es reicht nicht, das einfach nur zu spielen. Pätzold denkt das, was er da spielt. Und einem Schauspieler beim Denken zuzusehen ist vielleicht das Schönste, was einem als Zuschauer passieren kann.
Castorfs Liebling
Jetzt sitzt Franz Pätzold auf der lederbezogenen Eckbank einer winzigen Münchner Pizzeria. Man sucht das Tier in ihm, das einem auf der Bühne begegnet war. Stattdessen begrüßt er einen freundlich und verunsichert – halb Kind, halb erwachsen. Auf der Bühne ist der 26-Jährige so präsent, erstaunlich, wie schmal und klein er einem jetzt gegenübersitzt. Kindliche Arme schauen aus den hochgekrempelten Ärmeln des blauen Seemannspullovers.
„Lass uns lieber über Fußball reden“, hatte er schon am Telefon gesagt. Theater spielen und darüber reden sind ja zwei Dinge. Beim Thema Fußball bewegt sich Pätzold auf sicherem Terrain. Pätzold, 1989 in Dresden geboren und in der Neustadt aufgewachsen, ging mit seinem Vater manchmal zu den Spielen von Dynamo – in der zweiten Halbzeit durfte man damals kostenlos ins Stadion. Pätzold strahlt wie ein Kind, wenn er vom Mitfeiern und -leiden erzählt. Es gibt Porträtbilder von ihm, da sieht er aus wie ein Zwölfjähriger. Gab es den Traum von der eigenen Fußballkarriere? Pätzold winkt ab, lacht. „Dazu war ich zu schlecht. Es hat nur zum Schiedsrichter gereicht.“ Die Haare trägt er jetzt kinnlang als blonde Mähne, das macht ihn ein bisschen älter.
Dass er am Ende in Leipzig auf der Schauspielschule landete, war Zufall. Beim Schultheater machte er wegen eines Mädchens mit, in das er verliebt war. An der Schauspielschule in Leipzig sprach er dann gemeinsam mit einer Freundin vor und wurde genommen. Während er erzählt, bricht die Stimme manchmal ins Raue, sieht der Blick aus den hellblauen Augen einen durchdringend an. Dann blitzt das Bühnentier kurz auf.
Als er nach der Schauspielschule mit 22 ans Residenztheater ging, hatte er gerade den Solopreis des 21. Bundeswettbewerbs zur Förderung des Schauspielnachwuchses bekommen. 2014 verlieh man ihm den bayrischen Kunstförderpreis. Im gleichen Jahr fuhr er mit Frank Castorfs Inszenierung Reise ans Ende der Nacht zum Berliner Theatertreffen. Da war er der Jüngste. Für Baal, Castorfs nächste Arbeit in München, besetzte der Pätzold gleich wieder. Keine schlechte Bilanz für einen 26-Jährigen.
Wie geht man mit so etwas um? „Was soll ich auf die Frage antworten?“, fragt er zurück. „Ich habe am Resi ja klein angefangen. Da wird man schon eingenordet.“ Pätzold ist ein Teamplayer. Er muss sich auf seine Mitspieler verlassen. Die Bühne ist sein geschützter Raum und die Szene, die Balkan macht frei einen kleinen Theaterskandal bescherte, hatte er vor der Premiere gar nicht als Grenzgang auf dem Schirm. „Das Waterboarding war tatsächlich meine Idee. Wir haben auf den Proben überlegt, wie wir Grenzen austesten können, ohne peinlich zu sein. Ich dachte, dass der Wutmonolog die Leute viel mehr provoziert.“
Der Bühnen-Pätzold schreit das Publikum an, wirft ihm Unterstellungen an den Kopf, beschimpft es von Angesicht zu Angesicht. „Biofaschisten, Gutmenschen!“, schreit er, schwitzt und wirft sich in die Brust. Die Zuschauer in der ersten Reihe sind gestresst. Es geht in diesem minutenlangen Monolog eine solche Bedrohung von ihm aus, es drückt einen in den Sitz hinein. Nur wenige, die ganz außen sitzen, bringen den Mut auf, zu gehen. Dann passiert etwas Irritierendes. Pätzold, Haarsträhnen im Gesicht, klettert in die zweite Reihe und tritt dabei einer älteren Dame auf den Schuh. Er hält inne, berührt sie sanft an der Schulter und bittet kaum hörbar um Verzeihung, dann wütet er weiter.
Der Junge vom Porträtfoto und der Mann, der einem hier ins Gesicht schreit, sind schwer als eine Person zu begreifen. Es sind diese Brüche, die Pätzold so faszinierend machen. In seinem Spiel führt das zu einer seltsamen Zartheit und Unberechenbarkeit. „Franz ist auf der Bühne schwer zu lesen“, sagt Oliver Frljić. „In gewisser Weise erinnert er mich daran, wie Dennis Hopper einst James Dean beschrieb. Er ist gleichzeitig so zerbrechlich und so stark.“
Die Kunst soll wahr und absolut sein. So versteht Franz Pätzold seinen Job auf der Bühne. Egal ob in der Werkstattinszenierung eines Regieschulabsolventen, in einem Kinderstück oder beim Regiealtstar Frank Castorf auf der großen Bühne. Er hätte auch eitel werden können, er ist lieber klar und direkt geblieben.
Gerade hat seine fünfte Spielzeit in München begonnen. Andere sind mit 26 noch mitten im Studium, er spielt jetzt politisches Theater. Warum macht er das und warum so unbedingt und ausgesetzt? Immerhin ist er Teil einer Generation, die gerne als unpolitisch bezeichnet wird. Er hätte ja auch Lehrer werden können, wie seine Eltern, das stand für ihn auch zur Option.
„Aufhören!“
Der abgenagte Rand der Pizza liegt auf dem Teller. Die Frage ärgert ihn! „Klar, meiner Generation geht es verdammt gut, aber trotzdem bin ich dieser Zeit ausgesetzt. Auseinandersetzung ist wichtig. Das Theater bewahrt mich vor der Faulheit – körperlich, aber auch im Kopf, weil die Bühne eine Haltung von mir fordert. Die Bühne bietet uns eine Plattform, auf der wir uns Gedanken machen können.“ Nicht jeder Schauspieler findet eine Haltung und nicht jeder ist zu so einem bedingungslosen Einsatz bereit. Das ist vermutlich der Grund, weshalb Frljić sagt, mit einem anderen Hauptdarsteller hätte er Balkan macht frei nicht machen können. Einem, der weniger offen gewesen wäre für neue Arbeitsmethoden.
In der Pizzeria dreht sich Pätzold eine Zigarette. Draußen vor der Tür sitzen zwei junge Schauspielstudentinnen und gucken interessiert rüber, als er rauskommt. Ist er das nicht, der junge Castorf-Liebling? Franz Pätzold raucht und merkt es gar nicht. „Dynamo“, erzählt er, „hat jetzt zehn Mal gewonnen und zweimal unentschieden gespielt. Ich kann es gar nicht richtig glauben.“ Es kommt so von Herzen, man freut sich direkt mit, selbst wenn man keine Ahnung hat, um welche Liga es hier geht. Er ist einer, dem man auch dahin folgt, wo man eigentlich nicht hin will.
Und so fällt in Balkan macht frei am Ende die Grenze zwischen Bühne und Publikum. Obwohl der da vorne sie gerade so wüst zusammengeschrien hat, hält eine junge Frau das Waterboarding schließlich nicht mehr aus. Sie geht auf die Bühne und fordert die Männer auf, das Folterspiel zu beenden. Die nehmen das Tuch kurz von Pätzolds Gesicht, der gierig nach Luft schnappt. „Warum sollten wir das tun?“, fragen die Folterer die Frau. Die Zuschauerin wirkt hilflos. Dann wendet sie sich an den durchnässten Pätzold, sieht ihn an und fragt ihn direkt: „Willst du es?“ Für einen Moment ist Pätzold aus dem Konzept gebracht. Er denkt nach, sieht staunend die Zuschauerin an, wie einer, der gerade aus einem Traum erwacht. Dann antwortet er sehr bestimmt: „Ja!“ Und für diesen kurzen Augenblick passen die zwei Pätzolds, der Schauspieler und das Kind, zusammen.
Info
Franz Pätzold ist aktuell am Münchner Residenztheater in Balkan macht frei und Prinz Friedrich von Homburg zu sehen. Dynamo Dresden steht trotz einer Niederlage gegen Energie Cottbus weiter auf Platz eins der 3. Liga
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